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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, 1969 PDF

161 Pages·1971·10.689 MB·German
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Preview Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, 1969

JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1970 Herausgegeben von Dagmar Droysen Verlag Merseburger Berlin Edition Merseburger 1442 ©1971 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten . Printed in Germany Druck: Arno Brynda, Berlin ISBN 3 87537 004 X INHALT OSTHOFF, WOLFGANG Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit 7 DAHLHAUS, CARL Miszellen zur Musiktheorie des 15. Jahrhunderts 21 EPPSTEIN, HANS Zur Vor- und Entstehungsgeschichte von J. S. Bachs Tripelkonzert a-moll (BWV 1044) 34 GERLACH, REINHARD Die Dehmel-Lieder von Anton Webern Musik und Sprache im Übergang zur Atonalität 45 DE LA MOTTE-HABER, HELGA Konsonanz und Dissonanz als Kriterien der Beschreibung von Akkorden .... 101 HESSE, HORST-PETER Die Tonhöhenwahrnehmung und die neurophysiologischen Bedingungen des Gehörsinnes 128 REINECKE, HANS-PETER Musikwissenschaft und Musikerziehung 144 Namen- und Sachregister 152 Über die Autoren 155 7 BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT* WOLFGANG OSTHOFF Ein Jahr nach dem Tode Ludwig van BEETHOVENs, 1828, erschienen die bei- den ersten umfangreichen Würdigungen der Missa Solemnis und der 9. Symphonie aus der Feder von Joseph FRÖHLICH1. Fröhlich war seit 1804 in Würzburg Universitäts- musikdirektor und der erste Dozent für Musikgeschichte, er leitete zugleich das aka- demische Musikinstitut, aus dem das älteste deutsche Konservatorium, unser heutiges Staatskonservatorium, herausgewachsen ist. Die Universität Würzburg knüpft daher an ihre eigene Geschichte an, wenn sie Beethoven am Vorabend seines 200. Geburtstages ehrt. Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit, d. h. als gewordene, von den Kräften der Vergangenheit gespeiste, sich an den Kräften der Vergangenheit messende, als aus dem eigenen Gesetz wirkende, weiterwirkende und verpflichtende, richtende Realität — das möchte ich zu umreißen versuchen, so wie es sich mir darstellt. Ich werde nur wenige konkrete Punkte berühren, wobei ich von einigen exemplarischen Werken und von ei- nigen exemplarischen Worten Beethovens und seiner Zeitgenossen ausgehe. Bevor Beethoven im November 1792 seine Vaterstadt Bonn verließ, um in Wien den Un- terricht bei Joseph Haydn anzutreten, schrieb ihm der befreundete Graf WALDSTEIN — derselbe, dem später die berühmte Klaviersonate gewidmet wurde — folgende pro- phetischen Sätze ins Stammbuch: „Lieber Beethoven. Sie reisen itzt nach Wien zur Er- fiillung Ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozarts Genius trauert noch und bewei- net den Tod seines Zöglinges. Bei dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Hän- den" (THAYER 3/1917, S. 2902). Beethoven soll also aus den Händen Haydns den Geist, den Genius des ein Jahr vorher verstorbenen Mozart erhalten. Mit den Namen Haydn und Mozart ist bezeichnet, was Beethoven an Bedeutendem in der Welt der Musik unmittelbar vorfand. Was lernte er von Haydn, was empfing er von der Musik Mozarts, und in welcher Weise verwandelte er dieses klassische Erbe zu etwas Neuem, Eigenem? Bei Haydn, im Unterricht, hat er offenbar nur wenig gelernt, von Haydn hat er unendlich viel gelernt, vor allem aber konnte er von ihm lernen, welches Element das primäre für diese neue klassische Musik war: der Rhythmus. Noch spät, am 8. März 1824, hat er mit Anton Schindler ein Ge- spräch über den Rhythmus geführt, SCHINDLERS Antworten sind in dem betreffen- den Konversationsheft erhalten. Eine von ihnen, die unzweifelhaft Beethovens An- sicht spiegelt, lautet: der Rhythmus „ist unstreitig das Nothwendigste zur Verstän- *Obiger Vortrag wurde am 15. Dezember 1970 in der Universität Würzburg gehalten. Die mündli- che Diktion ist für den Druck nicht geändert worden, allerdings wurden die notwendigen Nachwei- se hinzugefügt. 1 Missa 1828, Caecilia 9, Heft 36, S. 27-45; Sinfonie 1828, Caecilia 8, Heft 32, S. 231-256. 2 Abbildung in BORY (1960) S. 58. 8 WOLFGANG OSTHOFF digung der Musik" (KÖHLER-HERRE 1970, S. 198). Später ist von Arsis und Thesis die Rede, von Hebung und Senkung, das entspricht dem leichten und dem schweren, dem unbetonten und dem betonten Teil einer musikalischen metrischen Einheit. Auf dem rhythmischen Spiel der Motive über dem gleichmäßigen Fluß von Thesis-Arsis, Thesis-Arsis usw. beruhen ganz wesentlich der Geist und das Leben der Haydnschen Musik. Dabei kommt es nicht auf äußere motivische Kontraste an. Beim späten Haydn finden sich Fälle, in denen er ein und dasselbe Motiv, ein und dieselbe Melodie durch verschiedenartige metrische Placierung verändert und verwandelt. Ich gebe ein Beispiel aus dem letzten Satz von HAYDNs Sinfonie Nr. 103 in Es-Dur vom Jahr 1795. Zu- grunde liegt ein gleichmäßiges Zweiermetrum von Thesis und Arsis, wobei Thesis und Arsis je einen Takt beanspruchen. In dieses metrische Gerüst setzt Haydn sein Haupt- thema derart, daß es auf einer Thesis beginnt (Tonband-Beispiel): Notenbeispiel 1 als I. Thema J . f 4- f ajs 2. Thema T -l- ^ 4- Als 2. Thema, als Seitenthema, bringt Haydn keine neue Melodie, sondern er placiert das 1. Thema in metrischer Hinsicht umgekehrt, d. h. es beginnt nun auf einer Arsis (Tonband-Beispiel T. 316-335). Das Motiv bleibt in melodischer und rhythmischer Be- ziehung identisch, durch die metrische Verschiebung wird es aber verändert und erhält daher auch eine andere Fortsetzung. Wollen wir das, was sich hier abspielt, allgemein, philosophisch fassen, so können wir uns an SCHILLERs im selben Jahre 1795 heraus- gekommene Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen halten. Schiller spricht von zwei Grundtrieben des Menschen: 1. von dem sinnlichen — dieser Trieb fordert, „daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe" (12. Brief), 2. vom Formtrieb — er „geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen . . . und ist bestrebt, . . . Harmo- nie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen ..." (12. Brief). Beide Triebe vereinigen sich aber in einem dritten, der den Menschen erst ganz zum Menschen macht (15. Brief), im Spieltrieb. Schiller schreibt: „Der sinnliche Trieb will, daß Ver- änderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgeho- ben, daß keine Veränderung sei ..." Der Spieltrieb, ,,in welchem beide verbunden wirken, . . . würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren" (14. Brief). Haydn vereint Veränderung (den metrischen Wechsel) mit Identität (des Motives als solchen). Dieses Spiel vollzieht sich wie alle Musik notwendigerweise in der Zeit, durch das Veränderung bewirkende Spiel entsteht aber über den bloßen Ablauf hinaus der Eindruck eines Vorgangs. Der ausdrückliche Charakter des Vorgangs ist das Kennzei- chen der Wiener klassischen Musik. Haydn hat das begründet, Mozart hat es aufge- nommen. Wie verhält sich Beethoven dazu? In unserm Haydnschen Beispiel war die Verwandlung schon innerhalb des 1. Themas vorbereitet. Nebenstimmen deuteten die BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT 9 andere metrische Ordnung an. Doch in den Grundzügen blieben 1. und 2. Thema in metrischer Hinsicht voneinander geschieden. BEETHOVEN übernimmt das Haydn- sche Verfahren, aber er verdichtet es. D. h. er kann die unterschiedliche metrische Hal- tung nun auch innerhalb eines einzigen Themas vorführen. So z. B. im 2. Thema des Allegro aus der Sonate pathétique c-moll op. 13 von 1799, also vier Jahre nach Haydns Sinfonie. Beethoven arbeitet hier mit einem rhythmischen Impuls, der aus vier Tönen besteht (B-Es-F-Ges). In der hohen Lage setzt er den Impuls so ein, daß er auf der Ar- sis beginnt und auf die Thesis zuläuft. Schon das allein ergäbe ein schönes Thema. Das aber ist nicht das ganze Thema. Der Impuls erscheint auch in der tiefen Lage, hier je- doch beginnt er auf der Thesis. Zusammengesetzt heißt es (Tonband-Beispiel) : Notenbeispiel 2 A , t— li/lÄ ! 9 J r T" tir p r ,fcf pw v/ r r f T^ Iv.A, 1 , I \=J= L t ' 1 HA r » J r " M fì f? 9 ß 9 T" ' / " gr' ' ' ' e * m / j j J mm Im Spiel mit den Impulsen, in den dadurch bewirkten Veränderungen und Vorgängen zeigt sich der Nachfolger Haydns, aus der Verdichtung und Intensivierung der Impulse spricht Beethoven. Das empfand GOETHE auch ganz unmittelbar an dem Menschen Beethoven, als er ihn 1812 in Teplitz traf. Er schrieb damals an seine Frau: ,, . . . Zu- sammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich be- greife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß" (LEITZMANN 1921, S. 138). Von Haydn übernahm Beethoven das Spiel, doch unter seinen Händen wurde daraus zugleich mehr als Spiel. Beethoven sprach öfter bei der Erklärung seiner Werke von dem Gegensatz zweier Prinzipe, der in seiner Musik ausgetragen werde (SCHINDLER 3/1860, 2. Tl., S. 222). Schindler bemerkt dazu in den Konversationsheften: „Tausende fassen das nicht!" (SCHÜNEMANN 1943, S. 341). Vielleicht hat man es wirklich nicht genau erfaßt. Selbstverständlich finden wir in Beethovens Gesamtwerk die verschie- densten Prinzipe gegeneinandergestellt. Ein konkretes Beispiel für ein solches gegen- sätzliches Paar von Prinzipen im Sinne Beethovens sind die beiden Impulse unseres Themas, wie uns Schindler versichert, der mit Beethoven die Pathétique durchgenom- men hat. Er schreibt, daß wir die beiden Prinzipe in diesem Seitenthema „in gedräng-

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