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Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1994 PDF

282 Pages·1993·1.124 MB·German
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Preview Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1994

Das vierundzwanzigste Jahrbuch //7// CLAUS ROXIN Das vierundzwanzigste Jahrbuch Das vierundzwanzigste Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft wurde im fünfundzwanzigsten Jahr ihres Bestehens konzipiert. Wir gedenken des Jubiläumsanlasses durch eine kleine Rede, die ich zur Feierstunde am 27. März 1994 beigetragen habe; sie ist am Schluß des Bandes vor dem Bericht Erich Heinemanns über den denkwürdigen ›Dresdner Kongreß‹ vom Oktober 1993 abgedruckt. Dieser Bericht unseres Schriftführers wiederum ist eine Fortschreibung seines Buches ›Eine Gesellschaft für Karl May. 25 Jahre literarische Forschung, 1969-1994‹, das wir unseren Mitgliedern zum 25. Geburtstag der KMG geschenkt haben. So ist die bisherige Geschichte unserer Gesellschaft umfassend dokumentiert und selbst erzählerisch verarbeitet. Sie ist ungewöhnlich erfolgreich verlaufen; und die Jahrbücher der Karl-May- Gesellschaft haben daran großen Anteil. Das vorliegende vierundzwanzigste Werk der Reihe zeigt mit besonderer Deutlichkeit die vielfältigen biographischen, literarischen und außerliterarischen Aspekte des Forschungsgegenstandes Karl May. Wir beginnen mit zwei biographischen Beiträgen. Klaus Hoffmann zeichnet unter Auswertung der zeitgenössischen Lokalpresse erstmals das Bild des ›Gemeindebürgers‹ Karl May, der sich uns als ein an der Entwicklung Radebeuls Anteil nehmender, an der Förderung des öffentlichen Wohls lebhaft mitwirkender Mann darstellt. Ulrich Schmid geht demgegenüber in weitgespannten Reflexionen auf dem Hintergrund des Hermes-Mythos und der jüngsten deutschen Geschichte der Rolle Mays als eines ›psychologisch einfühlsamen, beinahe analytischen Seelenführers‹ nach. Er verdeutlicht das an der Beziehung Mays zu Wilhelm Einsle und zu Prinzessin Wiltrud von Bayern, aus deren unveröffentlichten Tagebüchern wir Aufschluß über verschiedene Begegnungen mit Karl May erhalten. Mays Briefwechsel mit Wilhelm Einsle und seine sämtlichen Briefe an das bayerische Königshaus hat die Karl-May- Gesellschaft bekanntlich schon in den Jahren 1983, 1991 und 1992 veröffentlicht. Übergreifenden Themen der Werkinterpretation sind vier Studien dieses Bandes gewidmet. Wolfgang Hammer untersucht ›Die Rache und ihre Überwindung als Zentralmotiv bei Karl May‹ und legt dar, daß bis zu der programmatischen Liebesethik der späteren Werke Mays ein langer, von vielen Rückschlägen begleiteter Weg zurückzule- //8// gen war. Es ließe sich sogar zeigen, daß noch im Spätwerk, das Hammer nicht mehr behandelt, Karl May von diesem Thema nicht loskam. Erst die kleine Erzählung ›Bei den Aussätzigen‹ (1907) behandelt ›Die Rache und ihre Überwindung‹ in einer für May abschließenden Form. Unabhängig von Hammer, aber parallel zu dessen Darlegungen, macht Gregor Seferens deutlich, daß Mays Idealbild des ursprünglich edlen, aber von den Weißen betrogenen und zugrundegerichteten Indianers das Ergebnis einer langen und file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/007.htm[06.10.2020 08:07:43] Das vierundzwanzigste Jahrbuch nicht widerspruchsfreien literarischen Entwicklung ist. Rudi Schweikert liefert in seinem Beitrag ›Von Befour nach Sitara‹ ein ›Fantasiestück in philologischer Manier‹, indem er den Assoziationsvorgängen in der Psyche Mays nachspürt und damit wesentliche ›kreative Zusammenhänge‹ in dessen weitgespanntem Werk erhellt – für den Kenner eine faszinierende Lektüre! Regina Hartmann schließlich behandelt ›Behaustheitsphantasien bei Karl May und Ludwig Ganghofer‹ und bringt damit zwei der bis heute wirkungsmächtigsten Schriftsteller der Jahrhundertwende in eine sicher nicht zufällige Beziehung. Freilich darf man vermuten, daß ›Behaustheitsphantasien‹ solcher Art sich nicht nur ›im Kontext zeitgenössischer Befindlichkeit‹ aufspüren lassen, sondern zur anthropologischen Grundausstattung unserer Spezies gehören. Aber das nimmt dem Vergleich nichts von seiner Aussagekraft. Drei weitere Abhandlungen sind Studien zu Einzelwerken Mays. Christoph F. Lorenz bringt eine umfassende Analyse des Frühromans ›Auf der See gefangen‹ und seiner späten Wiederkehr im ›Surehand‹-Roman; die Abhandlung ist zugleich eine der bisher gründlichsten Arbeiten über die Erzähltechnik in den frühen Abenteuerromanen Karl Mays. Andreas Graf deutet den ›Verlorenen Sohn‹, Mays wahrscheinlich bedeutendsten, sicher aber am meisten autobiographischen Kolportageroman, mit großer Überzeugungskraft als ›Entwurf einer schriftstellerischen Karriere‹. Gerhard Neumann hatte am Beispiel der späten Reiseerzählung ›»Weihnacht!«‹ schon vor Jahren (vgl. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1987) ›Das erschriebene Ich‹ als zentralen Topos im Werk Karl Mays sichtbar gemacht. Hält man Grafs und Neumanns Texte heute nebeneinander, bekommt man frappierende Einblicke in die psychischen Antriebskräfte, die Mays enorme Produktivität ermöglichten, aber auch in die gewaltigen Unterschiede der literarischen Verarbeitung desselben Grundmotivs in den Formen der Kolportage und der schon zum Alterswerk hinüberleitenden Reiseerzählung. Werner Kittstein, dem wir schon eine wertvolle Monographie über ›Karl Mays Erzählkunst‹ (zu Mays ›Geist des Llano estakado‹) verdanken (Materialien zur Karl-May-Forschung. Bd. 15. Ubstadt 1992), //9// unternimmt eine Ehrenrettung von Mays Jugenderzählung ›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹ (›Der blau-rote Methusalem‹). Die Geschichte verdient die exakt-liebevolle Würdigung, die ihr hier zuteil wird. Denn Mays einziger humoristischer Roman (der schon wegen dieser Besonderheit Aufmerksamkeit verdient) ist, wenn man die Märchenstruktur des Handlungsablaufs akzeptiert, ein erzählerisches Meisterwerk. Zutreffend rückt Kittstein auch die verbreitete Ansicht, der Roman zeige »kolonialistische Überheblichkeit in hoher Perfektion« (Koppen), ein wenig zurecht. Die vier übrigen Beiträge des Jahrbuches bewegen sich auf unterschiedlichen Forschungsgebieten, haben es aber alle mit der Beziehung der Werke Mays zur Realität (der von ihm geschilderten Völker und Gegenden, aber auch ihrer Wirkung und Verbreitung) zu tun. Michael Schmidt-Neke erörtert mit der kritischen Kennerschaft des Fachmannes zum ersten Mal das Thema ›Albanien bei Karl May‹. Wir sehen, daß May von Albanien wenig wußte, viel weniger als von den meisten anderen geographischen Räumen seiner Phantasie; um so verblüffender ist es, daß es der Erzählkraft Mays gelungen ist, das ›Land der Skipetaren‹ zu einem geflügelten Wort zu machen und der file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/007.htm[06.10.2020 08:07:43] Das vierundzwanzigste Jahrbuch deutschen Leserschaft einzuprägen wie kein zweiter Autor. Brigitte Fleischmann untersucht unter kulturanthropologischem Gesichtspunkt Mays Schilderung der Apachen und beschäftigt sich vor allem mit seinem letzten Roman, ›Winnetou IV‹, in dem der Autor in desillusionierender Weise – wenn auch im Dienste einer neuen Utopie – den Indianermythos seiner klassischen Reiseerzählungen zerstört. Sie kommt dabei zu Erkenntnissen, die weit über das konkrete Thema hinausreichen und für jede Beschäftigung mit Karl Mays Darstellung fremder Länder gelten: daß nämlich »Fiktionalität auch ein unvermeidbarer Bestandteil echter Ethnographien ist, und dies nicht nur, weil die Sprache an der Wirklichkeit scheitert. Wenn wir uns diese Tatsache bewußt machen, wird es uns leichter fallen, nicht immer und in jedem Fall nach der Relation von Fakt und Fiktion zu fragen und statt dessen Karl Mays Ethnopoesie zu würdigen«. Meredith McClain vergleicht Karl Mays Llano estakado mit der ›Wirklichkeit heute‹. Wir hören mit einiger Überraschung, daß Karl May über den Llano estakado viel besser informiert war als über Albanien, und wir erfahren auch, woher er über diese Gegend so relativ gut Bescheid wußte. Nicht ohne Rührung lesen wir, wie Karl May ein auslösender Faktor der heutigen Bemühungen ist, »den Einheimischen die spannende und wichtige, aber fast in Vergessenheit geratene Geschichte des Llano estakado nahezubringen«. Der Umstand, daß dort im Jahre 1993 ein ›Winnetou-Haus‹ eingeweiht worden ist, zeigt, wie Mays Ethnopoesie auf die Realität zurückwirkt. Die weltweite Wirkung Karl Mays demonstriert auch Hans-Dieter //10// Steinmetz, indem er die finnischen, tschechischen und slowenischen Karl-May-Übersetzungen, die schon zu des Autors Lebzeiten in den Einwandererverlagen der USA erschienen, vorstellt und mit bibliographischer Exaktheit dokumentiert. Die Studie zeigt, daß die Erforschung der fremdsprachigen Übersetzungen Mays noch ein weithin unbeackertes Feld ist; Steinmetz hat hier auf einem entlegenen Teilgebiet Pionierarbeit geleistet. Die Literaturberichte von Helmut Schmiedt und Ruprecht Gammler würdigen, was sonst noch in der letzten Zeit über May veröffentlicht worden ist. So wird der Forscher über sämtliche Publikationen, die mit May zusammenhängen, umfassend informiert. Unser Jahrbuch will freilich nicht nur Forscher, sondern jeden Leser ansprechen, der sich für Karl May und seine Welt ernsthaft interessiert. Ich denke mir, daß gerade die bunte Vielfalt des vorliegenden Bandes, der den Leser von Radebeul und Sachsen bis nach Albanien, China und in die Welt der Apachen und des Llano estakado führt und dessen Beiträge auch im übrigen Mays Werk ertragreich kreuz und quer durchschreiten, eine belehrende und fesselnde Lektüre sein kann. Wir dürfen gespannt sein, was die nächsten 25 Jahre der Karl-May-Forschung noch alles zutage fördern werden! Inhaltsverzeichnis Alle Jahrbücher file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/007.htm[06.10.2020 08:07:43] Das vierundzwanzigste Jahrbuch Titelseite file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/007.htm[06.10.2020 08:07:43] Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer //30// ULRICH SCHMID Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer Nachdenken über Willy E. und Wiltrud von B.* für für Annelotte Pielenz, Angelika und Steffen Irene Frankenstein Bocklesch sowie Ulrike Müller-Haarmann sowie Uli Nebert und Gerhard Haarmann und Hainer Plaul im Westen im Osten 1 »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.« Mit diesem Satz eröffnet, mythisch raunend, Thomas Mann bekanntlich seinen Bericht von den Schicksalen des biblisch-ägyptischen Joseph. »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?« fragt der von seiner Familie ›der Zauberer‹ genannte Weltenbeschwörer Thomas Mann im Anfang dieses Romans ›Joseph und seine Brüder‹. Und sogleich, im Fortgang, stellt das Wort sich ein, über das ich heute phantasieren will: »das Menschenwesen«, »dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht.«(1) »Rätselwesen« ist das eine, »natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein« sind die anderen beiden Stichwörter, zwischen denen unsere freischweifende Betrachtung pendeln wird. Zu erwarten sind dabei keine sensationellen neuen Ergebnisse der May-Forschung, zu erhoffen keine tiefsinnigen Reflexionen, keine subtilen Motivjagden durch die Buchstabenprärien der grünen Bände und keine wortgewaltigen wissenschaftlichen Dekonstruktionen. Statt dessen sollten wir uns gemeinsam im Sinne von Mays assoziativ planendem Schreiben einlassen auf ein Spiel mit Vergangenheiten, deren Bewegungen wir an der Hand von Zitaten und daran sich knüpfenden Sätzen nachdenken wollen. * Vortrag, gehalten am 17. 10. 1993 auf der 12. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Dresden. //31// 2 file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/030.htm[06.10.2020 08:07:43] Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer ›Brunnen‹ ist das Stichwort für die Richtung, in die unser Forschen geht: hinab in die Tiefe der Zeit. Absturz und jäher Fall, Eintauchen, Untergang und Sich-Wiederfinden als Bewegungen, denen wir uns aussetzen wollen, um in Abgrundforschung und Höllenfahrt die Reiche des Unterirdischen zu erkunden. Stürzen wir uns hinunter in diesen Brunnen, so mag es durchaus sein, daß uns zunächst das Hören und das Sehen vergeht und daß wir uns, erwachend, auf einer schönen Wiese wiederfinden, wo die Sonne scheint und vieltausend Blumen stehen. Vom Sturz noch etwas benommen: so zittert das Bild vor unsrer Pupille, und wir zweifeln, ob da weißblühende Asphodelosblümchen stehen oder treudeutsche Sommerblumen. Aber während wir noch dem verschwimmenden Bild nachsinnen, hören wir bereits einen Backofen rufen, und es gilt, ihn rasch zu leeren, einen – ebenfalls lauthals rufenden – Apfelbaum zu schütteln und schließlich Federbetten flattern zu lassen, daß »die Federn wie Schneeflocken« herumfliegen.(2) Dafür geht es uns dann freilich da unten auch gleich gut, wenn wir fleißig sind und uns wacker tummeln, »vieltausendmal besser (. . .) als zu Haus«.(3) Sie alle haben schon längst gemerkt, in welcher Brunnen-Unterwelt wir da gelandet sind: gleich kommt der Goldregen als Belohnung für Fleiß und Schönheit, und gar nicht lange danach kommt der Pechregen als Strafe für Faulheit, die mit häßlichem Aussehen gepaart ist, und die Gaben aus der Unterwelt der Frau Holle, Hulda oder Hel bleiben kleben und wollen, solange man lebt, nicht von einem abgehen. Hier halten wir inne und blenden aus mythischen Märchen-Urzeiten zurück in Jüngstvergangenes: Als ich mich im Frühling dieses Jahres bereit erklärte, hier in Dresden das Schlußreferat zu übernehmen, mußte ich mich selbst sehr streng zur Ordnung rufen. Die Idee nämlich, Gold- und Pechmarie schlicht und einfach mit den beiden deutschen Exstaaten gleichzusetzen, schien, so naheliegend sie war, doch allzu plump und allzu simpel-verfälschend zugleich! Der goldene Westen und der häßliche Osten, der klingend-klebende Goldregen und der zäh haftende Kessel voll Pech – sie entsprechen ja so manchem Klischee, das bei den Besser-Wessis, aber vielleicht auch bei frustrierten Ossis im Schwang war. Daß dies Bild freilich ein Trugbild ist, weiß jeder, der die beiden deutschen Staaten, sei's vor, sei's nach der Wende, scharf ins Auge faßte. So war ich schon dabei, die Frau Holle samt ihren zwei gegensätzlichen Hausbediensteten in der Rumpelkammer für die Versatzstücke der Weltgeschichte unterzubringen und aus meinem Vortrag zu streichen. Da fiel mir ein Buch in die Hände zum Thema ›Dresden als Kunst- //32// stadt‹, herausgegeben von der honorigen Sächsischen Landesbibliothek in Dresden. Den Abschluß dieses Buchs bildet ein Bericht über ein alternatives Kulturzentrum in der damaligen Bezirkshauptstadt. Es existierte einige Jahre, mißtrauisch beäugt und schließlich geschlossen von Behörden, denen das Treiben darin allzu verdächtig, unkontrollierbar und kreativ-staatsgefährdend erschien. ›Villa Marie‹, der Name dieses wohl nur in Maßen konspirativen Treffs, fand sich abgewandelt wieder in einer Illustration des Kunststadt-Bands, tatsächlich mit dem Titel ›Pechmarie‹.(4) file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/030.htm[06.10.2020 08:07:43] Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer Und die beste Pointe zu meiner Frage ›Frau Holle – ja oder nein?‹ lieferte schon vor mehr als 100 Jahren – wer sonst als Karl May selbst, der bereits in seiner frühesten Zeit seine ›Einstige Grabschrift‹ entwarf: Ich war ein Dichter, ernst und heiter, Das Schicksal spielte mit mir frech; Mein ganzes Leben war nichts weiter, Als nur ein großer – Klumpen Pech!(5) Durch diese vorweggenommene Bilanz eines Dichterlebens getröstet oder auch verstört, könnten wir Frau Holle und ihre beiden mehr oder minder diensteifrigen Jungfrauen beinahe schon wieder entlassen, wenn wir nicht rasch noch einen kurzen Blick in Eugen Drewermanns kluge Deutung des Holle-Märchens werfen müßten. Der Sturz in den Brunnen, zu dem ich Sie alle eingangs verführt habe (und Sie sind mir ja auch staunenswert blindlings gefolgt), dieser Sturz sei, so Drewermann, ein »Erwachen«, ein »Zu-sich-selber- kommen«, ein »Ende der Besinnungslosigkeit und Angst«. Das Mädchen, das sich da in die unerkennbare Tiefe des Brunnens stürzt, sei in diesem Moment »vollkommen isoliert und allein; aber eben deshalb ist es zugleich vollkommen frei.«(6) 3 Behalten wir das Wort vom Freisein und der Isolation im Ohr, wenn wir uns nunmehr in einen zweiten Schacht unseres Vergangenheitsbrunnens hinunterstürzen. Wir landen hinter der Schulter eines Herrn, der Tagebuch schreibt, und wir flüstern leise mit, was er da auf dem Papier notiert: Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen? Es ist die Erfüllung aller der Möglichkeiten, wie sie dem Menschen gegeben sind. Unlust und Unbehagen schaffen Traurigkeit, und die Traurigkeit steigert sich zur Angst, zur Schwermut und zur Verzweiflung, da wir das Leben nicht leben, das uns zu leben gegeben wäre. Das sind die Anzeichen zum Aufstand im Menschen. (. . .) //33// Wir können und wollen nicht mehr so weiterleben wie bisher. (. . .) Wir wollen uns verändern und wandeln von Grund auf. Von ferne wispert ein Echo, wenn wir ganz leise sind und horchen: »Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück, und wußte nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein (. . .).«(7) Noch einmal, mit den eben erlauschten Worten: »Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?« Diese »Erfüllung aller der Möglichkeiten, wie sie dem Menschen gegeben sind«? Die mit der DDR-Literatur Vertrauten unter Ihnen wissen sicher, daß sich der Satz gleich zweimal an bedeutsamen Stellen finden läßt. Die von Johannes R. Becher, dem Schriftsteller und Kulturminister der fünfziger Jahre, in seinem Tagebuch ›Auf andre Art so große Hoffnung‹ geäußerte Frage nach dem ›Zu- sich-selber-Kommen‹(8) des Menschen stellte Christa Wolf als Motto ihrem Buch ›Nachdenken über Christa T.‹ voran, das Ende der sechziger Jahre erschien.(9) Dieser Roman, vielen von Ihnen sicher vertraut, stellt mit großer Intensität die Frage nach dem Rätselwesen Mensch, unter einem Fluchtpunkt, der das Namenskürzel der Antiheldin Christa T. mühelos in die Rätsellösung ›T = Tod‹ verwandelt. file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/030.htm[06.10.2020 08:07:43] Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer 4 Wenn ich Ihre Geduld nun noch ein weiteres Mal strapazieren darf, möchte ich Sie noch einmal zum Sturz in den Vergangenheitsbrunnen verlocken. Was paßte besser zum Erwachen in der Unterwelt, bei aller Einschränkung durch den luftigen Zusatz »3 Treppen« hoch, als die Adresse ›Thomaskirchhof 12‹? Es ist eine ganz reale, ganz und gar nicht märchenhaft-mythische Adresse, mitten in Leipzig gelegen, ganz nahe bei der Stelle, wo einst der Thomaskantor Johann Sebastian Bach die ›süße Todesstunde‹ und ihre Lockung in betörend erotischen Melodien besingen ließ. Steigen wir in dem Haus ›Thomaskirchhof 12‹ die drei Treppen hinauf, nicht ohne ein wenig Ächzen und Schnaufen, so erwartet uns hinter der Wohnungstür der Essigfabrikantenwitwe Johanne Rosine Hennig eine »gut ausmeublirte Stube nebst Alkoven« samt dem neuen Mieter der Stube und des Meublements. Ein junger Mann, »c. 25 Jahr alt, mit blassem Gesicht, blondem halblangen Bart, c. 73 Zoll groß, u. von schlanker Statur, bekleidet mit brauner Tuchtwine, grauen Hosen u. einer Deckelmütze«. So wird ihn, wenige Stunden, nachdem wir in die Stube eingetreten sind, der Essigfabrikantenwitwensohn bei der Polizei beschreiben. Aber jetzt steht der so Beschriebene noch in der Stube, eben im Be- //34// griff, »einen Biberpelz mit Biberfutter« und dazu »Aufschlag u. schwarzen Tuchüberzug« entgegenzunehmen. Die Rechnung dafür freilich, ausgestellt über die Summe von 72 Talern am heutigen 20. März 1865, sollte uns stutzig machen, würde uns sogar, wären wir nicht auf so ungewöhnlichem Wege auf den Thomaskirchhof und in die Stube gekommen, zu einem Ruf des Schreckens, der Warnung oder zumindest des Erstaunens veranlassen. Aber da wir stumme Zuschauer der Szene bleiben müssen, verschwindet der junge Mann aus der Stube und mit ihm der Pelzmantel, und unsere Befürchtungen bestätigen sich endgültig, als sich beide erst am nächsten Tag und nach eingehenden polizeilichen Nachforschungen wiederfinden und als sie vom flüchtigen in den festen Zustand des Polizeigewahrsams überführt sind. In der Stube jedoch steht nun noch immer der von seinem Pelzmantel und seinem Kunden verlassene Kürschner und dreht nervös eine Visitenkarte zwischen den Fingern, auf der, mit Bleistift gekritzelt, die Namens- und Berufsbezeichnung Hermes Kupferstecher steht. Der Polizei freilich, zumal der findigen sächsischen, bleibt der wahre Name dieses Kupferstechers nicht lange verborgen. Nach der Arretierung am darauffolgenden Tag muß er bald zugeben, »daß er Carl Friedrich May heiße, in Ernstthal heimatberechtigt u. dort Lehrer gewesen sei . . .« Schon im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73 (aus dem wir soeben zitiert haben)(10) hat Hainer Plaul auf den »komödiantische(n) Zug« der Namenswahl ›Hermes‹ hingewiesen: die Benennung des Trickbetrügers mit dem griechischen ›Gott der Diebe‹ lasse »Ähnlichkeit mit einem Schalk« erkennen, der »seine Opfer noch während der Tat belacht«.(11) Ganz zwanglos fügt sich da an, was wir beim Blättern in ebendiesem frühen Jahrbuch von 1972/73 entdecken: Als Schriftstellernder Schalk und alles personificierender oder symbolisierender Bücherschreiber läßt sich das weltreisende ›Ich‹ dieses Carl Friedrich May da, Jahrzehnte nach dem Leipziger Kriminalfall, von Sir John Raffley in ›Et in terra pax‹ apostrophieren.(12) Und dann entdecken wir in einem der sächsischen Steckbriefe, die nach dem »unwürdigen Mitglied des Lehrerstands« fahnden, noch dazu die Bemerkung: »hat auch häufig ein file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/030.htm[06.10.2020 08:07:43] Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer Lächeln um den Mund«.(13) 5 Spätestens hier wird klar, daß uns bisher keineswegs der Zufall, sondern vielmehr der Gott des ›glücklichen Fundes‹, auf griechisch des ›Hermaion‹, die Hand geführt hat. Der Gott Hermes, lateinisch Mercurius, ist nämlich weit mehr als nur der Gott der Diebe. Er ist auch der Patron der Wanderer und der Reisenden, der »menschenfreundli- //35// che Begleiter und Bewahrer reisender Könige und abenteuernder Heroen« (so ein Antikenlexikon, der ›Kleine Pauly‹(14)), der flügelbeschuhte Unbehauste zwischen den Welten der Götter und Menschen, insbesondere aber der Gott, der die Seelen geleitet, hinab in das dunkle Reich des Unterirdischen, über das bei den Griechen der Gott Hades mit seiner Gemahlin Persephone, bei den Germanen dagegen die Göttin Hel, auch Hulda, Perchta oder Holle, regiert. Darüber hinaus ist Hermes aber auch der Gott der Schelmenstreiche, der Erfindungen und – nicht zuletzt – der Redner, so daß ich vielleicht doch hoffen darf, unter seinem mächtigen Schutz diesen weit schweifenden Vortrag zu einem glücklichen Ende zu führen. Daß der Sohn des olympischen Zeus und der Nymphe Maja schließlich auch noch als Vater der Dolmetscher und Herolde gilt, zieht nur noch eine weitere Querverbindung zu Karl Mays (nicht zuletzt von ihm selbst) weithin gerühmten Sprach- und Übersetzungskünsten. Werfen wir einen kurzen Blick in die mythische Kindheit des trickreichen Gottes, dessen Urenkel übrigens, abstammend vom Hermes-Sohn Autolykos, dem Mythos zufolge, der so listenreiche wie weitgereiste Odysseus war. Dabei folgen wir der mythischen Spur des Göttersohns nach der Darstellung des ungarischen Altphilologen Karl Kerényi, der dem Thema ›Hermes, der Seelenführer‹ eine tiefschürfende Studie gewidmet hat: Maja, deren Name eher auf eine Urmutter, eine »weise und gute alte Frau«, als auf eine gewöhnliche Nymphe hindeutet, Maja also gebar ihr göttliches Kind Hermes in der Unterwelt einer »tiefbeschatteten Höhle«: »Frühmorgens wurde er geboren, mittags spielte er auf der Leier, abends stahl er die Rinder des Gottes Apollon« – alles an einem einzigen Tag, dem seiner Geburt! Dabei zeichnet sich der Rinderdiebstahl durch einige Züge aus, die dem May-Kenner recht rasch vertraut erscheinen: Er treibt die Kühe nämlich rückwärts »auf dem sandigen Boden, so daß ihre hinteren Hufe vorne waren und die vorderen hinten«.(15) Sich selbst machte er dazu geflochtene Sohlen aus Tamarisken- und Rindenzweigen, die er sich unter die Füße band, um seine Spur unkenntlich zu machen. Sein Halbbruder, der Gott Apollon, der den Dieb verfolgte, war denn auch, dem Homerischen Hymnos über Hermes zufolge, reichlich verdutzt über das sonderbare Fährtenbild im sandigen Boden: Ei, potz tausend! Welch seltsames Wunder erblickt da mein Auge! Ist das denn nicht die Spur meiner Kühe, der gradegehörnten? Aber sie ist ja nach rückwärts gekehrt zur Asphodeloswiese. Schritte sind das! So treten nicht Männer, nicht Weiber; die Löwen spuren nicht so; grauhaarige Wölfe und Bären doch auch nicht! Wars ein Kentaur mit zottigem Nacken – ich will es nicht hoffen; Der auf eilenden Füßen plump und so ungeschlacht stapft. Schrecklich ist's diesseits des Weges, noch schrecklicher jenseits des Weges.(16) file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/030.htm[06.10.2020 08:07:43] Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer //36// Apoll freilich läßt sich nicht täuschen, sondern folgt, ein anderer Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, der Spur des Räubers. Der freilich hat sich, als er den Verfolger hört, rasch in seiner Wiege versteckt und in seine Windeln gewickelt. Als Apollo ihn nach dem Verbleib der Rinder fragt, antwortet er scheinbar harmlos und kindlich naiv: »Gestern bin ich geboren, zart sind meine Füße und hart der Boden!«(17) Apoll allerdings glaubt ihm kein Wort, sondern droht: Komm heraus aus der Wiege, Genosse der schwärzesten Nacht du! Denn die Unsterblichen werden nunmehr auf folgende Weise dich ehren: Räuberhauptmann heißen sie dich in künftigen Tagen!«(18) Nachdem dann freilich der zürnende Apoll das Kind aus der Wiege gehoben hat, läßt der göttliche Schalk in die Hand des Bruders »ein Zeichen fahren, einen bösen Boten des Bauchs«, so daß Apoll ihn vor Schreck gleich fallen läßt. Gemeinsam gelangen sie schließlich zu Zeus, ihrem Vater, der Schiedsrichter spielen soll zwischen den beiden. Apoll schildert noch einmal den Rinderdiebstahl mit den trickreichen Spuren, während Hermes erbost seine Unschuld beteuert: »Ei, potztausend, ich wars nicht! Der Kuckuck hol euer Rindvieh!« »Zeus aber«, so fährt der Hymnos fort, »lachte schallend heraus beim Anblick des Kindes, das voll übler Gedanken so findig und trefflich daherlog«.(19) So befiehlt der Göttervater den beiden, sich zu versöhnen. Aus einer Schildkröte, die ihm gleich nach der Geburt über den Weg lief, hat Hermes eine Leier gefertigt; sie überläßt er dem Halbbruder Apoll, der ihm dafür den Rinderdiebstahl verzeiht. Zeus freilich nimmt Hermes den Schwur ab, nie mehr so unverschämt zu lügen, was der Göttersohn auch verspricht, allerdings mit dem einschränkenden Zusatz, was er nicht versprechen könne, sei, stets die volle Wahrheit zu sagen. Zum Zeichen der Versöhnung verleiht ihm Apoll den Heroldsstab und macht ihn zum Geleiter der Seelen, zum Psychopompos, mit der »Vollmacht als Bote zum Hades«,(20) der unterirdischen Welt der Toten, der Schatten. 6 So sind wir denn wieder in der Unterwelt angekommen, wo wir kurz innehalten, um noch einmal Karl Kerényi zuzuhören: Die Nacht des (seelenführenden) Psychopompos, die Nacht des Zeugens und die Nacht des Sterbens – tragen wir diese nicht in uns? Als eine ungetrennte Nacht, die sich der Nacht da draußen, wie eine Schwestererscheinung der großen, allumfassenden Welt, gern zugesellt? (. . . ) Es ist wohl dieselbe dunkle Tiefe, der auch wir entstammen. Vielleicht kann Hermes darum so überzeugend vor uns schweben, uns auf unseren Wegen führen, goldene Schätze in jedem mit Finder- und Räubergeist ergriffenen Augenblick zeigen, weil er seine Welthaf- //37// tigkeit aus uns, oder richtiger: durch uns schöpft, wie man Wasser aus einem Brunnen, richtiger aber noch: durch den Brunnen aus noch viel tieferen Tiefen der Welt hat.(21) Damit haben wir freilich die Spannweite der Hermeswelt noch lange nicht erschöpft. Er ist vor allem auch der Gott des Künstlertums, insbesondere der erzählenden, phantasieerfüllten Verwandlung der Welt. Dabei umfaßt die Realität der Hermeswelt extreme Pole: die phallische Fruchtbarkeit und Zeugungskraft ebenso wie die einfühlsame Seelenbegleitung, die über den Tod hinaus in Jenseitiges hinüberweist; das täuschende und tricksende Hochstaplertum ebenso wie die Fülle der Wahrheit und die Vielfalt der Erkenntnis. Verzichten wir darauf, allen Parallelen dieser Hermes-Wirklichkeit zu Karl May, wie sie gelegentlich wohl schon zwischen den Zeilen aufblitzten, penibel nachzuforschen, auch wenn der sächsische file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1994/030.htm[06.10.2020 08:07:43]

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