ebook img

Jugend in Ostdeutschland: Lebenssituationen und Delinquenz PDF

326 Pages·2000·12.289 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Jugend in Ostdeutschland: Lebenssituationen und Delinquenz

Jugend in Ostdeutschland: Lebenssituationen und Delinquenz Dietmar Sturzbecher (Hrsg.) Jugend in Ostdeutschland: Lebenssituationen und Delinquenz Leske + Budrich, Opladen 2001 Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-8100-2987-4 ISBN 978-3-322-94985-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-94985-1 © 2001 Leske + Budrich, Opladen Diese Studie wurde mit Mitteln des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg gefördert. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschlitz!. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervieWiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Jugend zehn Jahre nach der "Wende" In Brandenburg: Ein Vorwort Wie sich die Zeiten ändern! Schlug man in meiner Jugendzeit in Ostdeutschland die Zeitung auf, fand man vielfaltige Anzeichen für eine prächtige Landesjugend. Die Jugend siegte bei Olympiaden aller Art, erfand planmäßig auf der "Messe der Mei ster von Morgen" für die Menschheit Wichtiges, kämpfte in Tagebauen und auf Kartoffeläckern gegen den Winter und Versorgungsengpässe (die es eigentlich nicht geben durfte) und trat uns zuweilen sogar in Heldengestalt entgegen, denken wir an den Bau der sibirischen Erdöltrasse. Und heute? Junge Gewalttäter, Extremisten, Drogenabhängige und Verkehrsrowdies dominieren die Titelseiten der Tagespresse. Mißtrauisch umfahren die Erwachsenen Ansammlungen herumlungernder 15jähriger vor der Kaufhalle und atmen auf, wenn der Bauwagen am Dorfrand endlich als neuer Jugendclub und Treffpunkt akzeptiert wird. Ist dieses Bild der heutigen Jugend realistisch? Sicher nicht; wenn wir statt in die Tageszeitungen in die Befunde der Jugendforschung blicken, zeigt sich, daß unser Bild von der Jugend weitgehend durch die Berichterstattung über die negativ auffäl ligen Jugendlichen bestimmt wird. Das IFK in Vehlefanz hat 1991, 1993, 1996 und 1999 jeweils über 2.500 brandenburgische Jugendliche nach ihrer Lebenssituation und ihren Einstellungen gegenüber Gewalt, Ausländern und Rechtsextremismus ge fragt; die Ergebnisse widersprechen meist den Klischees von der Jugend als Problem. Zunächst: Die Jugend heute ist wahrscheinlich nicht weniger prosozial oder familien freundlich eingestellt als vor 10 Jahren! Beispielsweise hat das Lebensziel "Für ande re dasein, auch wenn man auf etwas verzichten muß" seit 1993 stetig an Bedeutung gewonnen; eine Familie zu gründen hat nicht an Wertschätzung verloren; politisches Engagement ist Jugendlichen sogar wieder wichtiger geworden. Ist dies nicht ein deutliches Signal an Kommunalpolitiker und Parteien, angesichts von Politikfrust und politischem Extremismus Jugendlichen mehr Möglichkeiten zu politischer Bil dung und Beteiligung zu bieten? Gegen das Bild einer verantwortungslosen, beque men Jugend spricht auch, daß es seit 1993 unverändert 96 Prozent der Jugendlichen für bedeutsam halten, "eine Arbeit zu haben, die erfüllt, in der ich aufgehen kann". Arbeit und Erwerbstätigkeit schaffen also Identität und soziale Integration. Weniger akademisch hat es ein arbeitsloser Jugendlicher 1991 ausgedrückt, der wegen krimi neller Delikte auffällig geworden war: "Früher biste zur Arbeit gegangen, hast'n biß ehen Geld gekriegt, selbst wenn manche nur mit nen Besen im Betrieb rumgerannt sind. Aber irgendwo haste dazugehört, hattest irgendwann det Gefühl, du hast Feier abend und det Recht, ein Bier zu trinken. Det machst de jetzt vormittags um neune, säufst den Tach weg, und denn drehste durch. Zu Hause intressiert dich ooch nischt mehr, jetzt, wo de nu Zeit hast". Ausbildungs- und Arbeitsplätze für delinquenzge fährdete Jugendliche werden nicht dazu führen, daß Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus verschwinden; aber die Jugendforschung wie auch die Lebenser fahrung halten ausgezeichnete Beispiele bereit, wie labile und als "Schulversager" abgestempelte Jugendliche durch Lehre und Arbeit zu geachteten Mitbürgern wer den. 5 Auch ein Blick auf die Schule bietet wenig Anlaß zur Panik. Wenn man davon ab sieht, daß nach der "Wende" der Anteil der schulisch hoch motivierten Jugendlichen deutlich gesunken ist, gibt es hinsichtlich der Einstellungen zur Schule oder beim Schuls chwänzen kaum Veränderungen und mit Sicherheit keine Verschlimmerung der Situation. Das bedeutet nicht, daß an den Schulen bereits alles getan ist! Jugend liche erfahren am Beispiel ihrer Eltern immer häufiger, daß eine berufliche Qualifi kation nicht vor Arbeitslosigkeit und finanziellen Einbußen schützt; deshalb werden die schulischen Inhalte immer kritischer hinterfragt. Jugendliche wollen Dinge ler nen, die erkennbar die Erfolgschancen im Leben erhöhen. Viele Lerninhalte empfin den sie als nutzlos; oft zu recht. Hier ist Reformbedarf, genauso wie bei der Durchsetzung von mehr schulischer Demokratie. Schülerinnen und Schülern Ver antwortung für die Gestaltung des Schulalltags und auch des Unterrichts zu übertra gen, fördert die Persönlichkeitsentwicklung und ist der wichtigste Präventionsbeitrag gegen Gewalt und Extremismus. Wie ist das gemeint? Im Kampf gegen Gewalt und andere Formen asozialen Verhal tens können Appelle und Aktionen zwar Denkanstöße geben; nachhaltige Fortschritte bringen sie nicht. Nur die geduldige Aufarbeitung von Konflikten in der Schule (und natürlich auch zu Hause) mit den Kindern und Jugendlichen kann Werte und Ein sichten in die Rechte anderer vermitteln! Dabei zählen, wie wir es von uns selbst wissen, weniger die Argumente von Eltern oder Lehrern, sondern vor allem die Ar gumente Gleichaltriger. Hier finden wir auch einen Grund, weshalb in den letzten drei Jahren in Brandenburg die Gewaltbereitschaft Jugendlicher und die Anzahl von Gewaltaktionen an Schulen zurückgegangen sind und nicht über dem Niveau von 1993 liegen: Immer mehr Jugendliche schauen bei Gewaltaktionen anderer nicht mehr weg und beziehen offen Stellung dagegen; wir kommen im Kapitel 8 darauf zu rück. Während die Eindämmung von Jugendgewalt anscheinend erfolgreich gelungen ist, lassen Erfolge im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und politischen Extremismus noch auf sich warten. Gewalt in der Schule oder im Wohnumfeld ist unmittelbar als Bedrohung erfahrbar; wer Angst hat, braucht nicht überzeugt zu werden, etwas gegen Gewalt zu unternehmen. Die Gefahren von Rassismus und politischem Extremismus erschließen sich nicht jedem so unmittelbar. Um sie zu erkennen, bedarf es politisch historischer Aufklärung und eines offenen, streitbaren Diskurses, wohl auch einer differenzierten DDR-Aufarbeitung. In dieser Hinsicht scheint Brandenburg ein Ent wicklungsland zu sein. Die zuweilen fehlende Diskussionsbereitschaft und -erfahr ung der "Autoritäten" zu Hause und in der Schule, der Eltern und der Lehrer, spüren auch die Jugendlichen. Beispielsweise sprechen brandenburgische Jugendliche mit ihren Eltern kaum über jüdische Kultur und Geschichte, im Gegensatz etwa zu nord rhein-westfälischen Jugendlichen. Und so werden die in den letzten drei Jahren ge stiegene Ausländerfeindlichkeit in Brandenburg wie auch der nicht gesunkene Rechtsextremismus von der Sprachlosigkeit vieler Eltern mitverursacht. Wie steht es mit der Orientierung und Unterstützung durch die Eltern? In Branden burg meinen deutlich mehr Jugendliche als in Nordrhein-Westfalen: "Unsere Eltern sind nicht da, wenn man sie braucht; wir müssen mit unseren Problemen selbst klar- 6 kommen!" Die Verfügbarkeit der Eltern hat 1993 mit der Zunahme wirtschaftlicher und beruflicher Belastungen deutlich abgenommen und ist seitdem trotz der wirt schaftlichen Stabilisierung der meisten Familien nicht wieder gewachsen. Dem un veränderten Anteil von Eltern, die ihre Kinder prügeln und durch unangemessen strenge Kontrolle einengen, steht ein wachsender Anteil von Eltern gegenüber, die ihre Kinder gar nicht mehr kontrollieren. Es drängt sich der Verdacht auf, wir haben es ebenso mit problematischen Eltern wie mit problematischen Jugendlichen zu tun. Die Jugendforschung bietet also viele unerwartete (und zuweilen auch erfreuliche) Befunde. Doch es gibt Anlaß zur Besorgnis: Erstens finden wir gerade in der Gruppe der 12- bis 14jährigen eine zunehmende Gewaltbereitschaft und starke Tendenzen zum Rechtsextremismus. Zweitens gibt es "Polit-Hooligans", die hoch gewalttätig sowie in der Regel bewaffnet und männlich sind, meist rechtsextreme Ansichten vertreten und bei ihren Eltern weder Unterstützung noch Kontrolle finden. Mit viel Spaß, aber ohne Angst, Mitgefühl und Nachdenken über mögliche Folgen ihrer Ge walt drangsalieren sie in Cliquen ihre Opfer. Gegen diese Täter kann nur erfolgreich eingeschritten werden, wenn man Entwicklungsförderung mit polizeilicher Repressi on und Strafe verbindet. Drittens sind rechtsextreme Jugendliche immer stärker be reit, sich in politischen Organisationen zu engagieren. Und schließlich ist der Zukunftsoptimismus der Landesjugend in den letzten drei Jahren deutlich zurückge gangen. Ein Optimum an Selbstüberschätzung und das Gefühl, des eigenen Glückes Schmied zu sein, bilden aber wichtige Voraussetzungen für den Lebenserfolg. Der vorliegende landesrepräsentative Forschungsbericht soll Schlaglichter auf aus gewählte Themen und Lebensbereiche werfen, die Jugendliche in Brandenburg be treffen. Der breite forschungsmethodische Ansatz verhindert an mancher Stelle eine detailliertere Beschreibung und ein tieferes Eindringen in einzelne Ursachenstruktu ren abweichenden oder kriminellen Verhaltens. Trotzdem, so hoffen wir, lassen sich viele Ansatzpunkte für weiterführende Diskussionen und vor allem zielgruppenori entierte, innovative Präventionsangebote finden. Es gilt all denen zu danken, die zum Gelingen des Projekts "Jugend in Brandenburg 1999" beitrugen und dieses Buch er möglichten. Dazu gehören die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Leitungsteams der einbezogenen Schulen. Sie alle haben uns, trotz vieler belastender Routinen des Schulalltags, jede Unterstützung gewährt und die Datenerhebung erleichtert. Den Autoren sei für die einzelnen Beiträge, Bianca Großmann und Anke Maschke für die Datenerhebung, Reinhard Schrul für die Datenaufbereitung und Ellen Bittersmann für die redaktionellen Arbeiten herzlich gedankt. Besonderer Dank gebührt auch Prof. Dr. Wolfg ang Edelstein (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin) und Prof. Dr. Hajo Funke (FU Berlin) für ihre konstruktiven kritischen Hinweise. Schließlich trug Detlef Landua durch seine kompetente fachliche Mitarbeit an allen Beiträgen und die Erledigung der Lektoratsarbeiten einen bedeutsamen Teil zu die sem Buch bei. Dietmar Sturzbecher August, 2000 7 Inhalt Dietmar Sturzbtf!cher und Detle!L andua 1 Ostdeutsche Jugendliche im Spiegel sozial wissen- schaftlicher Forschung... ..................... ................... ....... ...... .............. 11 1.1 Einführung............................................................................................... 11 1.2 Jugend in den neuen Bundesländern - ein Forschungsüberblick ............ 13 1.3 Die Studie "Jugend in Brandenburg" .................................. ...... .............. 18 1.4 Methodischer Rahmen........... ......... ......................................................... 23 1.5 Erläuterungen zum methodischen Instrumentarium................................ 27 1.6 Zusammenfassung aktueller Befunde und Inhaltsübersicht.. .................. 28 Dietmar Sturzbecher und Susanne Wurm 2 Jugend in Ostdeutschland: Wertorientierungen, Zukunfts erwartungen, Familienbeziehungen und Freizeitcliquen .......... 33 2.1 Sozialer Wandel, Familie und Persönlichkeitsentwicklung -eine Einführung............................................................................................... 33 2.2 Problemstellung....................................................................................... 44 2.3 Methodische Bemerkungen ..................................................................... 46 2.4 Wertorientierungen, Kontrollüberzeugungen und Zukunftserwartungen. ........ ............. ........... ............................... ............... 46 2.5 Soziale Netze ........................................................................................... 62 2.6 Fazit ......................................................................................................... 81 Dietmar Sturzbecher, Delle!L andua und Matthias Heyne 3 Politische Einstellungen und Rechtsextremismus unter ostdeutschen Jugendlichen .................................................... 85 3.1 Problemstellung....................................................................................... 85 3.2 Methodische Bemerkungen ..................................................................... 87 3.3 Untersuchungsergebnisse ........................................................................ 88 3.4 Fazit ......................................................................................................... 118 Ronald Freytag 4 Antisemitismus .................................................................................. 120 4.1 Wurzeln der Judenfeindschaft - eine Einfiihrung .................................. 120 4.2 Problemstellung....................................................................................... 128 4.3 Methodische Bemerkungen ..................................................................... 129 4.4 Untersuchungsergebnisse ........................................................................ 131 4.5 Fazit......................................................................................................... 149 9 Detle!L andua, Dietmar Sturzbecher und RudolfWelskop! 5 Ausländerfeindlichkeit unter ostdeutschen Jugendlichen ........................................................................................ 151 5.1 Problemstellung....................................................................................... 151 5.2 Theoretische Überlegungen ..................................................................... 156 5.3 Methodische Bemerkungen ..................................................................... 161 5.4 Untersuchungsergebnisse ........................................................................ 163 5.5 Fazit ......................................................................................................... 184 Rudolf Welskop! und Anke Maschke 6 Freizeitangebote aus der Sicht von Jugendlichen in Brandenburg .................................................................................... 186 6.1 Problemstellung ................................................................. .......... ........... 186 6.2 Methodische Bemerkungen..................................................................... 187 6.3 Untersuchungsergebnisse ..... .... .............................................................. 188 6.4 Fazit ......................................................................................................... 209 Manfred Leiske, Dietmar Sturzbecher und Jan-Gerrit Keil 7 Soziale Schulqualität aus der Sicht von Jugendlichen in Brandenburg .......................................................... 210 7.1 Problemstellung....................................................................................... 210 7.2 Theoretische Bemerkungen..................................................................... 211 7.3 Methodische Bemerkungen ..................................................................... 216 7.4 Untersuchungsergebnisse .......... ...... ......................... .............. ................. 218 7.5 Fazit ......................................................................................................... 246 Dietmar Sturzbecher, Detle!L andua und Hossein Shahla 8 Jugendgewalt unter ostdeutschen Jugendlichen ......................... 249 8.1 Problemstellung....................................................................................... 249 8.2 Theoretische Bemerkungen ..................................................................... 251 8.3 Methodische Bemerkungen ..................................................................... 261 8.4 Untersuchungsergebnisse ....................................................................... 266 8.5 Fazit ......................................................................................................... 298 Literatur................................................................................................. 301 Anhang .................................................................................................. 322 10 1 Ostdeutsche Jugendliche im Spiegel sozialwissen schaftlicher Forschung Dietmar Sturzbecher & Detle!L andua 1.1 Einführung Wenn von "der heutigen Jugend" die Rede ist, erwartet man Negativschlagzeilen. Das Vorurteil, daß die Nachfolgegeneration zunehmend unzuverlässig, arbeitsscheu, kulturlos oder auch gewalttätig sei, läßt sich bei Autoren der Antike oder Shake speare genauso nachlesen wie in den aktuellen Tageszeitungen. Woher stammen der artige Überzeugungen, wodurch werden sie am Leben erhalten? Viele Gründe lassen sich anführen: In den Medien sichern "schlechte Nachrichten" gute Umsatzzahlen; Sozialarbeiter müssen leider die Finanzierung ihrer unzweifelhaft dringend notwen digen Tätigkeit immer wieder durch besorgniserregende "Fakten" legitimieren ... Trotzdem geraten die meisten Vertreter jugendkritischer Meinungen regelmäßig in Beweisnot, wenn man sie nach dem zeitlichen Bezugspunkt oder Vergleichsdaten aus dem angeblich goldenen Zeitalter mit der vorbildlichen Jugendgeneration fragt. Dem Diskurs über "die heutige Jugend" fehlt also meist die faktische Grundlage. Dies gilt nicht nur für die Jugendkritiker, sondern auch für die unverbesserlichen Optimisten mit der Überzeugung, die Jugend "war schon immer so" und man müsse bei den "schwarzen Schafen" nur ein wenig warten, bis die wachsende Lebenserfah rung die Zeit der Jugendsünden beendet. Sicher, die entwicklungspsychologische Resilienz-Forschung bietet eine Fülle von Ergebnissen, nach denen Jugendliche sich trotz widrigster Entwicklungsbedingungen und krimineller Episoden im Jugendalter zu verantwortungsbewußten und erfolgreichen Mitbürgern entwickelt haben (Festin ger, 1983). Diese Forschungsergebnisse markieren aber auch notwendige Vorausset zungen und protektive Mechanismen im gesellschaftlichen Entwicklungskontext, die zu derartigen Wandlungen führen (Garmezy, 1991; Rutter, 1989); wir kommen dar auf zurück. Beides, das notwendige Aufräumen mit Klischees über die Jugend wie auch das notwendige Schaffen von unterstützenden Entwicklungskontexten für Risi kogruppen sind gute Gründe für eine angewandte Jugendforschung, die Jugendliche nach ihrer Lebenssituation und ihren Befindlichkeiten fragt. Wir haben die Jugendlichen in Brandenburg nach ihrer Lebenssituation sowie nach ihrem Erleben von Jugendgewalt, politischem Extremismus und Ausländerfeindlich keit befragt und dabei Ergebnisse gefunden, die kaum zu den eingangs genannten Negativschlagzeilen passen. Das provoziert Widerspruch, und deshalb wollen wir auch zunächst diskutieren, was solche Befragungsdaten leisten können und wo ihre Grenzen liegen. Betrachten wir dazu als Beispiel einen tabellarischen Überblick über die selbst berichteten Delikthäufigkeiten 12- bis 19jähriger brandenburgischer Ju gendlicher im Bereich "Jugenddelinquenz". Dabei fällt auf, daß meist eine große Mehrheit von Jugendlichen die aufgeführten Delikte im Laufe des letzten Jahres gar nicht begangen hat. 11 Tab. 1: Jugenddelikte in Brandenburg -1999 (Angaben in %) Ich habe/bin in den letzten Nein, !ar nicht Ein-oder zweimal Dreimal + öfter 12 Monaten ... Männl. Weibl. Männl. Weibl. Männl. Weibl ... die Schule geschwänzt. 66,8 64,3 21,2 25,9 12,0 9,8 ... ohne Führerschein gefahren. 57,3 74,9 17,6 15,3 25,1 9,7 ... unter Alkohol gefahren. 79,6 95,4 13,9 3,6 6,5 0,9 ... jemanden verprügelt. 77,6 90,5 18,1 8,3 4,3 1,2 ... etwas geklaut. 69,7 75,7 22,5 18,2 7,8 6,1 ... Drogen probiert . 74,4 76,3 13,1 13,2 12,5 10,6 ... an Gewaltaktionen gegen andere Gruppen teilgenommen . 82,2 94,0 12,4 4,5 5,3 1,6 ... Ärger mit der Polizei gehabt. 71 1 890 23,0 9,5 59 1,5 Allerdings existiert eine bemerkenswert große Gruppe von Jugendlichen, die gele gentlich oder öfter die Schule schwänzt. Das Führen von Kraftfahrzeugen ohne den Besitz eines Führerscheins räumt ein Drittel der Jugendlichen ein; die Nutzung eines Kraftfahrzeugs unter Alkoholeinwirkung im letzten Jahr gibt etwa jeder zehnte Be fragte zu. Jeweils rund ein" Viertel der Jugendlichen hat im letzten Jahr etwas "ge klaut" oder Drogen "ausprobiert". Rund 20 Prozent der Jugendlichen, vor allem Jun gen, wurden "erwischt" und haben Ärger mit der Polizei bekommen; allerdings hat ein nicht unerheblicher Anteil zwar strafbare Handlungen begangen, aber dennoch keinen Ärger mit der Polizei gehabt, was aus amtlicher Sicht in den Bereich der "Dunkelziffer" gehört. Hier genau liegen die Erkenntnismöglichkeiten sogenannter "Dunkelfeldstudien", zu denen auch unsere Studie gehört. Zwar bieten Dunkelfeldstudien keinen Aufschluß über die psychologischen Hintergründe von Delikten einzelner Jugendlicher, daftir aber einen umfassenden Überblick über Einstellungs- und Verhaltensmuster ganzer Bevölkerungsgruppen. Im Gegensatz zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfas sen Dunkelfeldstudien nicht nur die "angezeigten" Tatverdächtigen, sondern alle Ju gendlichen, die ein begangenes Delikt berichten bzw. "zugeben". Wenn man die Erhebungsbedingungen so gestaltet, daß die Repräsentativität der Stichprobe und die Anonymität gewährleistet sind (man also mit Delikten weder prahlen noch dafiir zur Verantwortung gezogen werden kann), ermöglichen Dunkelfeldstudien eine bessere Einschätzung des Gesamtausmaßes von Jugenddelinquenz, der Risikogruppen und der Präventionsmöglichkeiten als die PKS oder qualitative Studien. Dies sei an ei nem Beispiel illustriert. Betrachten wir die Altersgruppe der 14- bis 17jährigen, so zeigt die PKS bei Diebstahlsdelikten (incl. Raub) einen Anteil von Tatverdächtigen von sechs Prozent; ein sehr kleiner Anteil. Daraus zu schlußfolgern, daß die Abnei gung Jugendlicher gegen Diebstahlsdelikte groß und Präventionsmaßnahmen über flüssig seien, ist jedoch falsch; rund 30 Prozent der Altersgruppe haben im letzten Jahr entsprechend unserer Dunkelfeldstudie etwas "geklaut". Ähnlich verhält es sich mit Drogendelikten als weitere Art von typischen Kontrolldelikten: Der Anteil der Tatverdächtigen (incl. Cannabis-Verstöße) beträgt nur 1,7 Prozent, aber 25,6 Prozent der Jugendlichen sagen, sie hätten im letzten Jahr "Drogen probiert". 12

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.