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Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1974 PDF

111 Pages·1974·0.461 MB·German
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Das vierte Jahrbuch //7// CLAUS ROXIN Das vierte Jahrbuch Das Schwerpunktthema dieses vierten Bandes unserer Jahrbuchreihe bildet das Jahrfünft vor der Orientreise Mays, jene Zeit äußerer Bizarrerie und innerer Unentschiedenheit, die der Wende zum Alterswerk voraufgeht. May war, seit die Buchausgabe seiner Reiseerzählungen zu erscheinen begonnen hatte, als Autor überaus erfolgreich gewesen. Die literarische Kritik war ihm, zunächst, wohlgesonnen, und er trat aus seiner früher zurückgezogenen und finanziell bedrängten Existenz zum ersten Mal als berühmter und wohlhabender Mann in die Öffentlichkeit hinaus. Die Art, in der er dies tat, der Versuch nämlich, in der Maske seiner Romanhelden - als leibhaftiger Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi - vor der Welt zu erscheinen, wird literargeschichtlich immer eine der seltsamsten Formen schriftstellerischer Selbststilisierung bleiben. Mein einleitender Beitrag stellt zu dokumentarischen Zwecken in geraffter Form das wesentliche mir zugängliche Material über das Auftreten Mays in dieser Zeit zusammen. Darüberhinaus war mir vor allem daran gelegen, die »Old-Shatterhand-Legende« in all ihrer Absonderlichkeit aus der psychischen Struktur Mays und seinem qualvollen Lebensschicksal plausibel zu machen und vor dem Hintergrund seiner literarischen Entwicklung in jenen Jahren zu deuten. Der Mythos, durch den May seine im bürgerlichen Leben stets gefährdete und sich nur unsicher bewegende Existenz zu überhöhen trachtete, war nicht allein eine Flucht vor der Vergangenheit; er war zuletzt nur noch die Fassade, hinter der sich die innere Wandlung vollzog, die May nach dem Zusammenbruch seines früheren Ich-Ideals zu bedeutenden literarischen Leistungen befähigen sollte. Für den oberflächlichen Beurteiler ist es gewiß leicht, das wunderliche Gebaren Mays, von dem in diesem Jahrbuch so viel die Rede ist, ins literarische //8// Kuriositätenkabinett zu verweisen; tiefer eindringender Betrachtung wird aber nicht verborgen bleiben, daß hier über die Psychologie literarischer Schaffensvorgänge Material zu Tage tritt, dem weit über den »Fall May« hinaus Bedeutung zukommt. In diesen Zusammenhang gehören auch die berühmt-berüchtigten Kostümfotos, die May in Pose und Gewand seiner Ich-Gestalten Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zeigen. Sie haben ihm die Begeisterung unbefangener Leser ebenso eingetragen wie den Spott der Öffentlichkeit, und fraglos geht von ihnen heute nur noch eine groteske Wirkung aus. Trotzdem verlangt es die Pflicht der Dokumentation, auch von ihnen einige Beispiele vorzulegen, und zwar um so mehr, als sie wie kein anderes Mittel zur Vergegenwärtigung der Rolle dienen, die May in den ausgehenden neunziger Jahren spielte, und zugleich augenfällig dartun, zu welch riskanten Extremen sich seine Selbstdarstellung zur file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/007.htm[06.10.2020 07:41:11] Das vierte Jahrbuch Zeit seines Star-Ruhms vorwagte. Zu berücksichtigen sind dabei allerdings auch der Zeitstil und - geschmack, und wenn May in der Moabiter Verhandlung von 1911, wo ihm diese Fotos zum Beweis angeblicher Unwahrhaftigkeit vorgehalten wurden, darauf hinwies, daß sich doch jeder Schauspieler im Kostüm fotografieren lasse, wie es ihm beliebte, so traf dies einen wahren Sachverhalt. May spielte vor der Öffentlichkeit in jenen Jahren eine »Rolle«, und als Rollenbilder sind die Aufnahmen, die zudem deutlich vor Kulissen gestellt sind, zu werten. So gesehen mögen sie vielleicht auch kaum absurder wirken als andere Starporträts der Zeit, die etwa Joseph Kainz als Hamlet oder Hermann Winkelmann als Tristan zeigen. Nach der Orientreise 1899/1900, von der er völlig verwandelt zurückkehrte, hat May die Kostümfotos aus dem Handel gezogen und die Platten vernichtet (vgl. Josef Mittermayer, Karl Mays Beziehungen zu Linz, im Historischen Jahrbuch der Stadt Linz 1962, wo auch Näheres zur Entstehungsgeschichte der Bilder mitgeteilt ist). Es darf als glücklicher Umstand bezeichnet werden, daß wir darüberhinaus noch zahlreiche persönliche Aufnahmen Karl Mays aus den neunziger Jahren besitzen. Auch von diesen Aufnahmen enthält unser Jahrbuch einige Beispiele, in denen die »andere Seite« seines Wesens lebendig zur Anschauung kommt. Ein Sonderkapitel aus dem umfangreichen Komplex Mayscher Mysti //9// fikationen behandelt Klaus Hoffmann in seiner materialreichen Studie über »Herkunft, Wirkung und Legende« von Silberbüchse, Bärentöter und Henrystutzen. Wenn man bedenkt, daß sich über die sagenumwobenen Gewehre des Mayschen Roman-Ichs schon vor vierzig Jahren eine (auf freilich recht ungeklärten Voraussetzungen fußende) Spezialliteratur gebildet hatte und daß ihre Existenz in der älteren May-Forschung sogar als Indiz für eine frühe Amerikareise Mays bewertet wurde, wirkt das Ergebnis der von Hoffmann angestellten Forschungen, die vielleicht das Thema endgültig abschließen werden, recht desillusionierend. Man wundert sich, daß die ernüchternde Bewandtnis, die es allem Anschein nach mit diesen Waffen hat, so lange ungeklärt bleiben konnte. Andererseits lehrt dieses eine Beispiel aber auch wieder das Staunen über die Fähigkeit des Dichters, die Gebilde seiner Phantasie, selbst wo es sich um profane Gebrauchsgegenstände handelt, mit so suggestiver Kraft zu »beseelen«, daß die Realität es schwer hat, dagegen aufzukommen. Da das Thema der legendären »Wundergewehre« in den Zeitraum der neunziger Jahre und damit in den Hauptstoffkreis dieses Jahrbuchs gehört, haben wir den zweiten Teil der Arbeit von Klaus Hoffmann über die Biographie Mays in den Jahren 1868 - 1870 für diesmal aus Raumgründen zurückgestellt; seine Veröffentlichung wird im nächsten Jahrbuch erfolgen. Wie wichtig die Erhellung der »inneren Biographie« Mays für die Interpretation seiner reiferen Werke ist, zeigen Hans Wollschlägers Lesenotizen zu »Am Jenseits«, der letzten und relativ unbekanntesten, aber sicher bedeutendsten seiner späten Reiseerzählungen. Das Buch ist in einem äußeren Sinne Fragment geblieben; aber der ausgeführte, sehr geschlossen wirkende Teil bildet eine für sich stehende Erzählung, deren offenes Ende ins Spätwerk hinüberweist. Im Schicksal des blinden, von der Religion der »Liebe« abgefallenen Münedschi, der im weiteren Verlauf der Erzählung sehend werden und zum »wahren Glauben« zurückfinden sollte, sind nicht nur die äußeren und inneren Widerfahrnisse der frühen Jugend Mays verdichtet; Karl May nimmt hier auch Abschied von seinem eigenen, durch das Vaterbild bestimmten Ich-Ideal, mit dem der Münedschi am Schluß des Buches so unwiderruflich scheitert. Was »jenseits« dieser »Sterbestunde« lag, das konnte May an dem Punkt, den seine innere Entwicklung vor der Orientreise erreicht hatte, file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/007.htm[06.10.2020 07:41:11] Das vierte Jahrbuch //10// im Jenseits-Buch nur als Erlösung durch die »Liebe« in immer neuen Ansätzen ahnend beschwören. Er konnte es aber noch nicht als Prinzip des »Mütterlichen« gestalten und programmatisch in pazifistisch- utopischen Symboldichtungen entfalten, wie ihm dies in »Friede auf Erden« zum ersten Mal gelang. Deshalb bildet der Friedensroman, mit dem wir uns im letzten Jahrbuch beschäftigt haben, trotz des völligen Wechsels von Personal und Szenerie die eigentliche Fortsetzung des Jenseits-Buches; es ist kein Zufall, daß May zu Beginn von »Friede auf Erde« an den vorhergehenden Roman ausdrücklich anknüpft. So wird auch klar, warum »Am Jenseits« ein Torso bleiben mußte: V o r der Orientreise konnte das Buch aus inneren Gründen nicht vollendet werden; und n a c h dem Pax-Roman brauchte der Handlungsfaden nicht mehr weitergeführt zu werden, weil die inneren Möglichkeiten des Stoffes in eine andere Gestaltung eingegangen waren. Bei alledem ist »Am Jenseits«, so wie es vorliegt, trotz seines Abbruchs unmittelbar vor der »Grenze« und trotz der vom Modell der alten Abenteuererzählung noch überkommenen, hier schon überständig wirkenden Handlungsmotive ein bedeutendes Stück in der Produktion Mays; bedeutend vor allem auch deshalb, weil es May hier gelang, die Projektionen seines Inneren vor der kargen Kulisse von Wüste und Sternenhimmel in wenige große, archetypische Figuren zu bannen, so daß die Handlung durch ihre magisch-nächtigen Jenseits-Visionen und die tragende Stimme des »Engels« Ben Nur die Eindringlichkeit eines alten und durch die psychische Grundsubstanz doch auch wieder modernen Mysterienspiels gewinnt. Den publizistischen Schlußstrich unter die Tätigkeit Mays als »Abenteuerschriftsteller« und »Weltreisender« bildet die Auseinandersetzung mit Fedor Mamroth, dem ehedem einflußreichen Feuilletonredakteur der »Frankfurter Zeitung«. Hansotto Hatzig hat den Pressestreit kommentiert und vollständig dokumentiert. Der Fehde kommt - im Rahmen der Biographie Mays - eine gewisse historische Bedeutung zu, denn sie bildete den Beginn der massiven Presseangriffe, die von dieser Zeit an bis zum Tode Mays und weit darüber hinaus nicht wieder zur Ruhe gekommen sind. Mamroths Polemik setzt nicht ungeschickt, wenn auch etwas undifferenziert ein; der hier angeschlagene Ton klingt bei den Gegnern Mays (vor allem aus den Bezirken der Jugendschriften»pflege«) //11// in unendlichen Variationen bis heute nach. Auch enthalten die Artikel Mamroths treffende Beobachtungen und witzige Formulierungen. Aber im ganzen ist die Attacke kein journalistisches Meisterstück, denn sie verliert sich allzu schnell in vagen Andeutungen über die Vergangenheit Mays, in Spekulationen über Realität oder Fiktion seiner Reisen und in der auf anonyme Gewährsmänner gestützten Beanstandung nebensächlicher geographischer Einzelheiten in seinen Werken; May hatte es leicht, dem zu entgegnen. Wenn Mamroth May schon damals als einen nicht zu unterschätzenden Faktor im geistigen Leben seiner Zeit beurteilte (und damit mag er recht gehabt haben), so ist es ihm jedenfalls nicht recht gelungen klarzumachen, worin diese Bedeutung nach seiner Meinung eigentlich lag. Die ausführliche Replik, die May durch seinen Freund Richard Plöhn veröffentlichen ließ und die hier erstmals nachgedruckt wird, erreicht bei weitem nicht die polemische Eleganz, die Mays spätere Arbeiten auf diesem Felde (wie z. B. die im JB-KMG 1972/73 wiedergegebene Artikelserie An den Dresdner Anzeiger) auszeichnet. May sah sich zum ersten Mal in der Situation des von der literarischen Kritik Angegriffenen und reagierte trotz anfänglich scheinbar gelassener Gesten mit übertriebener Aufgeregtheit. Immerhin wird seine Betroffenheit dadurch verständlich, daß der Realitätsanspruch, den er file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/007.htm[06.10.2020 07:41:11] Das vierte Jahrbuch für seine Reiseerlebnisse bis dahin so hartnäckig erhoben hatte, der Lächerlichkeit zu einem Zeitpunkt preisgegeben wurde, da er selbst die Old-Shatterhand-Legende nur noch als äußeren Schutzschild festhielt und vor sich selbst nicht mehr vertreten konnte. So wundert es nicht, daß er die sonderbare Frage nach dem Wahrheitsgehalt seiner Schilderungen jetzt sogleich als geistige Pfennigfuchserei beiseiteschob. Die Rechtfertigung seiner literarischen Arbeit, zu der er jetzt zum ersten Male ansetzte, ist aber (anders als der Streit um belanglose sachliche Einzelheiten) trotz aller tastenden Unsicherheit und theoretischen Naivität noch heute bedeutsam, weil sie die Situation inneren Umbruchs, in der sich May damals befand, recht genau widerspiegelt. Noch ist von der Symbolik des Spätwerks, von der »Menschheitsfrage«, von »Ardistan und Dschinnistan«, von der »Geisterschmiede« und den übrigen Bildkomplexen und Schlüsselparabeln der folgenden Jahre nicht die Rede; vielmehr versucht May sein bis dahin geschaffenes Werk aus dem Leitmotiv der //12// »Geographischen Predigten« zu interpretieren. Aber schon sehen wir May unter Beschwörung der Erzählergestalten der Großmutter und des Paten nach der neuen Identifikationsfigur des Hakawati suchen; schon nimmt er für seine Erzählungsweise ein ganz neues Literatur-Genre in Anspruch, bescheinigt sich angesichts der bei ihm anzutreffenden Wiederholung äußerer Handlungsmotive ein liebevolles Eingehen auf das innere Leben und sieht das lebende, treibende und entwickelnde Prinzip seiner Bücher in der Seele, welche ihnen innewohnt und in seiner direkten Sprache von Gemüt zu Gemüt: wie es aus dem Herzen kommt, so fliegt es aufs Papier, und geht von da wieder zum Herzen. Bei aller Einfalt, die sein Denken immer dort kennzeichnet, wo es sich nicht in bildhafte Gestaltung umsetzen kann, hat May hier richtig gesehen, daß die eigentliche Bedeutung seiner bis dahin entstandenen Ich-Romane im psychischen Material liegt, das aus dem Unbewußten zu Tage gefördert wird und vielfach ohne rational kontrollierte Stilisierung mit elementarer Direktheit die »Seele« des dafür empfänglichen Lesers erfaßt. Die May- Forschung ist, wie unsere Jahrbücher zeigen mögen, erst heute allmählich in der Lage, die hier formelhaft bezeichneten Vorgänge durch Einzelanalysen dem genaueren Verständnis zu erschließen. Heinz Stolte setzt seine grundlegende Arbeit über die literaturpädagogische Bedeutung der Jugendschriften Mays mit einer Interpretation der »Sklavenkarawane« fort. Die schon vom Autor als »Jugendbücher« intendierten Schriften Mays sind, verglichen mit den Reiseerzählungen, von denen man sie wohl künftig deutlicher als bisher trennen sollte, in höherem Grade das Produkt des planenden Verstandes und didaktischer Konstruktion, und es zeigt sich, daß May auf diesem Gebiet entgegen einer noch heute im einschlägigen Schrifttum verbreiteten Meinung Bedeutendes leisten konnte. Mays Jugendbücher verdanken den »klassischen« Rang, den sie (zumindest bei den jugendlichen Lesern selbst) erlangt haben, nicht allein der äußeren »Spannung« und dem Erzählgeschick ihres Verfassers; sie zeichnen sich vielmehr durch epische und didaktische Qualitäten aus, die auf sehr sorgfältiger Detailarbeit beruhen. Stoltes Textbeispiele und Erläuterungen machen deutlich, daß es sich hier wirklich um »Wertarbeit« handelt, die nicht ohne Grund schon drei Generationen überdauert hat, ohne an Wirkungskraft einzubüßen. //13// Hainer Plauls Abhandlung über das gegen May gerichtete Pamphlet, das als »Kahl-Broschüre« in die Sekundärliteratur eingegangen ist, holt viel zeitgeschichtliches, mit großer Genauigkeit ermitteltes Material in die Darstellung hinein, die den Prozeßdschungel, der das Leben Mays in seinen letzten Jahren file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/007.htm[06.10.2020 07:41:11] Das vierte Jahrbuch überwucherte, in einem wichtigen Teilbereich erstmals ausleuchtet. Plauls Darstellung zeigt, daß die von Rudolf Lebius gegen May geführte Kampagne, die Mays Gesundheit und Arbeitskraft am Ende zerrüttete, zum guten Teil auf politische Auseinandersetzungen zwischen den von Lebius vertretenen »Gelben Gewerkschaften« und den Sozialdemokraten zurückging, in die May wider seinen Willen und ohne sein Zutun hineingeriet. Sie zeigt aber auch, auf welches Niveau die öffentliche Beschäftigung mit Leben und Werk Mays in den knapp zehn Jahren, die seit der Polemik des persönlich durchaus achtbaren Fedor Mamroth vergangen waren, heruntergekommen war. Eine Gestalt wie May bot gewiß der Kritik viele Angriffsflächen. Aber der Vernichtungsfeldzug, wie er hier in Gang gesetzt und in den folgenden Jahren mit ständig steigender Intensität geführt wurde, überschritt weit die Grenzen des literarisch und menschlich Vertretbaren. Das traurige Kapitel ist ein Lehrstück - auch und gerade für die Presse, die damals zu großen Teilen in diesen Chor einstimmte. Die Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, die in der Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg eine beträchtliche Entwicklung erfahren hat, wird, wenn das gesamte Material einmal aufgearbeitet ist, noch heute aus dem »Fall May« wesentliche Reformanregungen gewinnen können. Heinz Stoltes Bericht über die neben den Publikationen unserer Gesellschaft im letzten Jahr erschienene Sekundärliteratur und Erich Heinemanns unseren Band abschließender Jahresbericht der Karl-May- Gesellschaft bezeugen den erfreulichen Aufschwung, den die May-Philologie in der letzten Zeit genommen hat. Die Arbeit unserer sich immer mehr vergrößernden Gesellschaft hat inzwischen einen Umfang erreicht, der auch bei der Herausgabe des Jahrbuchs eine Teilung der Verantwortung nötig macht. Deshalb ist es mir eine besondere Freude, daß es uns gelungen ist, Herrn Prof. Dr. Heinz Stolte, der seit seiner Dissertation im Jahre 1936 in der May-Forschung tätig ist und die Arbeit unserer Gesellschaft in den letzten Jahren in ständig zunehmen //14// dem Maße mitgetragen hat, als Mitherausgeber zu gewinnen. Ihm, unseren beiden Redakteuren, unserem Verleger, den Autoren, den Spendern und zahlreichen ungenannten Helfern gilt mein herzlicher Dank dafür, daß es auch diesmal wieder gelungen ist, das Jahrbuch pünktlich vorzulegen und die May- Forschung um einige Schritte weiterzubringen. Schließlich erlaube ich mir einen besonderen Hinweis auf meine am Schluß dieses Jahrbuches enthaltene Erklärung, daß nunmehr sämtliche Differenzen der beteiligten Personen mit dem Karl-May-Verlag in beiderseitigem Einvernehmen geschlichtet werden konnten. Zwischen dem Karl-May-Verlag und dem Vorstand der Karl-May-Gesellschaft wurde überdies eine Vereinbarung geschlossen, auf deren Grundlage beide Seiten für die Zukunft eine fruchtbare Zusammenarbeit erhoffen. Der Karl-May-Verlag hat sich bereit erklärt, sein einschlägiges Archivmaterial den Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft nach Maßgabe seiner Archiv-Ordnung zur Verfügung zu stellen. Damit sind für die weitere Karl-May- Forschung günstige Voraussetzungen geschaffen worden. Inhaltsverzeichnis Alle Jahrbücher Titelseite file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/007.htm[06.10.2020 07:41:11] Das vierte Jahrbuch file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/007.htm[06.10.2020 07:41:11] Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand //15// CLAUS ROXIN »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand« · Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen »Dieser allerorts beliebte und viel bekannte Reiseschriftsteller«, so wußte die Wiener Zeitschrift »Vaterland« am 26. Februar 1898 unter der Überschrift »Dr. Karl May "Old Shatterhand" in Wien« zu berichten, »wurde Dienstag von Ihrer kaiserlichen Hoheit der Frau Erzherzogin Maria Therese, im Beisein der Erzherzoginnen Maria Annunciata und Elisabeth, sowie der Kinder des Erzherzogs Otto und der hier weilenden Söhne des Herzogs Karl Theodor von Bayern empfangen und durch einen sehr ehrenden Empfang ausgezeichnet. Am Montag, nach Schluß des Unterhaltungsabends der Leo- Gesellschaft, begab sich Herr Dr. May in Begleitung des Barons Vittinghoff-Schell zum Faschingsabend des katholischen Handelscasinos, wo er in Gesellschaft seiner Frau Gemahlin längere Zeit in animiertester Stimmung verweilte und alle Anwesenden durch seine witz- und geistsprühende Unterhaltung in gehobene Stimmung versetzte. Selbstverständlich ließen es die Versammelten nicht an Ovationen für den Helden des Wilden Westens fehlen ...« Sieben Monate vorher hatte der »Bayerische Kurier« (am 7. Juli 1897) aus München gemeldet: »Am Montag Nachmittags versammelte sich von drei Uhr ab eine große, im Ganzen mehrere Hundert Personen zählende Menge von Verehrern des rasch zur Berühmtheit emporgestiegenen Weltreisenden und Schriftstellers Dr. Karl May im Speisesaal des Hotels Trefler, um dem beliebten Reiseroman-Schriftsteller von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, um ihm ihre Huldigung darzubringen. Nicht etwa bloß die studierende Jugend, nein, sondern viele gereifte Männer und auch zahlreiche Damen waren im Auditorium zu bemerken ... Gegen halb 8 Uhr Abends fand die erste Audienz ihr Ende. Von 8 Uhr Abends ab sammelte sich, wiederum im Speisesaale, ein aus Männern gereifteren Alters zusammengesetztes Auditorium, //16// um teils Aufschlüsse des gefeierten Schriftstellers über seine Lebensgewohnheiten, seine Art zu reisen, die Qualität seiner Waffen etc. entgegenzunehmen, teils selbst dem Schriftsteller Anekdoten und Schilderungen von der Wirkung seiner Schriften zur Kenntnis zu bringen . . « »Dr. Karl May rastet nur kurze Zeit am heimischen Herde, dann drängt es ihn wieder in die Ferne«, meldet der »Literarische Anzeiger« in Cincinnati (1) über den »Lieblingsschriftsteller der katholischen Welt«. »Das ist herrlich, der Mensch muß dort gewesen sein!«, hören wir einen seit 26 Jahren in Ägypten lebenden Landeskenner im »Litteraturblatt für katholische Erzieher« (2) ausrufen. Aber es ist nicht etwa nur die vorwiegend katholische Gemeinde des evangelischen Dichters, die sich so äußert. file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/015.htm[06.10.2020 07:41:12] Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand Auch »Der Protestant« (3) rühmt die »einzig dastehende Erscheinung auf dem Gebiete der modernen Literatur« und schildert - anhand von »Winnetou Band I« - »den Lebensgang dieses seltenen Mannes«, der dem Verfasser (E. Bollow) als »seltener Charakter in der Kirche Roms« erscheint und dessen »Auftreten unter den Naturvölkern ... in mancher Beziehung an Livingstone, den viel geliebten Vater der Afrikaner«, erinnert. Seine Reiseerzählungen bieten, wie das Blatt seinen Lesern mitteilt, »Selbsterlebtes und haben so den Vorzug vor vielen ihrer Geschwister, z. B. den Cooperschen Sachen, nicht auf dem Sofa der Studierstube ersonnen zu sein«. Sogar in der Literaturgeschichte (4) lesen wir: »Immer malt er mit unübertrefflicher Treue Land und Leute ab, so daß eine jede Schilderung ein Visum in seinem Reisepaß ist mit dem Atteste: Er ist dort gewesen, er hat es erlebt.« Es war gelungen. Die Fiktion war Wirklichkeit geworden, und die Jahre, die Karl May als »unwürdiges Glied des Lehrerstandes« (5) in der Strafanstalt verbracht hatte, waren nur noch ein unwirklicher, böser Traum. II. Wie war das zustandegekommen? Nicht nur die Ich-Form, sondern auch der ungewöhnlich suggestive, auf empfängliche Gemüter geradezu magisch wirkende Ton der »von der deutschen Nation mit wahrem Enthusiasmus aufgenommenen Reiseerzählungen von Dr. Karl May« (6) //17// hatten dem Leser von Anfang an den Anschein des Selbsterlebten nahegelegt. Noch heute wird man kaum einen kindlichen Leser finden, der sich willig vom fiktiven Charakter dieser Geschichten überzeugen ließe. Der (aus der fehlenden Distanz des Autors zu seinem Werk erklärbare) Wahrheitsanspruch des Vorgetragenen ist ein konstituierender Faktor des Erzähltons und seiner Wirkung. Deshalb hatte schon die Redaktion des »Deutschen Hausschatzes« das Ausbleiben Mayscher Manuskripte in der Münchmeyer-Zeit zwanglos mit den weiten Reisen des Autors erklären (7) und so der späteren Old- Shatterhand-Legende vorarbeiten können. (8) May selbst, der seine bürgerliche Person hinter dem Ich- Ideal seiner Erzählungen aus sehr verständlichen Gründen zunächst ganz hatte verschwinden lassen, begann diese Haltung mit dem Beginn der Neunziger Jahre zu ändern; zaghaft zunächst und versuchsweise, dann aber immer entschiedener und schließlich im Tone triumphierender Selbstverständlichkeit schlüpfte der auch in seinem bürgerlichen Stande von eigenen Gnaden zu akademischer Weihe gekommene »Dr.« Karl May (9) in die Maske seiner Ich-Gestalten, die ihm Verehrung und Anerkennung sicherte. III. Wichtigstes Medium dieser erstaunlichen Transformation sind Mays eigene Werke, in denen nun immer nachdrücklicher versichert wird, daß es sich bei den geschilderten Ereignissen nicht um Erdichtung, sondern um die Niederschrift realer Erlebnisse handele. Man meint, daß solche oder ähnliche Scenen nur in Romanen vorkommen können; das ist sehr richtig; denn - das Leben ist der fruchtbarste und phantasiereichste Romanschreiber ..., hören wir den Autor seine Taten kommentieren. (10) Dem folgt alsbald die Versicherung, daß ich nicht eigentlich schriftstellere, sondern Erlebnisse niederschreibe und es unmöglich hindern kann, wenn sich das Leben und die Wirklichkeit nicht nach schriftstellerischen Regeln richten ... (11) Das steigert sich bis zu ironischen Paradoxien, die aber offenbar mit dem file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/015.htm[06.10.2020 07:41:12] Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand Anspruch auftreten, ernst genommen zu werden: Ein Schriftsteller, welcher nicht Erlebtes, sondern nur Romane schreibt, würde nun Old Shatterhand ... einen Gegenstand //18// finden lassen, durch dessen Erlangung alles, was uns noch Geheimnis war, aufgeklärt würde; ich kann aber leider meiner Feder nicht gestatten, mir eine solche Schicksalsgunst zu erweisen, und muß eingestehen, daß ich nichts, aber auch ganz und gar nichts fand. (12) Wenn man solche Äußerungen zur Not (aber nicht zu Recht) noch als dramaturgische Kunstgriffe interpretieren könnte, die die Illusion steigern und Inkonsequenzen des Handlungsablaufs legitimieren sollen, so wird doch jeder Zweifel an der Intention des Autors dadurch ausgeschlossen, daß nun auch seine bürgerliche Gestalt in die Reiseerzählungen einzuziehen beginnt. »Is das nich der Dres'ner Doktor ...?« hört sich Old Shatterhand in San Franzisko angesprochen, als er mit Winnetou die Stadt besichtigt (13); und die Anrede »Herr Doktor« tritt fortan in der Zivilisation neben den Namen Old Shatterhand. (14) Um den Leser ja nicht im Unklaren darüber zu lassen, wer mit dem »Dres'ner Doktor« gemeint ist, wird er bald darauf belehrt, daß das Ich eine Doppelexistenz hat: »Sie hatten, wenn ich nicht irre, zwei Namen, Ihren wirklichen und einen anderen ... Und Ihr Familienname? Wenn ich mich nicht irre, hießen Sie wie einer von den zwölf Monaten?« »März«, sagte ich. (15) Das auf Durchschaubarkeit angelegte Versteckspiel und der zweimalige Irrtumsvorbehalt zeigen, daß May seine neue Identität nicht ohne Zögern in die breite Öffentlichkeit eintreten ließ. Aber der Beifall und die Glaubenswilligkeit seiner Leser trieben ihn weiter. Im Old-Surehand-Roman wird die Vita Old Shatterhands erstmals bis in Einzelheiten hinein durch biographische Daten aus dem Leben Mays beglaubigt: die alte Großmutter wird (schon hier in dichterischer Überhöhung) beschworen (16); das Schwesterchen Pauline (17) tritt auf, und die Verwandlung des blinden Knaben Karl May, der als ein krankes, schwaches Kind geboren wurde, in den großen Old Shatterhand dient dazu, die Weisheit des Allmächtigen augenfällig zu machen: »Ich bin dreimal blind gewesen und mußte dreimal operiert werden ... Wer aber kann sich, von Winnetou abgesehen, heut rühmen, die scharfen Augen Old Shatterhands zu besitzen?« (18) Drei Jahre später, im Bande »Weihnacht« (1897) schließlich, ist es von vornherein »May!!«, »May!!!« (19), seiner Leser »lieber May« (20), der uns zunächst als armer Schuljunge und später als schriftstellernder Shatterhand entgegentritt. Auch die Ausstattung der Buchausgaben stellte bald die Identität des Autors mit seinem //19// Helden außer Zweifel. Im Jahre 1896 wurden die vorher sogenannten »Reiseromane« in »Reiseerzählungen« umgetauft (beginnend mit Bd. XVIII: Im Lande des Mahdi, Bd. 3), und der im selben Jahre erscheinende Band XIX (Old Surehand, Bd. 3) erhielt das Foto »Old Shatterhand (Dr. Karl May) mit Winnetous Silberbüchse« (21). In seiner frühesten autobiographischen Darstellung, den »Freuden und Leiden eines Vielgelesenen« (1896), versicherte der Herr Doktor noch einmal ausdrücklich: Weil ich meist Selbsterlebtes erzähle und Selbstgesehenes beschreibe, brauche ich mir nichts auszusinnen ... (22) IV. Zur selben Zeit ging May daran, den so glücklich geschaffenen Mythos vom leibhaftigen Old Shatterhand auch durch außerliterarische Mittel in der Öffentlichkeit abzustützen. Er ließ sich von dem Jura-Studenten und Amateurphotographen Alois Schießer, einem jugendlichen Verehrer aus file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/015.htm[06.10.2020 07:41:12] Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand Linz/Oberösterreich, zahlreiche Aufnahmen im Kostüm Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis anfertigen, die von dem Linzer Photographen Nunwarz ausgearbeitet, kopiert und in Verlag genommen wurden. (23) Bald verkündete ein Prospekt des Herrn Nunwarz: »Die Aufnahmen Nr. 1 - 6 sind in den Original-Kostümen, die Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi auf seinen gefahrvollen Weltreisen trug, angefertigt. Jedes Bild trägt die eigenhändige Unterschrift des allverehrten Schriftstellers.« Diese Fotos, die May auch in seinen Schriften (24) und Privatbriefen (25) den Lesern empfahl, sind in ungezählten Exemplaren in alle Welt gegangen und haben beim Aufbau der Old-Shatterhand-Legende wesentlich mitgewirkt. (26) Einige sind in verkleinertem Format in diesem Buch wiedergegeben. Die ebenfalls bei Nunwarz verlegten abenteuerlichen Aufnahmen des Arbeitszimmers mit den Gewehren und zahlreichen Jagdtrophäen (27) trugen zur Beglaubigung der Weltreisen bei. Die Gewehre selbst schließlich, bis heute Hauptbestandteile der von May geschaffenen Mythologie (28), sind ebenfalls erst nachträglich von der Fiktion in die Realität überführt worden. Silberbüchse und Bärentöter ließ May sich im Jahre 1896 bei einem Dresdener Büchsenmacher anfertigen; den (wirklich aus Amerika stammenden) //20// Henrystutzen hat er erst im Jahre 1902 gekauft. (29) Daraus erklärt es sich, daß die bekannten Old- Shatterhand-Porträts May überraschend nicht mit dem »echten« Henrystutzen zeigen und daß Winnetous Silberbüchse aus dessen Grab wieder hervorgeholt werden mußte: Meine Leser wissen, daß Winnetou mit der Silberbüchse begraben wurde; jetzt kaufen sie sich Bilder von mir, unter denen es welche mit der Bezeichnung "Old Shatterhand" mit "Winnetous Silberbüchse" gibt ...; da gibt es der brieflichen und mündlichen Fragen kein Ende. Man will nicht warten, bis ich in einem späteren Bande erzähle, wie die begrabene Silberbüchse wieder auferstanden ist... (30) So wurde die Verklammerung von dichterischer Imagination und künstlich geschaffener Realität enger und enger. V. In den unzähligen Privatbriefen, die May in den Neunziger Jahren an seine Leser schrieb, wurde die Legende bekräftigt und in einer die literarische Vorlage der Reiseerzählungen noch übersteigernden Weise ausgebaut. (31) Ja, ich habe das Alles und noch viel mehr erlebt. Ich trage noch heute die Narben von den Wunden, die ich erhalten habe. Ich unternehme meine Reisen ja ganz anders als diejenigen, welche auf den großen, breiten Straßen und Karawanenwegen bleiben, wo es keine Gefahr gibt ... (32), schreibt May am 16. Dezember 1894. Ich habe jene Länder wirklich besucht und spreche die Sprachen der betreffenden Völker. Auch ohne dies zu wissen, muß und wird jeder Fachmann aus meinen Werken ersehen, daß ich solche Studien unmöglich in der Studierstube gemacht haben kann. Die Gestalten, welche ich bringe (Halef Omar, Winnetou, Old Firehand ...) haben gelebt oder leben noch und waren meine Freunde. (33) Und so geht es immer weiter: Keine der Personen und keines der Ereignisse, welche ich beschreibe, ist erfunden. Wenn Sie im Deutschen Hausschatz gelesen haben, werden Sie gefunden haben, daß ich erst kürzlich in Arabien und Persien und bei meinem braven Hadschi Halef Omar gewesen bin. Jeder gebildete Mann weiß, daß der Maler nicht mit dem leeren Pinsel malen kann; so braucht auch der Schriftsteller Farben, wenn seine Arbeit nicht ein //21// nacktes kahles Referat sein soll. Muß man das wirklich erst erklären? (34) Auf argwöhnische Fragen reagiert er ungeduldig: Es ist doch eigentümlich, daß, so weit die deutsche Zunge klingt und weit darüber file:///F|/460%20Karl%20May/Jahrbuecher/1974/015.htm[06.10.2020 07:41:12]

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