Conditio Judaica 52 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des »Fin de Siecle« Herausgegeben von Sarah Fraiman-Morris Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-65152-0 ISSN 0941-5866 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren Inhalt Sarah Fraiman-Morris Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des Fin de Siecle. Vorwort 1 Jakob Hessing Die langen Wurzeln des Jungen Wien 5 Robert S. Wistrich Karl Kraus - Prophet or Renegate? 15 Hanni Mittelmann »... durch die Kunst unsere Schmerzen in lauter Blumen verwandeln.« Theodor Herzls Philosophische Erzählungen 33 Sarah Fraiman-Morris Richard Beer-Hofmanns Suche nach der Transzendenz: »Schlaflied fur Mirjam« und »Der Tod Georgs« 51 Mark H. Gelber Interfaces between Young Vienna and the Young Jewish Poetic Movement. Richard Beer-Hofmann and Stefan Zweig 61 Jacob Golomb Stefan Zweig's Tragedy as a Nietzschean Grenzjude 75 Jeffrey B. Berlin Arthur Schnitzler's Unpublished Memoir Urheberrecht und geistiges Eigentum. With Commentary about his Views on Copyright Laws 95 Shimon Levy Von Schnitzler bis Turrini. Meilensteine auf dem Weg des österreichischen Theaters in Israel 123 Autoren des Bandes 133 Personenregister 135 Sarah Fraiman-Morris Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des Fin de Siecle Vorwort Die Kunst im Wien des Fin de Siecle bezaubert einerseits durch ihre ästheti- sche Qualität - am auffallendsten ist dies wohl bei gewissen Gemälden Gustav Klimts mit ihrem reichen Goldschimmer und den prächtig leuchtenden Farben. Auch über der Literatur liegt dieser ästhetische Glanz, der bis in die Zeitungen hineindringt in die polierten Feuilletons, welche wie schillernde Seifenblasen den nüchternen Seiten entsteigen. Andererseits kennzeichnet das Wien der Jahr- hundertwende eine Neigung zur Tiefe, die sich in Freuds Psychoanalyse, in der Musik Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs manifestiert.1 Nicht weniger als die Musik Schönbergs oder gewisse literarische Erzeugnisse Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals beunruhigen die Bilder Egon Schieies und Arnold Schönbergs, deren Symbolik sich mit existentiellen Fragen beschäftigt und tie- fenpsychologische Problemkreise berührt.2 Diese Dichotomie zwischen Ästhe- tisch-Äußerlichem und Ethisch-Innerlichem, letzteres als Suche nach irdischer oder nach ewiger Wahrheit, charakterisiert die Geisteshaltung des Fin de Siecle. Trotz oder gerade wegen der permanenten Krisensituation der untergehenden Habs- burgermonarchie erwies sich das »Wien um 1900« als ein kreatives Milieu, in dem nicht nur das literarische, musikalische und künstlerische Formenrepertoire der Mo- derne ausgearbeitet bzw. fortentwickelt wurde, sondern auch wesentliche Erkennt- nisfortschritte in der Wissenschaft [...] erzielt wurden.3 Die Hochblüte kultureller Leistungen im Wien um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, deren hervorragendste Künstler wie Gustav Mahler und Arnold Schönberg in der Musik, Gustav Klimt und Egon Schiele in der Malerei, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig in der Literatur 1 Ruth HaCohen zieht Parallelen zwischen Freuds Psychoanalyse und Schönbergs Mu- sik in: Reflections and Inflections of the Transfiguring Self. In: Österreich-Konzeptio- nen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahr- hundert. Hg. von Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas. Tübingen: Niemeyer 2001 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur und Kultur- geschichte; 35), S. 115-140, hier S. 119-124. 2 Milly Heyd vergleicht Schieies Malerei, »the deep psychological insights Schiele expresses through the body«, mit »Freud's theoretical studies« (Egon Schiele and Arnold Schönberg. Light within the Dissonance. In: Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis [Anm. 1], p. 87-114, hier S. 86. 3 Mittelmann / Wallas, Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis (Anm. 1), S.5. 2 Vorwort und Sigmund Freud in der Psychoanalyse weltbekannt wurden, war nach Jakob Hessing (»Die langen Wurzeln des Jungen Wien«) das Resultat der österreichi- schen Identitätslosigkeit. Diese Auflösung traditioneller österreichischer Identi- tät4 zog ein »fließend und unbestimmt«-Werden auch der jüdischen Identität nach sich. »Das Judentum wurde zu einer Suche, zu einer ständigen Selbstbefra- gung und zu einer fortgesetzten Erfindung.«5 Bekanntlich war ein Großteil der Kulturträger im Wien des Fin de Siede jüdisch.6 »Jewish genius flourished as never before in Viennese music, theatre, literature, the social sciences, medicine, psycho-analysis, physics, chemistry and biology.« (Robert Wistrich: »Karl Kraus: Prophet or Renegade?«, S. 15) Mark Gelber (»Interfaces between Young Vienna and the Young Jewish Poetic Movement«) zeigt die Korrelationen zwischen den literarischen Gruppen Junges Wien und jungjüdische Dichtung·, Richard Beer- Hofmann und Stefan Zweig veröffentlichten in Publikationen beider Gruppen. Der vorliegende Band diskutiert Aspekte der Auseinandersetzung österrei- chisch-jüdischer Denker und Dichter des Fin de Siecle mit ihrer jüdischen Identi- tät, sei es in positiver (Richard Beer-Hofmann, Theodor Herzl) oder eher in negativer Weise (Stefan Zweig, Karl Kraus). Dabei bestehen trotz aller Gegen- sätzlichkeit Konstanten bei ihnen allen, welche sich auf ihre jüdischen Wurzeln zurückfuhren lassen: eine moralische Bewusstheit und Verantwortlichkeit. Robert Wistrich legt komplexe und tiefliegende Motive hinter Karl Kraus' offensichtlichem jüdischen Selbsthaß frei: eine moralische Rigorosität und Integrität, welche sich gegen die moralische Seichtheit und die Verkommerzia- lisierung der modernen Realität richtet, für die Kraus (allerdings ungerechter- weise) die Juden Wiens verantwortlich macht. Kraus versuchte, sich unter allen Umständen von dieser ihm typisch jüdisch erscheinenden Dekadenz zu distanzieren, indem er sich von allem Jüdischen in und um sich lossagte. Die- ser sein Kampf gegen das moderne Judentum wurzelte paradoxerweise in biblischen Werten wie der Liebe zur Wahrheit und in einer seriösen Moralität.7 Hanni Mittelmann (»...durch die Kunst unsere Schmerzen in Blumen verwan- deln«) demonstriert anhand der philosophischen Erzählungen Herzls (zwischen 1890 und 1900) den Prozeß der Wandlung von Herzls jüdischem Selbstver- ständnis: vom Ablehnen zum Akzeptieren nicht nur seines Jüdischseins, sondern auch einer damit verbundenen Aufgabe. Die Bereitschaft zum Übernehmen der zionistischen Aufgabe, zum Einsetzen seines Lebens für eine gerechtere Welt, reflektiert sich in Herzls späteren Erzählungen. (Wie geprägt Herzl allerdings 4 Vgl. ebd., 6. 5 Jacques Le Rider: Modernite viennoise et crises d'identite. Paris: Presses Universi- taires de France 1990; dt.: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1990, S. 284. 6 Harry Zohn: Fin-De-Siecle Vienna. In: The Jewish Response to German Culture. From the Englightement to the Second World War. Ed. by Jehuda Reinharz. Hanover, Lon- don: University Press ofNew England 1985, S. 137-149, hier S. 139. 7 Nach Harry Zohn hatte Kraus »a Jew's burning sense of justice [...], a Jew's quest for truth in human relationships as well as in literature« (ebd., S. 144). Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des Fin de Siecle 3 von seiner österreichischen Herkunft war, zeigt sich in seiner Vision des Ju- denstaates als Ableger der europäischen Welt und Kultur.) Beer-Hofmanns Suche nach der Transzendenz (Sarah Fraiman-Morris) be- deutet das gleiche Streben, allerdings auf einer metaphysischen Ebene. Beer- Hofmann macht die auch bei Schönberg sichtbare Wendung von einem für das Fin de Siecle typischen Ästhetizismus zu ethisch-metaphysischen Fragen. Beer- Hofmann findet zu einem echten Glauben an einen gerechten Weltenschöpfer und zugleich zu einem Bekenntnis zum diese Werte vertretenden Judentum. Auch Stefan Zweigs bekanntes »Mittlertum«, sein Pazifismus, sein Glauben an Verstehen und Toleranz zwischen den Nationen im Sinne des Humanisten Erasmus von Rotterdam ist auf eine zutiefst moralische Weltsicht gegründet. Jacob Golomb (»Stefan Zweig's Tragedy as a Nietzschean Grenzjude«) zeigt, wie Zweigs Versuch, als »freier Geist« im Sinne Nietzsches (der das Junge Wien und die Kunst des Fin de Siecle stark beeinflußt hatte) zu leben, zum Unterschät- zen des Wertes seiner jüdischen Wurzeln führte, welche ihm zur Zeit des Zwei- ten Weltkrieges und seines damit verbundenen Exils einen dringend nötigen inneren Halt hätten bieten können. Und dies, obwohl Zweig um die Jahrhun- dertwende, im Wien des Fin de Siecle von Herzl als Dichter entdeckt, als einer der wenigen Dichters Jung Wiens mehrere literarische Werke jüdischen Inhalts in jungjüdischen Publikationen veröffentlicht hatte (Gelber, Interfaces). Arthur Schnitzlers moralisches Engagement manifestiert sich wie in vielen seiner literarischen Werke auch in seinem Kampf gegen die Verletzung des literarischen Urheberrechts nicht nur für seine eigenen Werke, sondern ebenso für die anderer. Nach Jeffrey Berlin (»Arthur Schnitzler's Unpublished Mem- oir Urheberrecht und geistiges Eigentum«) »Schnitzler maintained that he had a moral obligation to protect future writers from the same pitfalls he had run into.« (S. 102). Schnitzlers Absicht war es, »[...] im Interesse der gesamten Schriftstellerwelt gegen die ungeheuerlichen Mißstände vorzugehen, unter denen ja nicht ich allein, sondern so manche andere deutsche Schriftsteller zu leiden haben« (S. 104). Ähnlich Arnold Schönberg und Egon Schiele, beide Maler, Schiele auch Dichter und Schönberg Musiker und Dichter, waren mehrere der hier analy- sierten jüdischen Kulturträger interdisziplinär tätig - eine dem Fin de Siecle, welches das Gesamtkunstwerk anstrebte, charakteristische Eigenschaft. Der Polemiker, Kritiker und Dichter Karl Kraus war im Grunde Moralist und Pro- phet im alttestamentlichen Sinn, ein moderner Jeremias (Wistrich, S. 30), des- sen hohe moralische Anforderungen an sich und an die Welt allerdings zu Absurditäten und ungerechten Urteilen vor allem den Juden gegenüber führten. Der Journalist Theodor Herzl sah sich, bevor er zum Politiker wurde, als Dich- ter und suchte den Anschluß an den literarischen Kreis Jung Wien} Jacob 8 Siehe Herzl-Briefe. Hg. und eingeleitet von Manfred Georg. Berlin, Leipzig: Bran- dus 1935, S. 42; Alex Bein: Theodor Herzl. Biographie. Wien: Fiba 1934 (Nach- druck: Frankfurt a. M.: Ullstein 1983), S. 86; Jeffrey B. Berlin. The Unpublished 4 Vorwort Golombs Beitrag demonstriert Stefan Zweigs tiefe Beeinflussung durch die Philosophie Nietzsches, welche sein Denken, sein Selbstverständnis und damit den Gang seines Lebens bestimmte. Jeffrey Berlin zeigt eine bisher unbekann- te Seite des Arztes und Dichters Arthur Schnitzler, seine Beschäftigung mit juristischen Fragen in seinem Kampf um ein Implementieren des geistigen Urheberrechts. Das Wien der Jahrhundertwende war auch die Brutstätte von Ideologien wie dem Rechtsradikalismus, welcher zum Untergang des deutschen und österreichi- schen Judentum fuhren sollte. Palästina, ab 1948 Israel wurde zu einem neuen kulturellen Zentrum des Judentums mit Hebräisch als seiner alt-neuen Sprache. Shimon Levy (»Von Schnitzler bis Turrini: Meilensteine auf dem Weg des österreichischen Theaters in Israel«) verfolgt die Auffuhrungen von österreichi- schen Theaterstücken im heutigen Israel und ihre unterschiedliche Rezeption in Herzls zur Wirklichkeit gewordenem »Judenstaat«. Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf eine interdisziplinäre Konferenz über Kunst und Kultur des Fin de Siecle im November 2002 an der Hebräischen Universität Jerusalem, initiiert und organisiert von Dr. Sarah Fraiman-Morris, veranstaltet vom Zentrum fur Österreich-Studien (Center for Austrian Studies) und unterstützt auch von der Richard Beer-Hofmann Foundation. Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Jacob Golomb, dem Direktor des Zentrum für Österreich-Studien, der diese Konferenz ermöglichte, sowie Frau Alma Lessing für ihre Mithilfe bei der Organisation bis ins kleinste Detail. Wir danken auch Prof. Dr. Hans Otto Horch fur die Veröffentlichung dieses Bandes in der Reihe Conditio Judaica und Herrn Till Schicketanz für die redaktionelle Betreuung. Letters of Richard Beer-Hofmann to Hermann Bahr (with the Unpublished Letters between Beer-Hofmann and Herzl). In: Identity and Ethos. A Festschrift for Sol Lip- tzin on the Occasion of his 85. Birthday. Ed. by Mark H. Gelber. New York u. a.: Lang 1986, S. 134; Arthur Schnitzler / Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel 1891- 1931. Hg. von Konstanze Fliedl. Wien: Europa 1992, S. 72; Hugo von Hofmanns- thal / Arthur Schnitzler Briefwechsel. Hg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitz- ler. Frankfurt a. M.: Fischer 1964, Brief vom 27. März 1895.