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Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom „Freideutschen Jugendtag“ bis zur Gegenwart PDF

300 Pages·2014·0.971 MB·German
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Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik Europäisch-jüdische Studien Beiträge Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß Band 13 Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik Vom „Freideutschen Jugendtag“ bis zur Gegenwart Herausgegeben von Gideon Botsch und Josef Haverkamp Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung ISBN 978-3-11-030622-4 e-ISBN 978-3-11-030642-2 ISSN 2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Inhalt Gideon Botsch, Josef Haverkamp Einleitung   1 Uwe Puschner Völkische Bewegung und Jugendbewegung Eine Problemskizze   9 Ulrich Linse Völkisch-jugendbewegte Siedlungen im 20. und 21. Jahrhundert   29 Peter Dudek „Mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.“ Antisemitismus im Kontext des Freideutschen Jugendtages 1913   74 Ivonne Meybohm „Wir leben nicht vom Hass der andern gegen die Juden, sondern von unserer Liebe zum Jüdischen“ Reaktionen der jüdischen Jugendbewegung auf den Antisemitismus im Wandervogel am Beispiel des Wanderbundes Blau-Weiß (1912–1926)   93 Stefan Breuer Der völkische Flügel der Bündischen Jugend   110 Antje Harms Eine „Gemeinschaft von Volksbrüdern und -schwestern“? Geschlechterverhältnisse, politische Partizipation und nationales Engagement im Jungdeutschen Bund um 1919   134 Jürgen Reulecke Im Vorfeld der NS-Schulungslager Männerbundideologie und Männerbunderfahrungen vor 1933   152 Eckard Holler Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung   165 VI   Inhalt Christian Niemeyer Jugendbewegung, völkische Bewegung, Sozialpädagogik Über vergessen gemachte Zusammenhänge am Beispiel der Darstellung der Artamanenbewegung in der Kindt-Edition   195 Regina Weber Wenn Hagen Heimattreu Klein-Heidi zum Tanz auffordert ... Erziehung, Familie und Frauenbilder in der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ)   221 Gideon Botsch „Nur der Freiheit …“? Jugendbewegung und Nationale Opposition   242 Gedruckte Quellen   262 Literatur   268 Über die Autorinnen und Autoren   288 Personenregister   290 Gideon Botsch, Josef Haverkamp Einleitung Vom 11. bis zum 12. Oktober 1913 trafen sich im Herzen Deutschlands, am Meißner im osthessischen Bergland, mehrere tausend junge Menschen zum Ersten Frei- deutschen Jugendtag. Das Ereignis gilt als Markstein bei der Herausbildung der so genannten Deutschen Jugendbewegung, die ein ebenso faszinierendes wie widersprüchliches Phänomen in der deutschen Gesellschaftsgeschichte geblie- ben ist. Als Ausgangspunkt gilt der seit den späten 1890er Jahren aktive Steglitzer Ausschuss für Schülerfahrten, der sich 1901 den Vereinsnamen Wandervogel gab. Unter dieser Bezeichnung strahlte die neue bürgerliche Jugendbewegung bald weithin aus. Teilte der frühe Wandervogel die bürgerlichen Einstellungen, Ressentiments und Vorbehalte zu großen Teilen, so galt das auch für das Para- digma des vaterländischen Gedankens beziehungsweise des Nationalismus, in den wie selbstverständlich auch antijüdische Stereotype eingeschlossen waren. Doch erst, als nach den Reichstagswahlen 1912 die radikalnationalistischen Agi- tationsverbände und die sich formierende Völkische Bewegung im Zuge ihrer reichsweiten politischen Offensive auch die Jugendbewegung als aufnahmebe- reiten Resonanzkörper für ihre Parolen entdeckten, wurde der Antisemitismus in Wandervogel-Kreisen öffentlich und virulent. Auf dem Freideutschen Jugendtag war er greifbar; der junge Walter Benjamin, der 1913 zugegen war, hat ihn gespürt und darüber berichtet.11 Dennoch war die frühe Jugendbewegung weltanschaulich offen und poli- tisch diffus. Viele ihrer Angehörigen neigten der Lebensreform zu, teilten sozialu- topische Ziele, waren Pazifisten oder wurden es im Laufe des Ersten Weltkriegs, des großen Männermordens, das ein dreiviertel Jahr nach dem Meißnertreffen begann. Als die Jugendbewegung indes um 1923 in ihre Bündische Phase eintrat, fühlten die pazifistisch oder links orientierten Kreise sich ihr in der Regel nicht mehr zugehörig. Obgleich es durchaus republiktreue Kräfte in der Bündischen Jugend gab, dominierte nationalistisches Gedankengut, nicht selten in Verbin- dung mit antisemitischen Tendenzen.2 Darüber hinaus akzeptierte die Bündische Jugend in ihren Reihen diverse völkische, antisemitische und radikalnationalis- tische Bünde und Verbände, die sich zu einem regelrechten völkischen Flügel 1 Vgl. hierzu den Aufsatz von Peter Dudek im vorliegenden Band. 2 Vgl. für eine Übersicht: Botsch, Gideon, Deutsche Jugendbewegung, in: Handbuch des Anti- semitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Benz, Wolfgang Bd. 5: Orga- nisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012, S. 152–154. 2   Gideon Botsch, Josef Haverkamp innerhalb der Bewegung formierten. Doch die Nähe des Mainstreams der Bün- dischen zu nationalistischem Gedankengut ersparte den Bünden nicht ihre Auflösung, Eingliederung in Hitler-Jugend und Jungvolk, Verfolgung und Illegali- sierung durch das nationalsozialistische Regime. Nach dem Kriegsende, noch unter Besatzungsverwaltung, fanden sich über- all außerhalb der sowjetischen Besatzungszone erneut jugendbewegte Gruppen wieder zusammen. In der Regel gehörten ihnen in den 1950ern Kinder und Jugendliche aus dem gutbürgerlichen Milieu an, die die nationalistischen Orien- tierungen ihrer Eltern zunächst weithin übernahmen. Daneben bildeten sich nationalistische Jugendverbände, die nicht selten selbst die äußeren Form- und Stilelemente der bündischen Jugend adaptierten. Deren Agitation und Aktivität mündete an der Wende zum Jahr 1960 in die so genannte Hakenkreuz-Schmier- welle ein. Dieses Ereignis, in Verbindung mit der beginnenden kulturellen, juristi- schen und geschichtswissenschaftlichen kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und Vorgeschichte des Nationalsozialismus – und nicht zuletzt auch mit dem Antisemitismus – wirkte auch auf die bündisch orientierten Jugendgrup- pen ein, deren Angehörige, wie die meisten ihrer Altersgenossen, nach und nach in der bundesdeutschen Demokratie angekommen waren. In dieser Atmosphäre kamen, auf Initiative älterer Jugendbewegter, zum 50. Jahrestag des Freideutschen Jugendtags am 13. Oktober 1963 erneut tausende von Menschen auf dem Hohen Meißner zusammen und hielten gemeinsam eine „Kundgebung der Alten und Jungen“ ab. Die Veranstaltung auf einer Festwiese unter freiem Himmel war namentlich für die Zuhörerinnen und Zuhörer aus der jungen Generation ermüdend. Nach einer Reihe überlanger nostalgischer, aber gänzlich unkritischer Redebeiträge von ‚Ehemaligen‘ hatten die Angehörigen der ‚jungen Bünde‘, wie ein zeitgenössischer Beobachter schilderte, „ihre Banner, Fahnen und Wimpel schon aus den Grasbüscheln gerissen, um Hunger (14 Uhr) und Unmut loszuwerden, letzteres auf das ‚Heil‘ eines alten Pachanten3 hin. ‚Auch das noch‘, konnten sich einige nicht verkneifen zu sagen“. Dann aber sei es die Rede von Helmut Gollwitzer gewesen, die „als einzig richtige den alten Meißner und was auf ihm lagerte und herumkrabbelte zum Rütteln brachte […] Als vierter (!) und eigentlicher Festredner erfaßte er sofort die Situation, kürzte 3 Die von den frühen Wandervögeln benutzte Eigenbezeichnung als ‚Pachant‘ (auch: ‚Bachant‘) gilt als verschlissene Form von ‚Vagant‘, eine Bezeichnung für fahrende Schüler im Mittelalter, vgl. Helwig, Werner, Die Blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung, Gütersloh 1960, S. 41. Einleitung   3 und brachte im rauschenden Herbstsonnenwind noch neun packende Punkte vor, die die jungen Repräsentanten und Bünde zum Bleiben bewogen.“4 Gollwitzer war der erste Redner, der auf die historischen Vorbelastungen der Jugendbewegung zu sprechen kam. Zunächst hatte er noch auf die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Bewegung hingewiesen und betont, dass die „heu- tigen Vorwürfe, ‚die‘ Jugendbewegung habe Führerkult betrieben, sei einerseits zu wenig politisch gewesen, und habe andererseits durch ihre völkische Ideolo- gie den Hitlerismus vorbereitet, den Adressaten“ verfehlen würden. Denn: ,Die‘ Jugendbewegung […] hat es nie gegeben. Die Vorwürfe treffen zu recht einige Gruppen in ihr; denn in der Jugendbewegung gab es alles, was es bei den Erwachsenen auch gab. Wir teilten deren Weltanschauungen, deren Ressentiments und Beschränktheiten; wir waren, so sehr wir uns ihnen überlegen fühlten, genau so der Zeit unterworfen, genau so dumm und blind wie sie.5 Dann, im neunten und letzten Punkt, wurde Gollwitzer deutlich: Stimmen nicht alle Zitate, mit denen man heute beweist, wie der Weg der bündischen Jugend zielsicher ins 3. Reich einmündete? Jawohl, sie stimmen! Die Seuche des Nationalismus und des Antisemitismus war unter uns ebenso verbreitet wie unter den Erwachsenen. Die völ- kische Selbstanbetung fand auch unseren Gefallen, und der Arierparagraph spukte schon früh in einigen Wandervogelgruppen. Es ist zu unserer besonderen Beschämung gesche- hen, daß die gesellschaftlichen Visionen der Jugendbewegung, die bei uns in Deutschland zerstoben sind, von jungen jüdischen Menschen in Israel heute in die Wirklichkeit übersetzt sind wie sonst nirgends in der Welt […] Wir wollen uns hüten, unsere Irrtümer mit unserer damaligen Jugend zu entschuldigen. Den Wahnsinn des Krieges und die Greuel der Juden-, Zigeuner- und Polenermordung haben auch wir auf unsere Weise, ohne die Konsequenzen zu ahnen und zu wollen, in Torheit und Blindheit mit vorbereitet.6 4 Steen, Ferdi, Meißner, nur Mythos, nicht mehr!, in: Reuse. rundbrief des jugendrings darm- stadt 12/1963, S. 6f. – Der Unmut über die Langatmigkeit der Redebeiträge der „Alten“ wird in mehreren zeitgenössischen Berichten erwähnt. Interessant ist, dass Gollwitzers Rede bei der Mehrzahl der jungen Teilnehmer hervorragend ankam und ihn auch eine Reihe von Zuschriften erreichten, in denen alte Wandervögel der Vorkriegszeit sich, in bewusster Abgrenzung zur Bündischen Jugend der Zwischenkriegszeit, mit dem Tenor seines Vortrags einverstanden erklärten, während die Angehörigen der Generation, die in der klassischen bündischen Phase von 1923 bis 1933 aktiv war – die auch Gollwitzers Generation ist – ihn häufig mit scharfen Worten kritisierten. Für eine Übersicht über die Reaktionen vgl. Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA), Nachlass Helmut Gollwitzer, Nr. 686/7687–7688. 5 Helmut Gollwitzer, Festansprache, in: Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte. Im Auftrage des Hauptausschusses für die Durchführung des Meißnertages hg. v. Werner Kindt u. Karl Vogt, Düsseldorf/Köln 1964, S. 51–63, Zitat: S. 53. 6 Gollwitzer, Festansprache, S. 61. 4   Gideon Botsch, Josef Haverkamp In seltener Offenheit sprach Gollwitzer damit ein Grundproblem an, das die Jugendbewegung spätestens seit dem Meißnertag begleitete, nach 1945 aber schamhaft beschwiegen worden war. Gollwitzer sah deutlich, und sprach aus, dass ein indifferentes Verhältnis zur nationalistischen, antisemitischen und auch militaristischen Überlagerung der Jugendbewegung sich unter den Bedingungen der deutschen Demokratie nicht würde aufrechterhalten lassen. Zum Prüfstein für die Bünde, zur Voraussetzung ihres Fortwirkens innerhalb der demokrati- schen Gesellschaft, musste zwangsläufig die selbstkritische Auseinandersetzung mit diesen Traditionen und ihre Überwindung werden. Dies schloss eine deutli- che Abgrenzung von denjenigen ein, die an derartigen Traditionen bewusst fest- halten oder sie wiederbeleben wollten. Unter den Teilnehmern des Meißnerlagers 1963 fielen in dieser Hinsicht vor allem die Gefährtenschaft e. V., die Fahrenden Gesellen und die Deutsche Jugend des Ostens (DJO), der Jugendverband der Heimatvertriebenen, auf. Der Berliner Tagesspiegel berichtete: Man warf ihnen ihr Auftreten beim Lagereinzug, ihr geschlossenes Marschieren vor, man belächelte, wie sie ihre Fahnen unter Trommelwirbel hißten und beschuldigte sie revan- chistischer Gedanken. […] Als wir die vielen Pfadfinder der zahlreichen Lagerfeuer fragten: ‚Gehört Ihr zur Gefährtenschaft oder zur Deutschen Jugend des Ostens?‘, war grollende Empörung in den Stimmen der Jungen: ‚Sehen wir so aus … Wollt Ihr uns beleidigen … Mit denen haben wir nichts gemein.‘7 Diese nationalistisch oder völkisch orientierten Verbände hielten es denn auch für nötig, sich in einer ad hoc einberufenen Pressekonferenz von der Rede Goll- witzers zu distanzieren.8 Gollwitzer schloss mit den Worten: Wenn jemand im Jahre 2013 noch das Bedürfnis empfinden sollte, hier oben des Aufbruchs deutscher Jugend vor 100 Jahren zu gedenken, dann […] wird ein solches Gedenken nur möglich sein, wenn die europäische Jugend sich nicht aufs neue den Torheiten der älteren Generation zum Opfer bringen [lässt]. So schaut zurück auf die, die vor euch aufgebrochen sind, befreit euch von unsere Irrtümern, nehmt dankbar auf und entwickelt weiter was zukunftsträchtig gewesen ist […], um dann desto besser vorwärts zu schauen und vorwärts zu gehen!9 7 Der Tagesspiegel v. 15. 10. 1963. 8 Vgl. den satirisch gehaltenen Bericht: Die Kraft des Herzens ist größer als die Kraft des Ver- standes, in: pardon, Nov. 1963, S. 32f. 9 Gollwitzer, Festansprache, S. 63.

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