Wieland Jager· Marion Baltes-Schmitt J iirgen Habermas Einfiihrung in die Theorie der Gesellschaft Westdeutscher Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage September 2003 Aile Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2003 Lektorat: Frank Engelhardt Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. www.westdeutscher-verlag.de Das Werk einschlieBlich alIer seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Je de Verwertung auEerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfaltigungen, Dbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeimng in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solehe Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestalmng: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Umschlagbild: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier ISBN-13: 978-3-531-14021-6 e-ISBN-13: 978-3-322-80457-0 DOl: 10.1007/978-3-322-80457-0 Wieland Jager· Marion Baltes-Schmitt Jiirgen Habermas Hagener Studientexte zur Soziologie Herausgeber: Heinz Abels, Werner Fuchs-Heinritz, Wieland Jager, Uwe Schimank Die Reihe "Hagener Studientexte zur Soziologie" will eine groBere Offent lichkeit fur Themen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe ist dem Anspruch und der langen Erfahrung der Soziologie an der FernUniversitat Hagen verpflichtet. Der Anspruch ist, sowohl in sozio logische Fragestellungen einzufuhren als auch differenzierte Diskussionen zusammenzufassen. In jedem Fall soll dabei die Breite des Spektrums der soziologischen Diskussion in Deutschland und damber hinaus reprasentiert werden. Die meisten Studientexte sind tiber viele Jahre in der Lehre erprobt. Alle Studientexte sind so konzipiert, dass sie mit einer verstandlichen Sprache und mit einer unaufdringlichen, aber lenkenden Didaktik zum eigenen Studium anregen und fur eine wissenschaftliche Weiterbildung auch auBer halb einer Hochschule motivieren. Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung .................................................................................................... 7 1. Wer ist Jurgen Habermas? ................................................................... 10 1.1 Biographischer Uberblick ........................................................................ 10 1.2 Gesamtwerk ............................................................................................. 13 2. Gesellschaftstheorie ............................................................................... 18 2.1 Theorie der Modeme: Entkoppe1ung von System und Lebenswelt ......... 24 2.1.1 Evolution ................................................................................................. 32 2.2 Kritische Theorie ..................................................................................... 43 2.2.1 Mediatisierung und Kolonialisierung ...................................................... 46 2.2.2 Verschrankung von Handlungs-und Systemtheorie ................................ 55 2.3 Theorie des kommunikativen Handelns ................................................... 70 2.3.1 Erkenntnis-und Diskurstheorie ............................................................... 71 2.3.2 Theorie der Offentlichkeit. Eine Demokratietheorie ............................... 79 2.3.3 Kommunikative Rationalitat .................................................................... 97 2.3.4 Kommunikatives Handeln und Handlungstypologie ............................. 103 3. Dualismus -eine Grundlage Habermasschen Denkens .................... 115 3.1 Arbeit und Interaktion ............................................................................ 120 3.2 Zweckrationalitat und Soziale RationalitaL .......................................... 135 3.3 System und Lebenswelt ......................................................................... 141 4. Zur aktuellen Relevanz der Gesellschaftstheorie .............................. 150 4.1 System versus Lebenswelt - noch zeitgemaB? ...................................... 151 4.2 Es gibt Altemativen. Frage nach der Kontingenz .................................. 176 4.3 Reformulierung des Arbeitsbegriffs? ..................................................... 181 5. Zum diesmaligen Abschluss .................................' . .............................. 207 6. Literaturverzeichnis ... ~ ........................................................................ 216 Vorbemerkung Der Auseinandersetzung mit der Gesellschaftstheorie von Jiirgen Ha bermas sind Grenzen gesetzt: Dieses iiberaus umfassende und vom Autor stets weiter gedachte Werk kann nicht umfassend dargestellt und reflektiert werden. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns auf einige zentrale Aspekte und diskutieren insbesondere die konzeptio nellen Grundlagen des Werks. Dariiber hinaus gehen wir auf die Frage nach der Anwendbarkeit der Theorie ein. Einleitend steht im Kapitel 1 die Person und der Soziologe Haber mas im Vordergrund, nicht zuletzt deshalb, urn in den folgenden Kapi teln Elemente aus seinem Werk in ihrem zeitlichen Kontext betrachten zu k6nnen. Kapitel 2 behandelt grundlegende Aspekte seiner Gesell schaftstheorie. Kapitel 3 konzentriert sich sHirker auf begriffliche Ab grenzungen; hier wird der Dualismus im Werk von Habermas unter verschiedenen Perspektiven aufgenommen. M6glichkeiten der Uber tragung Habermasschen Gedankenguts auf aktuelle Fragen und die Anwendung der Theorie sind Gegenstand des Kapitels 4, wohingegen das Kapitel 5 einige zentrale Thesen aus unserer Auseinandersetzung mit der , Theorie der Gesellschaft' formuliert. In der (auch kritischen) Betrachtung des Gesamtwerks messen wir dem Begriffspaar Arbeit und Interaktion einen hohen Stellenwert bei. Das liegt zum einen in der Bedeutung dieses Paares fUr den Haber masschen Dualismus als Ganzes begriindet, zum anderen kommt dem Begriff ,Arbeit' in der Diskussion urn das ,Ende der Arbeitsgesell schaft' emeut erhebliche soziologische Relevanz zu. Ein Grundstein Habermasscher Gesellschaftstheorie ist die histori sche Entkoppelung von System und Lebenswelt als Startpunkt der Modeme. Es stellt sich die Frage, ob sich im Verlauf der Modeme eine evolutionare Entkoppelung der Entkoppelung von System und Lebenswelt (so unsere These) vollzieht. 8 Vorbemerkung Die viel beachtete und soziologisch ertragreiche Auseinanderset zung zwischen Jiirgen Habermas und Niklas Luhmann gibt zwar ein wichtiges und reizvolles Thema ab, kann jedoch in dies em Buch nur kurz gestreift werden, insbesondere anhand der Habermasschen Ver schrankung von Handlungs- und Systemtheorie und des Evolutions begriffs. Theorien der Klassiker, die das Denken von Habermas beein flusst haben, werden ebenfalls nicht gesondert thematisiert. Dies wiir de den Rahmen einer einbandigen Publikation bei we item sprengen. Habermas weist nicht nur selbst eine stattliche Anzahl von VerOf fentlichungen auf, er hat dariiber hinaus unzahlige Autoren inspiriert und zur schriftlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk bewegt. Die Liste der Sekundarliteratur ist ungeheuer lang. Darin finden sich zahlreiche Bande mit explikativem Charakter oder mit Lehrbuchinten tion, jedoch auch viele kritische Anmerkungen. Terminologie, Theo rien und Ideen von Habermas stoBen mitunter auf Widerstand und werfen weiterfiihrende Fragen auf. Die Theorie des kommunikativen Handelns, erstmals 1981 als zweibandiges Werk vorgestellt, schlieBt an vorherige Schriften an und beinhaltet zugleich eine wichtige Neuorientierung: Die Verschrankung von System- und Handlungstheorie sowie eine Relativierung des strik ten Dualismus. Dieses Werk ist stark von idealtypischen Mustem ge pragt. In Faktizitiit und Geltung aus dem Jahr 1992 geht Habermas zu dieser idealtypischen Pragung auf Distanz, und zwar durch die Einbe ziehung politiktheoretischer Aspekte in seine gesellschaftstheoreti schen Analysen. Auch in seiner Dankesrede Glauben und Wissen an lasslich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhan dels am 14. Oktober 2001 klingen weitere Schritte der Reformulierung an. Eine kurze Bemerkung zu der verarbeiteten Literatur. In Kapitel 2 werden Grundlagen der Gesellschaftstheorie nach Habermas darge stellt, Veranderungen und Umorientierungen aufgezeigt, Neuformulie rungen interpretiert und der aktuelle Stand nachvollzogen. Teilweise Vorbemerkung 9 geschieht dies chronologisch, teilweise thematisch. Das Kapite1 zieht dabei das breite Spektrum Habermasscher Veroffentlichungen heran. Kapitel 3 hingegen beschaftigt sich mit den dualistischen Grundfesten der Gesellschaftstheorie; im Mitte1punkt dieses Kapitels stehen daher iiberwiegend altere Veroffentlichungen. Kapitel 4 fragt nach der aktu ellen Relevanz der Gesellschaftstheorie und verwendet daher neuere Publikationen, die in Kapitel 5 in die Thesen einflieBen. Zur Form dieses Buches: Hin und wieder ist den Ausfiihrungen ein zusammenhangendes Zitat aus den Originaltexten von Habermas vor weggestellt oder ein soIches angefiigt. Damit soIl zum einen der Be zug zum Primartext aufrechterhalten, zum anderen das Geschriebene iiber die Angabe der Literaturstellen hinausgehend untermauert und begriindet werden. Wo es stilistisch vertretbar ist, sind diese Zitate in den Text eingearbeitet. Literaturangaben, die sich auf die Schriften von Habermas bezie hen, weisen das Erscheinungsjahr der benutzten Ausgabe und die re levanten Seitenzahlen aus. 1m Literaturverzeichnis finden sich die Biicher geordnet nach dem Erscheinungsjahr der ersten Auflage. In der Einleitung zu jedem Kapitel fassen wir in der Regel grundle gende Fakten zusammen, auch wenn diese Punkte bereits angespro chen worden sind oder an anderer Stelle ausgefiihrt werden. Wichtig erscheint uns noch folgender Hinweis: Redundanzen neh men wir bewusst in Kauf, weil nur so jedes einzelne Kapitel in sich geschlossen verstandlich zu formulieren ist. Aus studentischer Sicht ist dieses V orgehen vorteilhafter als eine komprimierte, aber nicht kapite1weise zu lesende und zu bearbeitende Fassung. 1. Wer ist Jiirgen Habermas? Jiirgen Habermas lehrte wahrend seiner Professorentatigkeit Philoso phie und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Forschung war ihm stets ein Anliegen, irnmer dachte er interdisziplinar. Seine Werke sind in der Philosophie, Soziologie und Politiktheorie verankert. Beitrage aus seiner Feder finden sich seit seiner Studienzeit bis heute irnmer wieder im Kontext politi scher und gesellschaftlicher Diskussionen. Habermas gilt als der bekannteste Vertreter der "Frankfurter Schule" (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno). 1.1 Biographiscber Uberblick Geboren 1929 in Dusseldorf, erlebte Habermas Kindheit und Jugend im biirgerlichen Milieu der Kleinstadt Gurnmersbach zur Zeit des Na tionalsozialismus. Nach Kriegsende erschloss sich dem 16-jahrigen Habermas, wie vielen anderen auch, das AusmaB der moralischen Schuld Deutschlands. Ais er sich drei Jahre spater an der Universitat G6ttingen irnmatrikulierte, stellten Demokratie und Rechtsstaat im Denken der neuen Generation die Marksteine eines politischen Neu beginns dar. Die Professorenschaft dagegen war weitgehend noch in nationalsozialistischen Denkstrukturen gefangen; Heideggers Gedan kengut etwa blieb in philosophischen Fakultaten weitgehend unhinter fragt. Gegen Ende seiner Studienzeit begann Habermas Heidegger kritisch zu betrachten und ver6ffentIichte in der ,Frankfurter Allge meinen Zeitung' vom 25. Juli 1953 einen Beitrag unter dem Titel "Mit Heidegger gegen Heidegger denken." 1m Jahr 1954 schloss Habermas sein Studium in Bonn mit einer Promotion uber Schellings Geschichtsphilosophie abo Danach war er als freier Autor tatig. Er ver6ffentlichte 1954 einen Essay in der Zeit schrift ,Merkur', in dem die Grundzuge der spateren Mediatisie rungsthese bereits anklingen: In der Sphare der Industrieproduktion und in der Sphare des Massenkonsums bewirken subtile Entfrem- 1. Werist Jurgen Habermas? 11 dungsvorgange die Distanzierung von den Dingen, eine neue F onn des Pauperismus. Habennas macht dafur die einseitige Orientierung an der Zweckrationalitat mit entsprechenden negativen Folgen fur die Lebensverha1tnisse verantwortlicht. 1m Jahr 1956 wurde Habennas von Theodor W. Adomoals Assis tent im lnstitut fur Sozialforschung in Frankfurt am Main aufg enom men. Das bislang theoretische Schaffen erganzte Habennas durch em pirische Sozialforschung. Er begann mit seiner Habilitationsschrift, die ihn in Opposition zu Max Horkheimer brachte. Wegen dieser Dif ferenzen verlieB Habennas das lnstitut und ging auf Betreiben von Wolfgang Abendroth an die Universitat Marburg, wo er mit seiner Schrift "Strukturwandel der Offentlichkeit" 1961 habilitierte. In dieser Arbeit zeigt Habennas das Potential des Kantischen Modells Offentli chen Vemunftgebrauchs; er thematisiert die Vorstellung einer Ratio nalisierung durch diskursive Einsicht in bessere Argumente. Sprach lich vennittelte lnteraktion zwischen Subjekten ennoglicht den herr schaftsfreien Diskurs, bewirkt gesellschaftliche Reproduktion. Grund lagen fur den spateren Begriff der Lebenswelt werden hier geschaffen. Kurz vor Abschluss seines Habilitationsverfahrens erhielt Haber mas eine AuBerordentliche Professur fur Philosophie an der Universi tat Heidelberg und folgte im Jahr 1964 einem Ruf an die Universitat Frankfurt am Main, wo er in der Nachfolge von Horkheimer den Lehrstuhl fur Philo sophie und Soziologie iibemahm. Er arbeitete an der Emeuerung der ,Kritischen Theorie', engagierte sich politisch und spielte als Wissenschaftler in der Tradition dieser Theorie eine wichti ge Rolle in den Studentenprotesten des Jahres 1968, was letztlich je doch zu Spannungen zwischen ihm und der Studentenschaft fuhrte (Kritik bis hin zum spater zUrUckgenommenen ,Linksfaschismus' Vorwurf gegen die Aktivisten, vgL dazu 1990b, S. 25). Die Fragen nach dem Verhaltnis von technischer Realitat und prak tischer Vemunft sowie nach den Bedingungen konsensennoglichender Sozialfonnen beschaftigten· Habennas auBerordentlich. Er differen zierte zweckrationales versus kommunikatives Handeln, bezog Positi on gegen den Positivismus mit der These, ohne Erkenntnisinteresse