Edeltraud Roller · Frank Brettschneider · Jan W.van Deth (Hrsg.) Jugend und Politik: „Voll normal!“ Veröffentlichung des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) Band 11 Edeltraud Roller Frank Brettschneider Jan W. van Deth (Hrsg.) Jugend und Politik: „Voll normal!“ Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. . 1.Auflage Juni 2006 Alle Rechte vorbehalten ©VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2006 Lektorat:Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14383-2 ISBN-13 978-3-531-14383-5 Inhalt Edeltraud Roller, Frank Brettschneider und Jan W. van Deth Jugend und Politik – Der Beitrag der Politischen Soziologie zur Jugendforschung.......................................................................................... 7 Autoren.............................................................................................................. 21 I. Theoretische und methodische Grundlagen Angelika Vetter Jugend: Ein Konzept und seine Messung.......................................................... 25 Ursula Hoffmann-Lange Was kann die Jugendforschung zur politischen Kulturforschung beitragen?.......................................................................................................... 55 II. Politische Unterstützung und politische Wertorientierungen Roland Abold und Zoltán Juhász Rückkehr in den Mainstream? Einstellungswandel der Jugend zu Demokratie und Parteiensystem................................................................... 77 Gert Pickel Die ostdeutsche Jugend – im deutschen Vergleich besonders verdrossen oder auf dem Weg in eine gemeinsame politische Kultur?............................... 99 Kai Mühleck und Bernd Wegener Parteiidentifikation und Einstellungen zur Gerechtigkeit – junge Erwachsene in Ost- und Westdeutschland 1991-2000............................. 133 Viktoria Kaina und Franziska Deutsch Verliert die „Stille Revolution“ ihren Nachwuchs? Wertorientierungen in Deutschland im Kohorten- und Zeitvergleich............................................... 157 6 Inhalt III. Politisches Interesse und politische Partizipation Martin Kroh Das politische Interesse Jugendlicher: Stabilität oder Wandel?........................ 185 Bettina Westle Politisches Interesse, subjektive politische Kompetenz und politisches Wissen – Eine Fallstudie mit Jugendlichen im Nürnberger Raum.................... 209 Angelika Vetter Jugend und ihre subjektive politische Kompetenz............................................ 241 Oskar Niedermayer Jugend und Parteien........................................................................................... 269 Markus Klein Jugend und politischer Protest. Eine Analyse im Kontext aller Partizipationsformen................................................................................. 291 IV. Wahlbeteilung und Wahlentscheidung Kai Arzheimer Jung, dynamisch, Nichtwähler? Der Einfluss von Lebensalter und Kohortenzugehörigkeit auf die Wahlbereitschaft.............................................. 317 Alexandra Mößner Jung und ungebunden? Parteiidentifikation von jungen Erwachsenen.............. 337 Ulrich Eith Parteibindungen bei jungen und älteren Erwachsenen in Westdeutschland............................................................................................ 361 Harald Schoen Junge Wilde und alte Milde? Jugend und Wahlentscheidung in Deutschland................................................................................................... 379 Jugend und Politik – Der Beitrag der Politischen Soziologie zur Jugendforschung Edeltraud Roller, Frank Brettschneider und Jan W. van Deth 1. Jugend und Demokratie in Deutschland Die Frage, welches Verhältnis die Jugend zur Politik hat, ist nicht nur von allge- meinem öffentlichem Interesse, sondern berührt eine zentrale politikwissenschaft- liche Thematik. Aus der Sicht des Konzepts der politischen Kultur ist die subjekti- ve Orientierung der Bürger gegenüber der Politik eine der wesentlichen Determi- nanten der Stabilität (Almond/Verba 1963) und der Funktionsfähigkeit (Putnam 1993) einer Demokratie. Die Sozialisation der nachkommenden Generationen, die in der Internalisierung gesellschaftlich relevanter Inhalte der politischen Kultur be- steht, ist damit von unmittelbarer Bedeutung für den Zustand der Demokratie in ei- nem Land. An den politischen Orientierungen und Verhaltensweisen der Jugend- lichen lässt sich nicht nur der Erfolg der politischen Sozialisation ablesen, sie die- nen auch als Gradmesser für die zukünftige Entwicklung einer Demokratie. Nega- tive Befunde wie eine zunehmende Distanzierung der Jugend von der Politik (sei es in Form einer Politiker-, Parteien- oder gar einer allgemeinen Politikverdrossen- heit) oder eine Abnahme der politischen Beteiligung und Beteiligungsbereitschaft bei den Jugendlichen indizieren dann problematische oder gar alarmierende Ent- wicklungen, die – wenn sie von Dauer sind und ein bestimmtes Ausmaß erreichen – eine Bedrohung für das Funktionieren und die Stabilität der Demokratie in einem Land darstellen können. Für Deutschland ist die Frage nach dem Verhältnis der Jugend zur Politik von besonderem Interesse. Nach der formellen, d.h. institutionellen Vereinigung beider deutscher Staaten im Oktober 1990 geht es nunmehr um die kulturelle Integration beider Teile Deutschlands. Dieser auch als innere Einheit bezeichnete Prozess ist abgeschlossen, wenn die Bürger der neuen Bundesländer subjektive Orientierun- gen gegenüber der Politik entwickeln, die zu den liberal-demokratischen Struktu- ren des vereinigten Deutschlands kongruent sind (Fuchs/Roller/Weßels 1997). Den nachwachsenden Generationen kommt hier eine große Bedeutung zu. Wenn nicht nur die erwachsenen Bürger, sondern auch die Jugendlichen in den neuen Bundes- ländern, die in ihren formativen Jahren unter den institutionellen Bedingungen ei- ner liberalen Demokratie aufgewachsen sind, ein kritisches Verhältnis zur Demo- kratie des vereinigten Deutschland aufweisen, dann kann der erhoffte Austausch der demokratiekritischen durch demokratiebefürwortende Generationen nicht statt- 8 Edeltraud Roller, Frank Brettschneider und Jan W. van Deth finden und die Demokratie in den neuen Bundesländern nicht als konsolidiert bzw. gefestigt gelten. 2. Ergebnisse und Grenzen der Jugendforschung Die Jugendforschung in Deutschland hat sich seit den 1990er Jahren verstärkt dem Thema Jugend und Politik gewidmet und dazu einschlägige empirische Befunde vorgelegt. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Studien: die 14. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2002 (Deutsche Shell 2002) mit dem Schwerpunkt politische Einstel- lungen und politisches Engagement sowie der Jugendsurvey „Jugend und Politik“ des Deutschen Jugendinstituts (DJI), München, der inzwischen drei Wellen um- fasst – 1992 (Hoffmann-Lange 1995), 1997 (Gille/Krüger 2000) und 2003 (Gaiser u.a. 2006). Bei beiden Studien handelt es sich um repräsentative Umfragen unter Jugendlichen. Sie unterscheiden sich jedoch nicht nur im Hinblick auf die Definiti- on dessen, was unter Jugend verstanden wird: Die Shell-Jugendstudie befragt Ju- gendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, während die DJI-Jugendsurveys Jugendli- che und junge Erwachsene zwischen 12 bis 29 Jahre untersucht. Bei den DJI- Jugendsurveys handelt es sich zudem um Replikationen, die Längsschnittanalysen erlauben, während bei den Shell-Jugendstudien der Anteil von Replikationen auf einzelne politische Indikatoren (politisches Interesse) beschränkt ist. Die beiden Studien zeichnen folgendes Bild über das Verhältnis der Jugend zur Politik: Die Shell-Jugendstudie konstatiert für das Jahr 2002 ein weiter rück- läufiges Interesse an der Politik (Deutsche Shell 2002: 21), eine Abnahme postma- terialistischer Werte und eine Zunahme pragmatischer Haltungen (Deutsche Shell 2002: 18f.), Parteienverdrossenheit bei gleichzeitig großer Akzeptanz der Demo- kratie (Deutsche Shell 2002: 24) und ein geringes Niveau konventioneller und un- konventioneller Partizipation (Deutsche Shell 2002: 27). Die Ergebnisse werden folgendermaßen zusammengefasst: „Alles in allem stellt Politik für die Mehrheit der Jugendlichen heute keinen eindeutigen Bezugspunkt mehr dar, an dem man sich orientiert, persönliche Identität gewinnt oder sich auch selber darstellen kann. ‚Politisch sein’ ist heute nicht mehr ‚in’“ (Deutsche Shell 2002: 24). Im Unterschied dazu können die DJI-Jugendsurveys für den Zeitraum zwi- schen 1992 und 2003 folgende Befunde ermitteln: „keine massiven Rückgänge“ beim politischen Interesse und bei der subjektiven politischen Kompetenz (Gaiser u.a. 2005a: 191), eine leicht abnehmende Zustimmung zur Idee der Demokratie bei zunehmender Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie (Gaiser u.a. 2005a: 177, 181) und ein leichter Rückgang der politischen Partizipation (Gaiser u.a. 2005b: 2). Auf der Grundlage der DJI-Jugendsurveys, die auch systematisch die Frage nach dem Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland untersu- chen, lassen sich sowohl Annäherungen zwischen den Jugendlichen der alten und neuen Länder (z.B. beim politischen Interesse) als auch gleich bleibende Ost-West- Unterschiede (z.B. bei Einstellungen zur Demokratie) ermitteln. Wichtigstes Er- gebnis ist, dass diese Unterschiede zwar immer noch existieren, aber zumindest nicht größer geworden sind (Gaiser u.a. 2005a: 193). Jugend und Politik – Der Beitrag der Politischen Soziologie 9 Auf der Grundlage dieser empirischen Befunde, die zentrale Dimensionen der politischen Kultur abdecken, könnte man annehmen, dass die wichtigsten Fragen zum Verhältnis von Jugend und Politik bereits geklärt sind. Das ist allerdings ein erster und nicht ganz zutreffender Eindruck. Zum ersten zeigt die Gegenüberstel- lung, dass die Studien zu teilweise unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das wird insbesondere beim politischen Interesse deutlich, wo die negative Entwick- lung im Fall der Shell-Jugendstudie als Beleg für die These der wachsenden Dis- tanz der Jugend zur Politik gewertet wird, während auf der Grundlage der DJI- Jugendsurveys lediglich eine leichte Abnahme ermittelt wird. Dieser Unterschied kann nicht mit der unterschiedlichen Länge der Zeitreihen erklärt werden. Nimmt man ähnliche Zeiträume in den Blick, dann sinkt bei der Shell-Jugendstudie (2002: 92) das politische Interesse kontinuierlich zwischen 1991 und 2002 von 57 auf 34 Prozent, während bei den DJI-Jugendsurveys (Gaiser u.a. 2005a: 171) in West- und Ostdeutschland die Werte zwischen 1992, 1997 und 2003 mit leichten Schwan- kungen relativ stabil sind (Westdeutschland: 21, 25, 22 Prozent; Ostdeutschland 22, 17, 19 Prozent). Der Frage, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind, ob auf unterschiedliche Indikatoren, Jugenddefinitionen oder Methoden der Stichpro- benziehung, soll an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Für unsere weitere Argumentation ist das Faktum entscheidend, dass die Jugendstudien nicht zu ein- heitlichen Ergebnissen im Hinblick auf die Entwicklung des Verhältnisses der Ju- gend zur Politik kommen. Ein zweites Problem der Jugendstudien besteht darin, dass für viele politische Indikatoren nur ein Messzeitpunkt (insbesondere bei der Shell-Jugendstudie) oder nur eine begrenzte Anzahl von Messzeitpunkten vorliegt und Längsschnittanalysen zur Entwicklung des Verhältnisses von Jugend und Politik entweder gar nicht oder nur für eine begrenzte Periode (ca. zehn Jahre nach der deutschen Einheit) möglich sind. Fehlen Vergleichsdaten, dann wird bei der Interpretation der Daten häufig auf (vermeintlich) allgemeines Wissen über frühere Jugendkohorten verwiesen, mit dem die ermittelten Resultate verglichen werden. So wird beispielsweise bei der Shell-Jugendstudie, die lediglich für politisches Interesse Zeitreihendaten aufweist, behauptet, dass Politik keinen wichtigen Bezugspunkt mehr (!) darstellt (Deutsche Shell 2002: 24). In Ermangelung von früheren Messzeitpunkten werden also nicht selten längsschnittliche Datenreihen und darauf basierende Trendaussagen ledig- lich konstruiert. Ein drittes, grundlegendes Problem der Jugendstudien liegt darin, dass nur die Jugendlichen, also nur eine Altersgruppe untersucht wird. Diese Fokussierung hat nicht selten zur Folge, dass Differenzen zwischen den Jugendlichen unterschiedli- cher Kohorten als Generationen- bzw. Kohorteneffekte interpretiert werden. Das heißt, es wird nicht nur unterstellt, dass sich die neuen Gruppen von Jugendlichen systematisch von den vorangegangenen unterscheiden, sondern dass die bei den Jugendlichen ermittelten Einstellungen und Verhaltensweisen im Lebensverlauf weitgehend stabil bleiben. Dies ist allerdings ein voreiliger und fragwürdiger Schluss. Grundsätzlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den er- mittelten Differenzen um Alters- bzw. Lebenszykluseffekte oder um Periodenef- fekte handelt. Alterseffekte liegen vor, wenn sich die Einstellungen und Verhal-