Studien zur Jugendforschung Herausgegeben von Wilfried Breyvogel Werner Helsper Heinz-Hermann Krüger Band 10 Tillmann (Hrsg.) Jugend weiblich - Jugend männlich Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.) Jugend weiblich - Jugend männlich Sozialisation, Geschlecht, Identität Leske + Budrich, Opladen 1992 Auf dem Titel: "Punkertreff' von Ippazio Fracasso, Bielefeld. ISBN 978-3-8100-0942-5 ISBN 978-3-322-93653-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93653-0 © 1992 by Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der en gen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfiiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar beitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich, Opladen Inhalt Einführung (Klaus-Jürgen Tillmann) ................................................... 7 I. Bestandsaufnahme ................................................................... 11 1. "Spielbubis" und "eingebildete Weiber" - 13- bis 16jährige in Schule und peer-group (Klaus-Jürgen Tzllmann) .......................................... 13 2. "Fehlgeleitete Machos" und "frühreife Lolitas" - Geschlechtstypische Unterschiede der Jugenddevianz (Brigitte Ziehlke) ...... ....... .... ...... .... ... 28 3. Söhne und Töchter in bundesdeutschen Familien - Mehr Kontinuität als Wandel? (Klaus-Jürgen Tzllmann) ............................................................. 40 11. Forschungsberichte ................................................................... 49 4. "Heiraten - das kann ich mir noch nicht vorstellen" - Das psychosoziale Moratorium bei Jungen und Mädchen in der Oberstufe (Ulrike Popp) ....... 51 5. Soviel Mutter wie möglich - soviel Beruf wie nötig - Identität und Lebenspläne von jungen Bankkauffrauen (Regina Klüssendorj) ............... 65 6. Jungen und Mädchen in der DDR der 80er Jahre (Christina Krause / Martina Neukireh) ............................................. 79 7. Arbeitslose Mädchen in der Weimarer Republik - Zur Geschichte weiblicher Jugend (Sabine Reh) .................................................................. 94 111. Theoriediskussion .................................................................. 109 8. Abschied von der Kindheit - Jugend und Geschlecht in psychoanalytischer Sicht (Horst Scarbath)................................................................ 111 9. Interaktionsforschung und Geschlechtersozialisation - Zur Kritik schuli- scher Interaktionsstudien (Michaela Tzankoff) .................................... 124 10. Habitus, Lebenslage und Geschlecht - Über Sozioanalyse und Geschlechtersozialisation (Eckart Liebau) ........................................ 134 Literaturverzeichnis ....................................................................... 149 5 Klaus-Jürgen Tzllmann Einführung Jugendliche kommen real als Mädchen oder als Jungen vor. Dies ist ein trivialer Sach verhalt, der von den Jugendtheoretikern allerdings seit langem weitgehend ignoriert wird. Die "großen Theorien" des Jugendalters, ob aus pädagogischer (Spranger 1927), aus psychoanalytischer (Erikson 1966), aus struktur-funktionaler (Eisenstadt 1966) oder aus kommunikationstheoretischer Sicht (DöbertINunner-Winkler 1975), sie alle spre chen überwiegend von "den Jugendlichen", um aber - explizit oder implizit - vor al lem die jungen Männer zu meinen. Mädchen werden dabei entweder subsumiert, oder sie erscheinen als Abweichung vom männlichen ,Normalfall'. Dies ist häufig kritisiert worden - auf die Theorieproduktion hat diese Kritik bisher wenig Einfluß gehabt. In der empirischen Jugendforschung werden hingegen seit langem geschlechtsspezifi sche Daten (mit-)erhoben und gelegentlich auch interpretiert. Das trifft seit den 50er Jahren z.B. für die großen Repräsentativbefragungen (vgl. z.B. Emnid 1954; Jugend werk 1966) genauso zu wie für viele Fallstudien (vgl. z.B. Küppers 1964). Wenn den noch bis weit in die 70er Jahre hinein die Mädchen in der Forschung relativ unsichtbar geblieben sind, so liegt das an der Herangehensweise vieler Untersuchungen: Bei ge schlechtsspezifischen Vergleichen wurde die männliche Jugend allzu häufig als "Maß stab" genommen, demgegenüber geriet die besondere weibliche Lebenslage den For schern höchst selten in den Blick. Es kommt hinzu, daß sich die Jugendforschung seit den siebziger Jahren vor allem als Subkulturforschung betätigt hat. Ihr Interesse richtete sich sehr stark auf die öffentlich präsentierten Jugendstile, auf Punker, Rocker und Skin heads, auf Fußballfans und Hausbesetzer. Daß es sich hierbei um männlich dominierte Lebenswelten und damit um Prozesse geschlechtstypischer Sozialisation handelt, wurde in einigen Studien umfassend thematisiert (vgl. z.B. WilUs 1979), in den meisten hingegen kaum erwähnt. Eine solche Jugendforschung als "Jungenforschung" wird von (feministischen) Autorinnen seit längerem kritisiert (vgl. McRobbielGarber 1979; Ost ner 1986). Diese Kritik hat offensichtliche Wirkung gezeigt: Seit Beginn der 80er Jahre werden immer häufiger Untersuchungen vorgelegt, in der die Lebenssituationen von Mädchen eingehend behandelt werden (vgl. z.B. 6: Jugendbericht 1984; Trauemicht 1989). Daß eine solche Forschung anschließen kann an eine Tradition der "Mädchen studien", die von Charlotte Bühler (1929) über Elisabeth Pfeil (1968) bis zur "Brigitte" - Studie (1982) reicht, mußte von vielen erst wiederentdeckt werden. Eine solche Verstärkung der Mädchenforschung ist angesichts der bisherigen Vorherr schaft der Jungenforschung sicher notwendig, läßt aber zugleich andere (neue?) Defi- 7 zite erkennen: Während die "Männerwelt" der jugendlichen Subkultur recht gut er forscht ist, findet sich über die Situation männlicher Jugendlicher in der Familie kaum etwas. Während die Mutter-Tochter-Thematik in jüngerer Zeit mehrfach bearbeitet wurde (vgl. Z.B. Burger/Seidenspinner 1988), sind vergleichbare Untersuchungen über die Beziehung von Söhnen zu ihren Eltern höchst selten (als Ausnahme: Blos 1990). Umgekehrt gilt: Die Situation von Mädchen in gemischtgeschlechtlichen Subkulturen ist genauso dürftig erforscht wie Annäherungsprozesse und Verkehrsformen zwischen Jungen und Mädchen. Und was die Schule als Lebenswelt von Jugendlichen angeht, so ist ihre Bedeutung als Kommunikationsfeld zwischen den Geschlechtern bisher nur sehr selten thematisiert worden. Kurz: Obwohl die Jugendforschung in den letzten Jahren weit sensibler für geschlechtsspezifische Lebenswelten und Sozialisationsprozesse ge worden ist, gibt es nach wie vor erhebliche "weiße Flecken" auf der Forschungsland karte. Dieses Defizit in Forschung und Theoriebildung ist seit 1989 in meinem Hamburger Forschungskolloquium intensiv diskutiert worden - den Hintergrund dafür bildeten unterschiedliche Forschungsvorhaben der Beteiligten, die alle in irgendeiner Weise die Thematik "Jugend und Geschlecht" bearbeiteten. Aus der gemeinsamen Diskussion entstand die Idee, einen Sammelband zum Thema zu erstellen. Dabei sollten nicht nur die Ergebnisse der eigenen Forschung präsentiert werden, sondern es sollte auch der Versuch unternommen werden, die Theoriediskussion über Geschlechtersozialisation im Jugendalter voranzutreiben. Weil schon bald klar wurde, daß dieses Programm allein von den Beteiligten des Forschungskolloquiums nicht geleistet werden konnte, luden wir noch weitere Wissenschaftler(innen) aus Greifswald, Hamburg und Tübingen zur Mitarbeit ein. In den damit verbundenen Diskussionen schälte sich zunehmend präziser das Konzept heraus: Es soll ein Buch entstehen, in dem in thematisch vielfältiger Weise das Jugendalter geschlechtstypisch beleuchtet wird. Dabei geht es zum einen um eine Differenzierung des Jugendalters in männliche und weibliche Lebenswelten, es geht um eine Betrachtung männlicher und weiblicher Identitätsbildungen in Familie, Schule und peer-group. Allerdings soll dabei nicht aus dem Auge verloren werden, daß die Ge schlechterdifferenz eingebunden ist in die Gemeinsamkeit der Lebensphase "Jugend", in der sich Jungen und Mädchen in vielfältiger Weise aufeinander beziehen. Systemati sche Überlegungen auf der einen, die Forschungsschwerpunkte der Autorinnen und Au toren auf der anderen Seite führen dazu, den Sammelband in drei Bereiche zu unterglie dern: In einem ersten Teil geht es um eine Bestandsaufnahme: Was läßt sic,h - trotz aller Kritik an den Defiziten und Einseitigkeiten der bisherigen Forschung - über Ge schlechterverhältnisse im Jugendalter auf der Basis der vorliegenden Untersuchungen sagen? Hierzu werden drei Beiträge vorgelegt: Klaus-Jürgen 1illmann sichtet die bun desdeutsche Forschungsliteratur der 70er und 80er Jahre und beschreibt auf dieser Basis zunächst einmal, in welchen Formen, mit welchen Schwierigkeiten die vorsichtige An näherung der 13- bis 16jährigen Mädchen und Jungen in Schule und peer-group ver läuft. Dabei erweist sich der weibliche "Entwicklungsvorsprung" als ein Problem, das vor allem den Jungen zu schaffen macht. In einem weiteren Beitrag sichtet 1illmann die Forschung über die Familie als Lebensort von Jugendlichen. Dabei schält sich die zen trale Bedeutung der Mutter - für Söhne wie für Töchter - heraus. Zugleich wird deut lich, welches starke Maß an Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen in der Fami- 8 He nach wie vor besteht. Brigitte Ziehlke hat den gesamten Komplex der empirischen Forschung zu Jugenddevianz und abweichendem Verhalten gesichtet, um geschlechtsty pische Erscheinungsweisen und Mechanismen herauszuarbeiten. Sie kommt zu dem Er gebnis, daß jugendliche Abweichungen jeweils als mißlungene Aneignung der konven tionellen Geschlechterrolle - als "fehlgeleitete Machos" oder als "frühreife Lolitas" interpretiert werden können. Im zweiten Teil werden Forschungsberichte aus laufenden oder soeben abgeschlosse nen Projekten präsentiert, die sich dem Thema methodisch und inhaltlich höchst unter schiedlich nähern. Sowohl Regina Klüssendoifals auch Ulrike Popp berichten über qua litative Interviewstudien, bei denen es um Berufs- und Lebenspläne von jungen Men schen geht: Während Popp sich mit Jugendlichen in der Schule (Oberstufe) befaßt, beschäftigt sich Klüssendoif mit jungen Berufstätigen - mit Bankkauffrauen. Während Popp für ihre 18- bis 20jährigen Mädchen herausarbeitet, daß diese ein verlängertes "psychosoziales Moratorium" einklagen, daß sie Eheschließung und Familiengründung möglichst lange hinausschieben wollen, stellt sich dies bei den jungen Bankkauffrauen ganz anders dar. Klüssendoif zeigt auf, wie stark bei dieser Gruppe der Wunsch nach der konventionellen Familienperspektive ist - und wie sehr sich hier konventionelle weibliche und konventionelle männliche Vorstellungen decken. Christina Krause und Martina Neukirch berichten auf der Basis einer eigenen Längs schnittstudie über die Entwicklungsprobleme von Jugendlichen unter den Bedingungen der ehemaligen DDR. Dabei wird deutlich, wie sehr traditionelle Formen der Geschlechter-Ungleichheit (etwa bei der "Beziehungsarbeit") und neu gewonnene For men der Gleichheit (etwa bei der Berufsorientierung) in der "alten" DDR nebeneinan der gestanden haben. Der letzte Beitrag in diesem Teil des Buches wählt einen histori schen Zugriff: Vor dem Hintergrund einer umfassenden Quellenaufarbeitung stellt Sa bine Reh dar, welche Form von "Jugend" proletarische Mädchen in den zwanziger Jahren leben konnten, in welchem Maß sie von Arbeitslosigkeit betroffen waren, mit welchen pädagogischen Maßnahmen darauf reagiert wurde. Es wird erkennbar, wie der Versuch der Mädchen, sich bescheidene Freiräume zu erkämpfen, in Konflikt gerät mit den pädagogischen Bemühungen, sie auf die Hausfrauen-und Mutterrolle festzulegen. Im dritten Teil schließlich wird die Theoriediskussion geführt, in der es um Konzepte zur Geschlechtersozialisation im Jugendalter, um deren Tragfiihigkeit und deren Weiter entwicklung geht. Horst Scarbath macht deutlich, wie stark sich die "klassische" Psy choanalyse auf die Entwicklurtg im Kindesalter konzentriert hat und wie groß deshalb der Nachholbedarf ist, wenn daraus auch eine Sozialisationstheorie für das Jugendalter entwickelt werden soll. Zugleich werden jüngere Ansätze, in denen dies versucht wird (Blos, Kaplan) dargestellt und eingeordnet. Michaeia Tzankoffbefaßt sich mit interak tionistischen Theorieansätzen auf der Ebene der Forschungspraxis: In welcher Weise so ihre Frage - werden in interaktionistischen Schulstudien die Geschlechterverhält nisse thematisiert und theoretisch gefaßt. Während sie bei der einen Gruppe von Studien eine solche Thematisierung völlig vermißt, wird dies in anderen (feministischen) Stu dien intensiv behandelt. Allerdings - so ihre These - fallen diese feministischen Stu dien weit hinter die subjekt-theoretischen Erkenntnisse des Interaktionismus zurück. Den abschließenden Beitrag liefert Eckart Liebau: Er behandelt den Zusammenhang von Jugend, Geschlecht und Sozialisation aus einer theoretischen Perspektive, die er "Sozioanalyse" nennt und die auf die Arbeiten von Bourdieu über Habitus, Stile und 9 Lebenslagen zurückgeht. Dabei arbeitet Liebau heraus, daß die Geschlechtszugehörig keit im Kontext unterschiedlicher Lebenslagen jeweils etwas sehr anderes bedeuten kann, daß insofern eine Sozialisationstheorie, die allein oder überwiegend mit der Ge schlechterkategorie als Interpretationsschlüssel arbeitet, zu kurz greifen muß. Inwie weit die "Sozioanalyse" die Geschlechtersozialisation im Jugendalter umfassender the matisieren kann, versucht er aufzuzeigen. Diese Skizzierung der Beiträge macht deut lich, daß hier zwar ein thematisch vielfaltiger Band, aber keine systematische Monographie zum Thema vorgelegt wird: Der Diskussions-und Forschungsstand läßt dies (noch) nicht zu. Trotz der unterschiedlichen Aspekte, die hier angesprochen wer den, ist es aber auch offensichtlich, daß einige wichtige Bereiche fehlen. Beispielhaft können geschlechtstypische Aspekte der Hochschulsozialisation oder auch die Situation von männlichen und weiblichen Jugendlichen in der betrieblichen Ausbildung genannt werden. Auch diese Defizite machen deutlich, daß dieses Buch nicht mehr als ein "Ein stieg" in eine systematische Problembearbeitung sein kann. Es ist zu hoffen, daß da durch Diskussionen angeregt und Forschungsvorhaben angestoßen werden. Mein Dank gilt all denjenigen, die - von der ersten Idee bis zur letzten Korrektur - geholfen haben, dieses Buch zustande zu bringen. Dabei denke ich vor allem an Regina Klüssendorf, Ulrike Popp, Sabine Reh, Michaela Tzankoff und Brigitte Ziehlke, die in nerhalb des Hamburger Forschungskolloquiums weder mit Kritik noch mit Unterstüt zung gespart haben, wenn es darum ging, dieses Buchprojekt weiterzubringen. 10 I. Bestandsaufnahme