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Individuum und Krankheit: Grundzüge Einer Individualpathologie PDF

474 Pages·1959·16.149 MB·German
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INDIVIDUUM UND KRANKHEIT GRUNDZUGE EINER INDIVIDUALPATHOLOGIE VON FRIEDRICH CURTIUS PROFESSOR DR. MED. CHEFARZT DER MEDIZINISCHEN KLINIK DES STÄDTISCHEN KRANKENHAUSES OST, LOBECK MIT 58 ZUM TEIL FARBIGEN ABBILDUNGEN Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1959 Alle Rechte, Insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten, Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus aufphotomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © by Springer-VerlagBerlinHeidelberg 1959 UrsprQnglich erschienen bei Springer-Verlag OHG. BerJin. Göttingen · Heidelberg 1959 Softcover reprint of the bardeover 1st edition 1959 ISBN 978-3-642-87057-6 ISBN 978-3-642-87056-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-87056-9 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinn der Warenzeichen- und Markenschutz Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. MARIE CURTIUS IN DANKBARKEIT Vorwort Dem Bestreben, die Krankheitserscheinungen des Menschen auf die Gesetz mäßigkeiten der Pathophysiologie, der pathologischen Anatomie, der üblichen generalisierenden klinischen Nosologie und auf die genaue Kenntnis der ursäch lichen Kräfte zurückzuführen, sind Grenzen gezogen, die hauptsächlich in der Individualität bestehen. Deshalb wurde von altersher immer wieder geraten, in Diagnostik und Therapie zu "individualisieren", ohne daß jedoch ernstliche Ver suche zum Ausbau einer geeigneten Methode unternommen worden wären. Von der dringenden Notwendigkeit derartiger Untersuchungen überzeugt, habe ich 1934 eine entsprechende programmatische Arbeit veröffentlicht (Z. Morph. u. Anthro pol. Bd. 34) und später einen Fortbildungskurs am ehemaligen Kaiserin-Fried rich-Haus für ärztliche Fortbildung ins Leben gerufen, den ich einleitete mit dem Vortrag "Begriff, Aufgaben und Wege der Individualpathologie" (in: "Individual pathologie" Gust. Fischer 1939). Seit dieser Zeit habe ich mich fortlaufend mit diesem Thema beschäftigt und eine große Zahl von Kranken unter individualpathologischen Gesichtspunkten untersucht und behandelt, wobei mir vor allem meine Lübecker Mitarbeiter hilf reich zur Seite standen. Ihnen allen, besonders den Herren Dr. H.-G. RoHRMOSER, Dr. H.-E. SEHNERT, Dr. H. FEIEREIS, Dr. H. ScHIBALSKI und Dr. K. BoHM gilt mein herzlicher Dank. Herrn Prof. Dr. E. JECKELN, Chefarzt des Pathologischen Instituts unserer Städtischen Krankenanstalten, danke ich für die liebenswürdige Genehmigung zur Verwertung mehrerer Sektionsprotokolle. Es ist mir ein Bedürfnis, auch Herrn Oberarzt Dr. FR. WEGENER, der seit Jahren die Sektionen im Krankenhaus Ost durchführt, für viellache Anregung und Belehrung am Sektionstisch meinen herz lichen Dank auszusprechen. Ferner danke ich Frau LIESELüTTE BREMER und meiner Frau für unermüdliche Hilfe. Herrn Dr. HEINRICH DRÄGER, Lübeck, danke ich herzlich für die großzügige finanzielle Unterstützung meiner Forschungen. Lübeck, im September 1959 Der Verfasser Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . 1 B. Theoretische Grundlagen 11 I. Typologie und Individualität. 11 1. Konstitutionstypologie und Individualität. 11 2. Typologie und Individualität in ihrer Bedeutung für die Krankheitsforschung 14 II. Methode der Individualpathologie. . 29 C. Individualität und Krankheitsentstehung 32 I. Die Krankheitsverursachung: Plurikausalität. 32 1. Die empirische Begründung der Plurikausalität. 32 2. Über die Wirkungsweise der Ursachenkoeffizienten 45 3. Die Auslösung von Krankheiten . . . . 48 Art des Auslösungsfaktors . . . . . . . . . . 55 Zur Analyse des Auslösungsvorgangs . . . . . 56 4. Die Variokausalität und ihr Einfluß auf die Krankheitsgestalt . 59 5. Der Ursachenbegriff in der medizinischen Ätiologie, seine theoretische Bewer tung in Philosophie, Biologie, Medizin und Rechtswissenschaft . . . . . . . 63 Praktische Bewertung mehrerer Ursachen in der medizinischen Ätiologie und Versicherungsmedizin . . . . . . 64 6. Über psychische Krankheitsverursachung . . . . . . 67 o o o • o o o Kasuistische Beispiele . . . . . . . . . . 71 o • o • • • • • • • • a) Auslösung von Einzelsymptomen, Krankheitsschüben und ganzen Syndromen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) "Vorbereitende Schäden" als Auslösungsfaktoren von Infektionskrank- heiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c) Krankheitsauslösung durch den Alternsvorgang. 81 II. Der prämorbide Zustand. . 81 o • Kasuistische Beispiele . 94 o • III. Die individuelle Reaktionsweise 99 Kasuistische Beispiele . . 105 IV. Die Organdisposition . . . . 115 1. Erbliche Organdisposition . 118 2. Erworbene Organdisposition. 128 3. Wesen der Organdisposition . 132 Kasuistische Beispiele . . . 136 D. Individualität und Krankheitsgestaltung. 150 I. Morbus compositus . . 151 o • • 1. Krankheitskombinationen 151 o 2. Das Mosaiksyndrom . 159 Kasuistische Beispiele . . 160 Inhaltsverzeichnis VII Il. Pathoplastik . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Nosologisch-symptomatologische Beurteilung . . . . . . 178 a) Pathoplastische Färbung des ganzen Krankheitsbildes . 178 b) Pathoplastische Beeinflussung von Symptomen . . . . 181 ot} Quantitative Abwandlung von Symptomen . . . . 181 Symptom-VerstärkungS. 181.-Symptom-Abschwächung S. 182. Heilungsverzögerung S. 184. ß) Qualitative Abwandlung von Symptomen . . . . . . . . 184 2. Art der pathoplastisch wirkenden Faktoren . . . . . . . . . . 186 3. Zur Ätiologie und Pathogenese pathoplastischer Erscheinungen . 189 Kasuistische Beispiele 191 III. Komplikationen . . . . 216 Anhang: Die komplizierte Schwangerschaft 231 Kasuistische Beispiele . . 240 IV. Krankheit und Persönlichkeit 244 Kasuistische Beispiele . . 257 E. Individualität und Krankheitsbeurteilung 267 I. Nosologie und Symptomatologie im Lichte der Individualität. 267 1. Die nosologieehe Wirklichkeit gegenüber der dogmatischen Fiktion . 267 2. Spezifische Krankheitseinheit oder Syndrom? . . . 280 3. Individualpathologische Beurteilung der Symptome . . . . . 285 a) Art und Bewertung der Symptome . . . . . . . . . . . . . 285 ot} Die nosologieeh-diagnostische Wertigkeit der Symptome 285 ß) Welche Symptome sind prozeß-, welche individualitätsbedingt? . 289 b) Die Wechselbeziehungen der Symptome. Genetische Symptomatologie . 291 li. Individualdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1. Fehlerquellen und Problematik der "alten Diagnose" . . . . . . . . . 294 2. Notwendige Ergänzung der Schuldiagnose durch die Individualdiagnose . 295 Einzelbeispiele von Individualdiagnosen. 298 III. Individualpathologie und Begutachtung . 301 Kasuistische Beispiele . . 310 IV. Individualität und Prognose . 333 F. Individualität und Therapie . . . 344 I. Allgemeines . . . . . . . . 344 II. Individualtherapeutische Regeln bei Krankheitskombinationen . 351 III. Zur Therapie der Schwangerschaftskomplikationen • . . 357 IV. Zusammenfassende Bemerkungen zur Individualtherapie 362 Kasuistische Beispiele 362 G. Rück- und Ausblick 381 Literaturverzeichnis 386 Namenverzeichnis 437 Sachverzeichnis . 457 A. Einleitung Es gibt keinen Arzt, der nicht schon beklommen am Bette eines Kranken stand, weilestrotz größter Bemühungen nicht gelingen wollte, das gegenwärtige Bild mit einem der erlernten Krankheitsbegriffe zur Deckung zu bringen und dadurch zu einer befriedigenden Beurteilung und Behandlung zu gelangen. Selbstverständ lich wird der gut Geschulte und Erfahrene seltener in derartige Verlegenheiten kommen, aber auch ihm begegnen sie noch oft genug, wie der Genfer Kliniker Prof. M. RocH von sich bekannte: «. .. Un demi-siecle apres le debut de mes etudes il m'arrive souvent de me trouver hesitant devant quelque malheureux aux sym ptomes multiples et contradictoires qu'on ne peut introduire dans aucune des classes qui constituent les chapitres de nos traites». Worauf beruht dieser Zwiespalt 1 Auf der Grundeigenschaft alles Lebens, der Individualität, auf der einen, der Struktur unseres rationalisierenden und nivel lierenden menschlichen Ordnungsstrebens auf der anderen Seite. Um der Fülle der Besonderheiten einigermaßen Herr zu werden, ziehen wir aus den Einzel fällen das Gemeinsame heraus, wir abstrahieren, und legen diese Idealkonstruk tionen unserem ärztlichen Denken und Handeln als Leitbilder zugrunde. Daraus resultiert das "hochspezialisierte schematische Krankheitsbild" (H. SIEGMUND} unserer Lehrbücher. Die Lehrbuchdarstellung geht nicht wie Hippokrates, der Begründer des strengen Individualisierens, vom gegenwärtigen Zustandsbilde aus, sondern von den generellen Verlaufsmöglichkeiten der einzelnen Krankheiten. Zahlreiche ältere wie neuere .Ärzte, vor allem Internisten und Psychiater, haben sich für die unbedingt nötige Ergänzung dieser Krankheitsschemata durch eine wirklichkeitsnähere, d. h. individualisierende Diagnostik ausgesprochen (BIRN BAUM, A. ÜAHN, HEINRICH ÜURSCHMANN, C. GERHARDT, HOCHE, JASPERS, RICH. KocH, KREHL, KRONFELD, KussMAUL, v. LEYDEN, FRIEDR. MüLLER, MuNK, v. NEERGAARD, 0. RosENBACH, WuNDERLICH, TH. ZIEHEN u. v. a.). Im Gegensatz hierzu stehen jene, bei welchen nach "schematisch durchgeführter internistischer Untersuchung ... nur konstatiert wird, ob das Ergebnis in eines der diagno stischen Schubfächer paßt" (BROCK 1945). Daß nicht nur in der Symptomatologie, sondern auch in der Therapie der Schematisierung enge Grenzen gezogen sind, ist selbstverständlich: "Ich weiß nicht, ob diejenigen, welche sich bestreben, die Therapie zu einer exakten Wissen schaft zu machen, den ganzen Aufgaben des ärztlichen Berufes förderlich sind. Ausschließlich nach mechanischen, physikalischen und chemischen Grundsätzen lassen sich Krankheiten nicht behandeln ... Das Schematisieren, wie es heute wieder Mode ist ... führt vielfach Unheil herbei" (E. v. LEYDEN 1885). Dasselbe gilt schließlich auch für ein Großteil der aufgestellten Theorien und Hypothesen über "die" Pathogenese "dieser" Krankheit. Nur ein Beispiel sei hier für genannt. Nach dem Urteil des Tuberkuloseforschers W. PAGEL (1930) gibt es "keine einheitliche allergische Struktur der Tuberkulose, genauso wenig, wie sich für die tuberkulöse Gewebsreaktion überhaupt ein einheitliches, zwangsläufig erfülltes Schema aufstellen läßt. Solche V ersuche sind ... immer . . . überrasch und übereifrig aufgenommen worden". Trotz zahlreicher gleichsinniger Warnungen wird die Biologie und Pathologie des Menschen bis in die jüngste Zeit immer wieder streng schematisierend behan delt und gelehrt, wie EuG. PITTARD 1949 betonte: «Beaucoup des savants ... ont Curtius. Individuum 1 2 Einleitung conserve l'habitude de considerer les hommes si ... ils etaient, grosso modo, identiques dans leurs characteristiques morphologiques et dans leurs comportements physiologiques et aussi pathologiques». Die tiefe Verwurzelung einer derartigen Einstellung in manchen ärztlichen Kreisen ergibt sich beispielsweise aus einer Äußerung des bekannten Schweizer Psychiaters MAX MüLLER, die diagnostische Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten sei "im Gegensatz zur Körper medizin" nur in der Psychiatrie erforderlich. Auch HEYER glaubt, eine Lungen entzündung1 oder ein Beinbruch gäben schließlich doch immer wieder sehr ähn liche Bilder, da "im Bereich des Körperlichen die Menschen sehr ähnlich organi siert" seien. (Daß man auch umgekehrter Ansicht sein kann - inwiefern mit Recht, bleibe dahingestellt - zeigt ein Wort ALEX. CARRELB: "Zuweilen ist die geistige Individualität weit weniger ausgeprägt als die organische"). Wenn dem wirklich so wäre, hätten sich kaum so zahlreiche Kliniker, Patho logen, Physiologen und Morphotogen als überzeugte Anhänger des Individuali sierens bekannt. Später wird an konkreten Beispielen zu zeigen sein, daß auch in der Körpermedizin die individuelle Variabilität von genau derselben Bedeutung ist wie in der Psychopathologie, des weiteren, daß der Hinweis auf die immer noch blühende, überstarke Schematisierungstendenz nach wie vor dringend erforder lich ist. Freilich unterscheiden sich die Arzte je nach Wesensart, Schulzugehörigkeit und herrschendem Zeitgeist in der mehr oder weniger starken Neigung zum Beson deren. In der griechischen Medizin hatte die Arzteschule von KNIDOS das Bestre ben, möglichst viele Krankheitsbilder aufzustellen, um so der Vielfältigkeit der Erscheinungen gerecht zu werden (R. KocH). Auch THUKYDIDES will ohne Rück sicht auf die Individualität den Krankheitstyp beschreiben (J.-H. KüHN 1956). Demgegenüber steht für HIPPOKRATES bzw. die Koische Schule der Einzelfall im Vordergrund aller Bemühungen. Über die immer erneute Diskussion dieser Frage unter den griechischen Ärzten und Philosophen unterrichtet die gehaltvolle Schrift J.-H. KüHNs. Die vom Aristotelismus beherrschte Medizin des Mittelalters wird mit Recht stets als Schulbeispiel eines starren, wirklichkeitsfremden jurare in verba magistri angeführt, welches sich auf subtil per definitionem ausgeklügelte Krankheitsarten stützt: "Es werden immer weitergehende Unterarten aufgestellt, aber sie sind meist spekulativ abgeleitet, mit Hilfe dieses Denkens gelingt es nicht, dem Ein maligen, Einzigartigen wissenschaftliche Geltung zu verleihen, und so wird es ver nachlässigt ... Individuum est ineffabile" (0. TEMKIN 1929). Allerdings meldet sich bald die Kritik. So war für J. B. VAN HELMONT (1577 -1644) Aristoteles "der Prototyp jener Leute, die die Natur nicht aus ihr selbst, sondern aus allgemeinen und abgezogenen Begriffen ... und Schematen beurteilen" (DELFF). Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß zur Entwicklung der modernen Medizin auch die Zusammenfassung ähnlicher Krankheitsbilder und -Verläufe unter lehrbare Regeln erforderlich war, wobei u. a. SYDENHAM (1624-1689) bahnbrechend wirkte. Was er "am Krankenbett sieht, ... herausgreift ist das Typische, das sich an anderen Wiederholende des pathologischen Geschehens . . . Die Krankheiten sind ihm Wesenheiten ..., seine Krankheitsauffassung ... daher eine ontologische. HIPPOKRATES schreibt Krankengeschichte, SYDENHAM dagegen die Geschichte von Krankheiten" (SIGERIST 1932). Für SYDENHAM stand fest, "daß die gleiche Krank heit bei verschiedenen Menschen mit zum größten Teil gleichen Symptomen auf tritt". 1 Vgl. demgegenüber z. B. meine Untersuchungen mit M. WALLENBERG über Pneumonie delir [Arch. klin. Med. 176 (1933)] bzw. diejenigen meines Mitarbeiters H. TöPFER über chro· nische Pneumonien [Arch. klin. Med. 198 (1951)]. Einleitung 3 Auch in der Medizin des 18. Jahrhunderts steht der Zug zum Verallgemeinern im Vordergrund, der Zug zum Besonderen tritt stark zurück (RrcH. KocH), ohne aber Männern wie BOERHAVE und STAHL fremd zu sein (0. TEMKIN 1929). Die generalisierende Tendenz hat sich dann unter dem Einfluß der materialistischen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts und dem damit verbundenen Bestreben, alle Lebensvorgänge auf chemisch-physikalische Gesetze zurückzuführen, eher noch verstärkt. So stand um 1900 der bekannte Internist v. MERING "noch ganz unter dem Grundgedanken der pathologisch-physiologischen Generalisierung der Krankheitsvorgänge", wie KREHL 1925 ausführt, um dann aber festzustellen, die Klinik habe sich seitdem gewandelt, das Persönliche sei viel mehr in seiner Bedeu tung erkannt worden. Die schematisierende Pathophysiologie müsse deshalb durch das Verständnis der individuellen Verhältnisse des Einzelkranken ergänzt werden. Auch M. MATTRES nennt in seiner Kongreß-Eröffnungsrede 1924 die Indi vidualitätsfrage ein Hauptkennzeichen des Umschwungs im medizinischen Den ken, dem für die moderne Forschungsrichtung maßgebende Bedeutung zukomme. Dieser Kurswandel im medizinischen Denken hat zeitlich seine Vorläufer auf anderen Wissenschaftsgebieten. Stellte doch W. DILTHEY bereits 1896 fest, "daß der Schwerpunkt der Geisteswissenschaften aus dem Erkennen des Gene rellen ... hinüberrückt in das große Problem der Individuation. Die Wissenschaft strebt hier, sich der Fülle des individuellen Lebens zu bemächtigen". Der Normung und Durchschnittsbetrachtung, die mit der ordnenden und ver anschaulichenden Tätigkeit jeder Forschung und Lehre zwangsläufig verknüpft ist, steht die Individualität des Lebens als schwer zu bewältigender Gegenpol gegenüber. Diese wie auch die Komplexität alles Geschehens bedingen, daß alle Verallgemeinerungen nur einen Notbehelf darstellen können und deshalb oft genug mit schweren Mängeln unserer Beurteilung erkauft werden. Die Methode der schulgemäßen klinischen Krankenbeurteilung besteht großenteils darin, "Krank heiten ..., Einheiten des krankhaften Geschehens ... aus der Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit von Zustandsbildern und Verläufen" zu erschließen, "ein im Erfolge zweifelhaftes Verfahren" (A. KRONFELD 1920), dessen Gefahren u. a. darin be stehen, daß "die diagnostischen Auffassungen klinischer Einzelfälle ... schwan kend und widerspruchsvoll werden. Es bilden sich schulmäßige Gegensätzlich keiten und die klinische Forschung selber bietet uns kein Mittel, um sie zu über winden" (KRONFELD). Die endlosen, unerquicklichen und unproduktiven Polemi ken in der Geschichte der Medizin bieten hierfür mannigfache Belege. Es geht aber keineswegs allein um akademische Debatten, sondern -wie in diesem Buche noch genügend belegt werden wird - auch um höchst konkrete Fragen der Beurteilung und Behandlung kranker Menschen. Kein Geringerer als der berühmte Kliniker und Experimentalforscher ALEx. ÜARREL hat dies mit nach drücklichem Ernste ausgedrückt: "Das Mißtrauen der Offentlichkeit gegen die Medizin ... , die Hilflosigkeit der Heilkunde ... ist vielleicht verschuldet durch die Verwechselung der Symbolwelt ... mit dem konkreten Kranken ... Der Mißerfolg der Ärzte kommt davon, daß sie in einer imaginären Welt leben. Statt ihrer Patienten sehen sie Krankheiten vor sich, wie sie in den medizinischen Lehrbüchern beschrieben sind". Vom Arzt werde aber "die unmögliche Leistung verlangt, eine Wissenschaft der besonderen Fälle aufzubauen". Die Führer unserer klinischen Medizin haben diese bedrohliche Lücke unserer Heilkunde keineswegs übersehen. So schreibt K. WuNDERLICH (1841): "Der gleiche Name, unter dem man eine Anzahl von Fällen zusammenfaßt, bedeckt und verhüllt nur die unendlichen Modifikationen, die jeden einzelnen Fall auszeichnen, und die am Ende gerade die Hauptsache sind". Fast ein Jahrhundert später hören wir von KREHL (1929): "Die Schwankungen 1*

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