JJ_Ti.B•BräunBehnke15202-5 07.08.2006 9:00 Uhr Seite 1 Thomas Bräuninger · Joachim Behnke (Hrsg.) Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie JJ_Ti.B•BräunBehnke15202-5 07.08.2006 9:00 Uhr Seite 3 Thomas Bräuninger Joachim Behnke (Hrsg.) Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungs- theorie Band 4: Schwerpunkt Parteienwettbewerb und Wahlen JJ_Ti.B•BräunBehnke15202-5 07.08.2006 9:00 Uhr Seite 4 Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . . 1.Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten ©VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2006 Lektorat:Monika Mülhausen /Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-15202-5 ISBN-13 978-3-531-15202-8 Inhalt Editorial................................................................................................................7 Jens Hainmüller, Holger Lutz Kern und Michael Bechtel Wahlkreisarbeit zahlt sich doppelt aus – Zur Wirkung des Amtsinhaberstatus einer Partei auf ihren Zweitstimmenanteil bei den Bundestagswahlen 1949 bis 1998..............................................................11 Susumu Shikano Modellgestützte Rekonstruktion und Simulation des Ergebnisses der Bundestagswahl 2005.................................................................................47 Clemens Kroneberg Die Erklärung der Wahlteilnahme und die Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes. Eine Anwendung des Modells der Frame-Selektion.........................................................................................79 Michael Herrmann, Susumu Shikano, Paul W. Thurner und Axel Becker Die Analyse von Wählerpräferenzen mit Rank Ordered Logit................113 Christian W. Martin und Thomas Plümper Instabilität von parteipolitischen Programmen: Der Einfluss der Zahl der Parteien...............................................................................................135 Steffen Ganghof Strategische Uneinigkeit? Methodische Probleme und normative Implikationen von analytischen Erzählungen über Reformblockaden.....151 Christoph Hönnige Die Entscheidungen von Verfassungsgerichten – ein Spiegel ihrer Zusammensetzung?..................................................................................179 Reinhard Zintl Der ökonomische Ansatz in der politischen Theorie – nützliches Instrument oder Prokrustesbett?...............................................................215 Autorenverzeichnis..........................................................................................231 5 Editorial Im Jahr 2007 jährt sich das Erscheinen von Anthony Downs’ An Economic Theory of Democracy zum fünfzigsten Mal. Downs’ Studie zählt längst zum Kanon der politikwissenschaftlichen Literatur, doch schon ihre unmittelbare Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte ist bemerkenswert. Entstanden als Dis- sertationsschrift unter der Anleitung von Kenneth Arrow wird die Arbeit 1957 von Harper and Brothers in New York verlegt. Kurz darauf erscheinen erste Rezensionen, die sich zwischen zähneknirschender Bewunderung und offener Ablehnung ob der Anmaßung des Ökonomen Downs, eine ökonomische Theo- rie der Regierung vorzulegen, bewegen – mitunter in einem einzelnen Satz. Downs Arbeit wird schnell so bekannt, dass Rudolf Wildemann in der Einlei- tung zur deutschen Übersetzung 1968 (erschienen bei Siebeck in Tübingen) die spöttische Frage stellen kann, ob es einer deutschen Fassung überhaupt noch bedürfe. Wie lässt sich diese Erfolgsgeschichte erklären? Downs beschäftigt sich bekanntermaßen mit zwei Fragestellungen, die in der Vergangenheit vielleicht implizit schon oft zusammen gedacht, jedoch wohl niemals zuvor in dieser Klarheit zusammen analysiert worden waren: nämlich die Frage nach den Aus- wirkungen des Wahlverhaltens der Bürger auf den Wettbewerb der Parteien und, umgekehrt, die Frage nach den Implikationen dieses Wettbewerbs auf das Wählerverhalten anderseits. Downs beschreibt damit das Verhältnis von Wähler und Parteien bzw. Kandidaten in der Demokratie als das einer strategischen Interaktion. Das bevorstehende Jubiläum dieses modernen Klassikers der Politischen Theorie stellt einen willkommenen Anlass dar, einen Blick auf neueste Entwick- lungen in der Forschung zum Wahlverhalten und Parteienwettbewerb zu werfen. Der vorliegende vierte Band des Jahrbuchs für Handlungs- und Entscheidungs- theorie widmet sich mit einem Schwerpunkt diesem Thema. Konzeptionell tritt das Jahrbuch damit in eine neue Phase. Beginnend mit diesem Band wird sich das Jahrbuch in den kommenden Folgen schwerpunktmäßig mit einzelnen aktu- ellen Fragestellungen in den Sozialwissenschaften beschäftigen. Dabei sollen insbesondere solche Themenfelder in den Blick genommen werden, bei denen die Anwendung individualistischer Handlungs- und Entscheidungstheorien als besonders vielversprechend erscheint. Darüber hinaus soll das Jahrbuch weiter- hin die Möglichkeit bieten, empirische, analytische und normative Fragestellun- gen im Bereich der Handlungs- und Entscheidungstheorien in einem interdis- 7 ziplinären Kontext zu diskutieren. Entsprechend beinhaltet der vorliegende Band weitere, außerhalb des Schwerpunktthemas liegende Beiträge, die zugleich die Bandbreite der sozialen Phänomene deutlich machen, die mit dem Instrumentarium einer mikrofundierten Handlungstheorie in die analytische Zange genommen werden können. Der erste Beitrag im Schwerpunkthema von Jens Hainmüller, Holger Lutz Kern und Michael Bechtel beschäftigt sich mit der Frage, ob eine Partei bei den Wahlen zum deutschen Bundestag auch hinsichtlich ihres Zweitstimmenergeb- nisses davon profitieren kann, dass ein Kandidat ihrer Partei den Wahlkreis bei der letzten Wahl gewonnen hat. Unter Verwendung einer Regressionsdiskonti- nuitätsanalyse zeigen sie, dass ein solcher Kontaminationseffekt bei Bundes- tagswahlen nachzuweisen ist und sogar dann auftritt, wenn der gegenwärtige Wahlkreisabgeordnete selbst nicht mehr zur Wiederwahl steht. Der Beitrag schließt mit einer Simulationsstudie, deren Ergebnisse nahe legen, dass der geschätzte Effekt des Amtsinhaberstatus unter Umständen sogar ausreichen könnte, um politisch bedeutsame Verschiebungen in der Sitzverteilung des Bundestags zu bewirken. Die Fokussierung des ersten Beitrags auf den Nachweis eines bestimmten Effekts auf das Wahlergebnis, dem der Amtsinhaberschaft, wird komplementiert durch den nachfolgenden Beitrag von Susumu Shikano, der die Rekonstruktion des Ergebnisses der Bundestagswahl 2005 zum Ziel hat. Ausgehend von neue- ren Entwicklungen in den räumlichen Modellen des Parteienwettbewerbs und der Wahlentscheidung gelingt es dem Beitrag, das Ergebnis der Wahl mit be- merkenswerter Güte zu rekonstruieren. Damit zeigt Shikano auch, wie der ratio- nalistische Ansatz durch die kluge Zusammenführung von theoretischen Model- len und empirischen Daten zu den „Randbedingungen“ einer Entscheidungssitu- ation substantielle und nicht nur marginale Erklärungskraft erzeugen kann. Clemens Kroneberg stellt in seinem Artikel eine erweiterte Version des Modells der Frame-Selektion von Hartmut Esser vor und wendet es auf die Erklärung der Wahlteilnahme an. Das Modell sagt vorher, dass der Einfluss anderer Anreize auf die Teilnahmedisposition mit zunehmender Internalisierung der Wahlnorm zurückgeht und bei sehr hohem Internalisierungsgrad überhaupt nicht mehr besteht. Diese Hypothese einer statistischen Interaktion zwischen der Wahlnorm und den übrigen Anreizen widerspricht der verbreiteten Klasse von Rational-Choice-Modellen der Wahlteilnahme, die von einer einheitlichen Nut- zenfunktion und somit von einer additiven Wirkung aller Anreize ausgehen. Der Test des Modells erfolgt in Sekundäranalysen von Daten zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen von 1995, zur Provinzwahl in British Columbia (Kanada) 8 von 1996 und zur Wahl zum kanadischen Bundesparlament von 1993. Die Ana- lysen bestätigen den Interaktionseffekt und führen zur Zurückweisung der bishe- rigen Rational-Choice-Erklärungen der Wahlteilnahme. Über den unmittelbaren Erkenntnisgewinn hinaus verdeutlicht der Beitrag, dass sich auf diese Weise die Eigenart normativen Handelns und die „Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes“ auch empirisch bestimmen lassen. Andererseits zeigen die Analysen, dass das Modell der Frame-Selektion einen analytischen Rahmen bietet, innerhalb dessen sogenannte weite Rational-Choice-Theorien nicht unmittelbar der wissen- schaftstheoretischen Kritik mangelnden Informationsgehalts ausgesetzt sind. Welche oftmals ungenutzte “Information” in den geäußerten Präferenzen von Wählern enthalten sind, verdeutlicht der Beitrag von Michael Herrmann, Susumu Shikano, Paul Thurner und Axel Becker. Die Autoren vergleichen eine – wenn nicht die – Standardvariable in der empirischen Wahlforschung, nämlich die bekannte Sonntagsfrage („Wen würden Sie wählen?”), mit einer mit Hilfe von paarweisen Vergleichen konstruierten vollständigen Präferenzordnung über alle fünf relevanten Parteien. Die Anwendung eines entsprechenden Analysever- fahrens – eines sogenannten Rank Ordered Logit Modells – erlaubt die tieferge- hende Analyse solcher ordinalen Parteipräferenzen der Wähler. Dabei wird deutlich, dass in den Parteipräferenzen relevante Informationen über die Wähler enthalten sind, die bei einer Analyse von Erstpräferenzen wie sie in der Sonn- tagsfrage zum Ausdruck kommt, verborgen bleiben. Mit der Dynamik des Parteienwettbewerbs beschäftigt sich der Beitrag von Christian W. Martin und Thomas Plümper. Sie interessiert die Frage, ob die Zunahme der Parteienzahl in einem Parteiensystem mit einer steigenden Flexibi- lität der Positionen politischer Parteien verbunden ist. Sie knüpfen damit an eine Alltagsvermutung an, die jedoch in der theoretischen Literatur zum Parteien- wettbewerb keine gesicherte Begründung hat. Mit Hilfe eines Simulationsmo- dells, in dem ideologisch bewegliche Parteien um die Stimmen von Wählern konkurrieren, leiten sie Hypothesen darüber ab, wie die Parteienzahl die Volati- lität des Parteiensystems beeinflusst. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass An- passungsreaktionen von Parteien als Reaktion auf programmatische Änderungen ihrer Konkurrenten desto größer ausfallen, je mehr Parteien um Stimmen kon- kurrieren. Welchen Einfluss der elektorale Wettbewerb auch auf die inhaltliche Aus- einandersetzung von Parteiakteuren haben kann, verdeutlicht Steffen Ganghof am Beispiel der Petersberger Steuerreformvorschläge der Regierung Kohl. Er argumentiert, dass die Nichteinigung von zwei politischer Akteuren zwei Grün- de haben kann: die tatsächliche Unterschiedlichkeit inhaltlicher Präferenzen, 9 oder aber wahlstrategische Gründe, die selbst bei hinreichender Ähnlichkeit inhaltlicher Positionen zu einer “strategischen Uneinigkeit” führen können. Die Unterscheidung zwischen diesen Arten der Uneinigkeit sei auch deshalb schwie- rig, weil die Akteure Anreize besitzen, die Uneinigkeit der jeweils anderen Seite als strategische darzustellen und damit vor den Augen der Wähler zu diskredi- tieren. Der Beitrag diskutiert nicht nur die methodischen Fallstricke, sondern auch die damit verbundene normative Problematik. Der siebte Beitrag von Christoph Hönnige untersucht in einem Vergleich von französischem Conseil Constitutionnel und deutschem Bundesverfassungs- gericht, ob die (mutmaßlichen) politischen Einstellungen von Verfassungsrich- tern einen systematischen Effekt auf ihr Entscheidungsverhalten haben. Die Ergebnisse einer Untersuchung der abstrakten Normenkontrollverfahren vor beiden Gerichten deuten darauf hin, dass etwa in Frankreich Gesetze in der Tat seltener annulliert werden, wenn Regierung und die Mehrheit der Richter der gleichen politischen Partei zuzuordnen sind. Für Deutschland ergibt sich – er- wartungsgemäß – aufgrund des konsensualen Auswahlverfahrens der Richter ein weniger deutlicher Effekt. Im abschließenden Beitrag reflektiert Reinhard Zintl über die Anwendung des ökonomischen Ansatzes in der politischen Theorie. Er zeigt, dass dieser nicht nur durch ein bestimmtes Instrument des Theoretisierens, dem stilisierten Akteur als rationalen Nutzenmaximierer, gekennzeichnet ist, sondern auch durch einen bestimmten Blickwinkel auf soziale Prozesse: nämlich der Suche nach einer objektiven Situationslogik, die einer bestimmten Handlungs- konstellation innewohnt. Die Beiträge in diesem Jahrbuch vermitteln ein eindrucksvolles Bild von aktuellen Entwicklungen in der entscheidungstheoretisch fundierten, empirisch ausgerichteten Wahl-, Parteien-, und vergleichend-politikwissenschaftlichen Forschung. Sie zeigen zugleich exemplarisch, wie moderne Sozialwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrieben wird. Den Herausgeber bleibt an die- ser Stelle nur, sich bei den Gutachtern für ihre Bereitschaft zur kritischen Lektü- re zu bedanken sowie bei Julian Bernauer, vor allem aber bei Katrin Kirsch- mann für ihren engagierten Einsatz bei der Erstellung des Jahrbuchs. Pfingstmontag 2006 Die Herausgeber 10 Wahlkreisarbeit zahlt sich doppelt aus – Zur Wirkung des Amtsinhaberstatus einer Partei auf ihren Zweitstimmenanteil bei den Bundestagswahlen 1949 bis 1998 Jens Hainmueller, Holger Lutz Kern und Michael Bechtel* 1. Einleitung Seit den frühen 90er Jahren haben mehr als 30 Länder Wahlsysteme eingeführt, die die Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit Elementen der Verhältniswahl verbinden. Es vermag daher nicht zu überraschen, dass die wissenschaftliche Zurückhaltung, mit der solchen kombinierten Wahlsystemen anfangs vor dem Hintergrund der idealtypischen Unterscheidung zwischen Verhältnis- und Mehr- heitswahlrecht begegnet wurde, inzwischen einem erheblichen Forschungs- interesse gewichen ist (Massicotte und Blais 1999; Shugart und Wattenberg 2001; Ferrara et al. 2005). Nicht nur die Entstehung solcher Wahlsysteme (Bawn 1993; Shugart 2001), sondern auch deren Bedeutung für strategisches Wählen und den Eintritt neuer Parteien in den politischen Wettbewerb wurden dabei ausgiebig untersucht (Bawn 1999; Gschwend et al. 2003; Moser und Scheiner 2005). Die Literatur hat inzwischen auch den Einfluss kombinierter Wahlsysteme auf das Verhalten des Gesetzgebers (Lancaster und Patterson 1990; Stratmann und Baur 2002; Bawn und Thies 2003) und die Entwicklung von Parteiensystemen (Shugart und Wattenberg 2001; Ferrara et al. 2005) ana- lysiert. Ein wichtiger Grund für das steigende Forschungsinteresse an kombinier- ten Wahlsystemen besteht darin, dass diese scheinbar die Möglichkeit bieten, Wählerverhalten unter den Bedingungen unterschiedlicher Wahlsysteme (Mehrheits- und Verhältniswahl) einem kontrollierten Vergleich zu unterziehen (Moser und Scheiner 2005: 260). Die Wirkung unterschiedlicher Wahlsysteme könne hier, so das gängige Argument, bei gleichzeitiger Kontrolle für Störvari- ablen untersucht werden (Lancaster und Patterson 1990; Stratmann und Baur * Wir danken Barry Burden, Alexis Diamond, Federico Ferrara und Walter R. Mebane, Jr., den Teilnehmern des Political Behavior and Political Psychology Workshops an der Harvard Uni- versity und den Teilnehmern des Incumbency Advantage Panels der 2006 Midwest Political Science Association Conference für hilfreiche Kommentare. 11