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Jungfrau und Reptil : Leben zwischen 1945 und 1972 PDF

141 Pages·2013·4.367 MB·German
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Preview Jungfrau und Reptil : Leben zwischen 1945 und 1972

Dorothea Zeemann, geboren 1909, lebt als Schriftstellerin in Wien. Sie war 1970 bis 1972 Generalsekretär des PEN. Veröffentlichungen: Otti­ lie, Ein Leben um Goethe; Das Rapportbuch; Einübung in Katastro­ phen, Leben zwischen 1913 und 1945 (suhrkamp taschenbuch 565). »Warum nur identifiziere ich mich mit Jud* und Christ, mit Nazis und Russen, Liebhaberinnen und Liebhabern - einfach mit jedem? Nur weil sie alle mit mir auf der Welt sind.« - »Ich schäme mich ..., daß ich bin, wie ich nicht sein möchte: fähig, all das Grauen zu überleben; gerne zu leben; weiterzuleben.« Dorothea Zeemann, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im rus­ sisch besetzten Wien. Jahre der provisorischen Normalisierung und der fortgesetzten Diskussion über Kollektivschuld, Verstrickung und En­ gagement in dem Künstler- und Intellektuellen-Milieu, in dem die Zeemann, ihr Mann und ihre Freunde sich bewegen. Die persönlichen Beziehungen stört ihr Mann, der sie liebt, aber Angst hat vor ihr, und der sich für diese Angst eine Geliebte nimmt. Er stirbt. Dorothea Zeemann lebt, neugierig und wach wie je. 1957 trifft sie bei einer Lesung Robert Neumanns den Dichter Heimito von Doderer. In den folgenden Jahren wird die Zeemann zur Freundin der Wiener Gruppe (Gerhard Rühm, Konrad Bayer). Doderer stirbt 1966; das Buch schließt mit dem Jahr 1972. Jungfrau und Reptil wird dominiert von der Herausforderung durch Doderers berühmt anachronistische Gestalt. Auf diese Herausforde­ rung antworten die Erinnerungen von Dorothea Zeemann mit einer bis zur Schärfe deutlichen, aber alles andere als lieblosen Beschreibung Doderers und ihrer gemeinsamen Jahre. Wie bereits in dem ersten Band ihrer Erinnerungen Einübung in Katastrophen, Leben zwischen 1913 und 1945 zeigt sich Dorothea Zeemann als eine souverän tempe­ ramentvolle Erzählerin ihres Lebens; neugierig, mitfühlend, beteiligt, verwickelt in die Welt als Theater - und so erzählt sie ihre Geschichte. Dorothea Zeemann Jungfrau und Reptil Leben zwischen 1945 und 1972 Suhrkamp Umschlagfoto: Hubmann suhrkamp tasdienbuch 776 Erste Auflage 1982 Erstausgabe © Suhrkamp Tasdienbuch Verlag Frankfurt am Main 1982 Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz: Riebold, Renchen Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 2 3 4 5 6 7 - 87 86 85 84 83 82 Aber nur die Mörder, die Ermordeten und die Wi­ derstandskämpfer, die Träger des vollen Risikos sind Figuren mit Konturen und sie leben. Wir ande­ ren sind unmöglich. Die Nachforschung, wie diese Unmöglichkeit von den immer weniger werdenden Zeitgenossen gemeistert wird, ist peinlich und ver­ letzt die Scham. Mir ist es recht, daß es drunter und drüber geht und Ukrainer, Mongolen, Weißrussen und Großrussen uns beunruhigen, mir ist es grimmig recht, daß ich Angst habe und daß alle Angst ha­ ben, und vor allem paßt es mir, daß es für meinen Mann gefähr­ lich ist, auf die Straße zu gehen. Arbeitsfähige Männer werden zusammengetrieben und nach dem Osten verschleppt. Das wünsche ich ihm nicht, ich wünsche ihm und mir nichts Böses, bin manchmal froh, daß er ein Mädchen hat, weil er an allge­ meinen Schuldgefühlen leidet, die er mit persönlicher »Schuld« bekämpft, dabei hat er dort und da überhaupt keine Schuld—so wie ich es sehe. Ich bin zwar eifersüchtig bis zum Wahnsinn, aber das gebe ich nicht zu, weil mein Verstand, meine Anschau­ ung, mein Begriff von Leben ja dahin gehen, daß jeder von uns soviel an Liebe an sich reißen soll, wie er kann, wenn er es will. Mein Pech, daß ich an ihn so sehr gebunden bin. Ich stopfe in einen Kissenbezug, was sich so findet: ein altes Ra­ sierzeug, einen gar nicht so alten Wecker, ein Papiermesser, eine Schere, allerhand Glunker, Halsbänder und Armketten, eine Armbanduhr, Kerzenleuchter, Nachttischlampen, einen Fotoapparat - ich fotografiere sehr ungern, fort damit -, Pull­ over, Christbaumschmuck, Kramuri für den Resselpark, wo der Schwarzmarkt stattfindet Rudolf ist es nicht recht daß ich tau­ schen gehe, er wutzelt eine Zigarette: den sperrigen Machorka mit vielen Stengeln drin ins Zeitungspapier vom Neuen Öster­ reich. Wir rauchen gemeinsam. Hin und her geht das fragile, feuchtglimmende Werk. Er legt das Silberbesteck hin, das von Ella stammt. »Da es bis jetzt niemand gestohlen hat will ich es noch aufhe­ ben.« Ich sage das, um ihn nicht vom Anblick des Besteckes, das uns an Ella erinnert, zu befreien. Er nimmt es hin wie einen Schlag. Wie ich diese »Sensibilität« hasse, die alles auf sich bezieht 7 Geduckte Menschen haben mir immer schon weh getan. Ich ducke mich ja selber. Einen triumphierenden halte ich für einen Trottel. Wer triumphiert? Keiner als die tote Ella, die die Zeche be­ zahlt hat. Wir stehen da, wie vom Schicksal ausgespuckt, und fühlen uns wie Sieger, weil Hitler hin ist. Wir hungern, haben Pappendek- kel statt der Verglasung in unserer Atelierwohnung und keine Wohnungstür mehr. Das Nebenhaus ist zerbombt. Das Haustor zur Straße ist immer versperrt, aber innerhalb des Hauses fluk­ tuieren die Bewohner. Kein Privatleben mehr. Ich koche für viele in der großen Küche von Bomban, das heißt, Bomban hat eine der Herrschaftswohnungen besetzt, nachdem er als U- Boot aufgetaucht ist. »Ella wird nicht wiederkommen, ich bewahre es aber trotz­ dem auf«, sag ich und stecke das Besteck in einen einsamen Le­ derhandschuh. Es gehört sich einfach, immer an die Toten zu denken, an die Opfer der Verbrechen, es wird bei uns schon zur Routine, eine Pietät, bei der sich keiner mehr viel kränkt, weil wir es sind, die leben. Immer wieder habe ich es auf der Netzhaut, wie Ella auf das Lastauto hinaufgeschleudert wurde, umständlich auf Köpfe und Schultern stieß: als Allerletzte ins Gedränge, ehe es mit Stiefeltritt auf den Gashebel vor schwarzem Rauchauspuff ins harte Blaue ging. An einem hellen Sonntag geschah das, und die Glocken ne­ benan riefen zur Messe. Mit mir, neben mir ist sie aufgewachsen, diese Ella, die scheue Ella, das Kind reicher Nachbarn, das begabte, gescheite Kind, das ein paar Jahre älter war als ich und auf dem Konserva­ torium Musik studierte. Eine kleine graue Maus. Pummelig, winzig, scheu, flüsterte sie stets atemlos und hastig, wenn es nö­ tig schien, etwas zu äußern. An ihrem Pianino saß sie, Patschen an den Füßen, und trat mit zu kurzen Beinen in herabhängen­ den Strümpfen die Pedale. Es hieß von ihr, daß sie nur Flüssiges aß und Breiiges, daß sie Angst vor ihrer eigenen Verdauung 8 hatte und Angst vor allen Hausbewohnern. Eine degenerierte Jüdin. Ich getraute mich nicht, ihr zu zeigen, daß sie mir leid tat, weil ich ihren Stolz nicht verletzen wollte. Ihr Bruder ebenfalls pummelig, klein, enorm gescheit und ebenfalls degeneriert — schon das Gewicht eines Wasserkrugs, den er unter die Leitung hielt, löste ihm die Kugel aus dem Gelenk. Sie besaßen, was andere nicht besaßen: Geld und Begabung, aber sie hatten auch Angst vor diesen anderen, vor ihren Dienstboten und vor den mittellosen Nachbarn. Und sie hielten einen Abstand, der, von mir als Hochmut mißverstanden, mei­ nen Stolz verletzte. Eines Abends kam Ella zu uns hereingehuscht und ließ noch im Vorzimmer schwere Bücher auf den Boden fallen, ehe sie von nebenan noch weitere Bände holte. In ihrer hastigen und scheuen Art bat sie flüsternd, das Konversationslexikon und ihre Lieblingsbücher in Gewahrsam zu nehmen und, wenn möglich, auch das Pianino, das Silber und die Noten. »Bis nach dem Kriege«, sagte sie, weil sie fürchtete, daß sie wohl früher nicht zurückkehren werde. Sie wurde zwangsverpflichtet, für die Rüstungsindustrie zu arbeiten, irgendwo im Osten am lau­ fenden Band. »Man holt mich morgen ab.« Das sagte sie nicht ohne Genugtuung, auch für etwas gut zu sein, und sei es dazu, Unrecht mit anderen zu leiden. Meine Mütter fing an zu schimpfen und zu fluchen, aber Ella beschwor sie, nicht auch sich noch ins Unglück zu bringen, denn es werde so schlimm schon nicht werden, sie fasse es als eine Prüfung auf, ein Mal­ heur, dem sie sich gewachsen zeigen wolle, wie andere auch. Sie erlebte zum ersten Mal aufgeregt und fast euphorisch eine Ak­ tion, in die sie sich verstrickt sah, sie fühlte sich nicht länger ein­ sam, ausgeschlossen, behütet, ein halber Mensch nur, sie ge­ hörte zu den Herausgeforderten, den Verfolgten. So ganz und gar eindeutig stand sie jetzt im Leben: es drehte sich um sie. Unseren Telefonapparat gibt es nicht mehr. Zwei Rotarmisten hatten ihn aus dem Fenster auf ein Lastauto geworfen. Dort verrottet er mit anderen in Wind und Wetter. Rudolf kann also 9 nicht turteln, während ich weg bin. Rudolf und turteln! Doch ich weiß: Jetzt ist er zärtlicher als damals, zu meiner Zeit. Er ist schon achtundvierzig Jahre alt, und sie ist dreißig. Als er mich kennenlemte, war ich fünfzehn und er sechsundzwanzig. Mit sechsundzwanzig hat ein Mann noch seinen Stolz den eigenen Gefühlen gegenüber. Was soll’s? Ich schultere den Sack und binde mir ein Kissen unter den Rock. Schwangere Frauen und ausgemergelte werden im allgemeinen von den Russen in Ruhe gelassen. Ich hätte gar nichts tun können, aber es ist doch ein beschissenes Gefühl nichts getan zu haben, als sie Ella verluden. Die theoretische Moral: sich einfach zu opfern! Die Welt könnte nicht bestehen, wenn das Praxis wäre. Trotzdem ist es ein beschissenes Gefühl, sich nicht geopfert zu haben. Lona wartet schon vor ihrer Haustür, das will meinen, vor dem intakten Tor eines palaisartigen Zinshauses, in dem unten die TASS und Herren vom roten Stab einquartiert sind und man ihr oben unterm Dach die Wohnung ließ. Diese Wohnung ist ja auch defekt und nicht mehr zu heizen oder gegen den Regen ab­ zudichten. Immerhin läßt man Lona mit ihrem kleinen Sohn drin, weil sie einen guten Namen trägt O ja, sie sind auch Snobs, die ganz neuen Russen, und sie haben auch Sascha Pe­ trowitsch in ihrem Pressequartier, weil er westliche Sprachen fließend... ja, da steht er mit Lona, sie parlieren Französisch und sind beide Überbleibsel aus einer Zeit, die nie mehr kom­ men wird, weil sie in der Geschichte durchgefallen ist Lona, windschief vor Schlankheit, auf ganz dünnen und sehr langen Beinen, schwankt in ihren Fetzen und nebelt benommen aus ih­ ren süchtigen großen Augen - denn sie ist dauernd unter dem Einfluß einer dubiosen Droge, die sie gegen ständiges Kopfweh aus der Apotheke bezieht. Irgendein verliebter Arzt hat einst ein mixtum compositum für sie gedichtet, erfunden. Im viel zu großen Umhang auf knochigen Schultern sieht sie aus wie das ganze alte Österreich im spanischen Prunk, ihr süd­ lich dunkles Antlitz mit dem schwarzen Haar elegant geneigt. Der riesige Russe mit dem winzigen Näschen und der breiten Brust verspricht ihr verliebt Tee und Zucker und streichelt ih- 10

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