Manfred Rühl Journalistik und Journalismen im Wandel Manfred Rühl Journalistik und Journalismen im Wandel Eine k ommunikations- wissenschaftliche Perspektive Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Barbara Emig-Roller | Eva Brechtel-Wahl VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesond ere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel, Essenheim Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17867-7 Inhalt 5 Inhalt Vorwort..........................................................................................................9 Erster Teil: Gegenwärtige Journalistikbemühungen..............................13 1 Vorwissenschaftliches Expertenwissen...............................................14 2 Erkenntnishindernisse einer Journalistiktheorie...................................21 2.1 Subjekttheorien....................................................................................22 2.2 Medientheorien....................................................................................25 3 Kommunizieren und Publizieren – historische Leitkonzepte...............34 4 Diskurse über Journalismus, Gesellschaft und Staat............................39 5 Ist die „empirische Kommunikationsforschung“ journalistiktauglich?............................................................................48 6 Journalistik als Wissenschaft konstituieren.........................................53 Zweiter Teil: Wege zu einer Theorie der Journalistik.............................59 1 Aristoteles: Agora-Kommunikation in Polis-Strukturen......................62 2 Klosterkommunikation: Organisiertes Beten, Arbeiten, Schweigen, Schreiben, Lesen..............................................................66 3 Nürnberg: Kommunizieren und Publizieren in der Reichsstadt um 1500...............................................................................................72 4 Théophraste Renaudot: Persuasion, Manipulation und organisiertes Helfen.............................................................................84 5 August Ludwig Schlözer – Joachim von Schwarzkopf: Zur Produktion und Rezeption aufklärender Zeitungen......................90 6 Inhalt 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Redaktions- und Verlagsmanager einer „staatsdienstlichen“ Tageszeitung.................101 7 Robert Eduard Prutz: Journalismus und Demokratie – zwei Seiten eines Entwicklungsprodukts..........................................108 8 Albert Schäffle – Karl Bücher: Journalismus in der Verfassungsgesellschaft....................................................................114 9 Robert Ezra Park: Recherchieren im Soziallabor Chicago................133 Dritter Teil: Schlüsseltheorien einer kommunikationswissenschaftlichen Journalistik...................................143 1 System/Mitwelt-Erkenntnistheorie....................................................146 2 Funktional-vergleichende Methodentheorie......................................151 3 Kommunikationssysteme...................................................................157 3.1 Begriffs- und Theoriegeschichte.......................................................159 3.2 Kommunikationssysteme und die Habermas/Luhmann-Kontroverse.....................................................163 3.3 Kommunikationskulturen..................................................................172 3.4 Kommunikationsfreiheit....................................................................177 4 Öffentlichkeiten.................................................................................183 5 Organisationssemantik.......................................................................194 5.1 Organisation als Organismus und Mechanismus...............................195 5.2 Organisation als autopoietisches System...........................................198 5.3 Organisationskommunikation............................................................202 5.4 Organisatorisches Entscheiden..........................................................205 6 Marktsemantik...................................................................................207 6.1 Politisch-ökonomische Märkte..........................................................208 6.2 Sozialökonomische Märkte...............................................................210 6.3 Informationsökonomische Märkte.....................................................212 6.4 Medienökonomische Märkte.............................................................214 6.5 Märkte der Journalismen...................................................................216 7 Arbeit – Beruf – Profession – Professionalisierung...........................220 8 Selbstbeschreibung der Journalistik...................................................225 Inhalt 7 Literatur.....................................................................................................231 Stichwortregister.......................................................................................263 Vorwort 9 Vorwort Es soll einmal Zeiten gegeben haben, da hat das Wünschen noch geholfen. Damals kam ein Fräulein dahergelaufen und behauptete, eine echte Prinzessin zu sein. Die Königin wollte das nicht glauben. Es lag nahe, einen empirischen Test durchzuführen. Während eine andere Königin in einem anderen Märchen das Spiegelein an der Wand befragte, vertraute unsere Königin dem Eine- Erbse-Unter-Zwanzig-Matratzen-Und-Zwanzig-Eiderdaunen-Unterbetten-Lie- getest. Und als die Probandin miserabel geschlafen hatte, da wusste die Köni- gin – wahrscheinlich durch ihren Sechsten Sinn – dass das Fräulein eine echte Prinzessin war.1 In diesen märchenhaften Zeiten machte der Adel die Gesellschaft unter sich aus. Das Volk hatte nichts zu sagen und es gab keine Demoskopie, die da meint, des Volkes Stimme und Stimmungen messen zu können. Auch Wikipedia war unbekannt, das beansprucht, das Wissen der Welt versammeln zu können. Und niemand hatte etwas von einer Google –Mission gehört, die verspricht, sinnmachende Informationen universell machen zu können. Heute leben 6,9 Milliarden Menschen in 192 Staaten, von denen etwa zwei Drittel demokratisch verfasste Gesellschaften sind, in denen, wie es ein- gangs der US-Constitution heißt: „We the People“ zu bestimmen haben.2 Al- lerdings ist keine Demokratie perfekt. Winston Churchill relativiert: Die De- mokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – mit Ausnahme aller anderen, die bisher ausprobiert wurden.3 In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Robert Eduard Prutz davon überzeugt, dass Demokratie und Journalismus zusammengehören, als zwei aufeinander bezogene Seiten eines Entwicklungs- produkts.4 Ganz anderer Meinung waren da der Nationalsozialist Joseph Goebbels und der Sowjetsozialist Wladimir Iljitsch Lenin, die den Journalis- 1 Angelehnt an Hans Christian Andersen: Die Prinzessin auf der Erbse (Märchen) und Brüder Grimm: Schneewittchen (Märchen). 2 The Constitution of the United States of America, Preamble. 3 Winston Churchill am 11. November 1947 im britischen Unterhaus. 4 Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus, 1971 (zuerst 1845); Rühl: Publizieren, 1999: 162-167. 10 Vorwort mus in den Dienst ihrer einheitsparteilichen Agitation und Propaganda stellen wollten. Joseph Goebbels: „Die Presse muss in der Hauptsache von Agitatoren der Feder ge- schrieben werden, so wie die öffentliche Propaganda der Partei selbst von Agitato- ren des Wortes betrieben wurde.“5 Wladimir Iljitsch Lenin: „Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator.“6 Komplementär zum demokratischen Journalismus entstanden im 19. Jahr- hundert sorgfältig lektorierte und redigierte Konversationslexika, 1809-1811 der Brockhaus, dann der Meyer, der Herder und weitere, zur „Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse […] für die Befriedigung und Förderung der allgemeinen Bil- dung“.7 Das Konversationslexikon hatte einen Vorläufer, das Glossar, wie Kaspar Stieler eines dem Buch Zeitungs Lust und Nutz (1695) anhängt, als Lesehilfe für die „in den Zeitungen gemeiniglich vorkommenden fremden und tunkeln Wörter“.8 Seit einem halben Jahrhundert emergiert eine kommunikationswissen- schaftliche Journalismusforschung, die mit System-, Organisations-, Ent- scheidungs- und Gesellschaftstheorien operiert.9 Journalistik ist zwischen- zeitlich ein attraktives Studienfach geworden, dem freilich besondere intellektuelle Energien für eine Grundlagenforschung weithin fehlen. Rotie- ren amerikanische Lehrbücher der Kommunikationswissenschaft um Begrif- fe und Theorien der Kommunikation,10 dann setzen deutschsprachige Lehr- bücher weithin auf Journalismusbegriffe des Commonsense. Damit ist keine wissenschaftspraktische Journalistik zu betreiben – eher eine Praxis, die A- ristoteles unter anderem am Schwimmen exemplifiziert.11 5 Goebbels: Kampf um Berlin, 1935: 192; zit. in Richter: Joseph Goebbels – der Journalist, 2010: 447. 6 Lenin: Womit beginnen? 1968: 11 (zuerst 1901); zit. in Dusiska: Wörterbuch der sozialisti- schen Journalistik, 1973: 114. 7 Brockhaus, 11. Auflage, 1868, Band 15: Vorrede. 8 Stieler: Zeitungs Lust und Nutz, 1969: 173 (zuerst 1695). 9 Überblicke in Löffelholz: Theorien des Journalismus 2004; Rühl: Theorie des Journalismus, 2004; Löffelholz/Weaver: Global journalism research, 2008. 10 Craig/Muller: Theorizing communication, 2007; Littlejohn/Foss: Theories of human communica- tion, 2007. 11 Rühl: Kommunikationskulturen der Weltgesellschaft, 2008: 15. Vorwort 11 Mit der Journalistik beabsichtigt die Studie eine wissenschaftliche Theorie anzubieten, in der jeder Journalismus der Journalismus einer theoretisch be- stimmbaren Gesellschaft ist. Im Ersten Teil wird die gegenwärtige Journalis- musforschung diskutiert. Der Zweite Teil ist historischen Kommunikati- on/Gesellschafts-Fallstudien gewidmet, die bedeutsame Entwicklungsphasen der Theorienarchitektur der Journalistik darstellen. Statt einer journalistischen Universaltheorie stellen wir im Dritten Teil Schlüsseltheorien vor, die sich in unterschiedlichen Kombinationen eignen können, Probleme der Journalismen von Fall zu Fall besser als bisher zu erklären. Es entsteht noch keine Journalistik, wenn ein Erfahrungsgelände abge- steckt und durch viele empirische Einzelstudien umgegraben wird, und dar- aufhin Schilder aufgehängt werden, auf denen „Zukunftsjournalismus“ oder „Journalismusende“ steht. Den Biographien unsystematisch ausgewählter Wissenschaftler ist kein operatives Journalistikwissen zu entnehmen.12 Zu- sammengestellte Journalismusdefinitionen können nicht sagen, was Journa- lismus „ist“. Im Gegenteil, sie erweisen sich für analytische Forschung und Lehre als Erkenntnishindernisse [obstacles épistémologiques],13 die aufzu- räumen sind [mop-up work].14 Zu beseitigen ist ferner eine durchgehende Kluft in der deutschen Journalismusforschung, die zwischen einer normativ- wertgebundenen Ideenbeschreibung und einer theorieabstinenten, empirisch- deskriptiven Befragungsforschung verläuft, ohne gesellschaftstheoretische Auseinandersetzungen zu suchen. Diese Journalismusforschung ist auf dem besten Weg zu einer Selbstprovinzialisierung. Angesichts der Hyperkomplexität globaler Ereignishaftigkeit und der konkurrierenden Persuasionssysteme (Journalismus, Public Relations, Wer- bung, Propaganda) ist grundsätzlich zu fragen: Ist eine journalistische Kommu- nikationsordnung möglich?15 Die Relativität des Wandels der Kulturen, das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Wandels gesellschaftlicher Ordnungs- strukturen machen es vordringlich, Journalismen in ihren sachlichen, sozialen und zeitlichen Dimensionen in einen vergleichenden Forschungsrahmen zu stellen. Journalismen können nicht als „soziales Totalphänomen“ vorausgesetzt werden, mit einer einzig richtigen Konzeption, die nur noch auf das richtige Gleis gestellt werden muss, um richtige Journalisten zu produzieren. Statt die 12 Meyen/Löblich: Klassiker, 2006; Meyen/Löblich: Fach erfunden, 2007. 13 Bachelard: Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 1978: Erstes Kapitel (zuerst 1938). 14 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1973: 45 (zuerst 1962). 15 Die Frage „Wie ist Ordnung möglich?“ hat Thomas Hobbes zuerst 1651 im Leviathan gestellt. Im 20. Jahrhundert wird die Frage von Max Weber, Georg Simmel, Talcott Parsons und Niklas Luhmann in Variation aufgegriffen. Siehe Luhmann: Wie ist soziale Ordnung möglich?, 1981.