DISKURSE ZUR ’MUSIK ELLIOTT CARTERS’. VERSUCH EINER DEKONSTRUKTIVEN HERMENEUTIK ’MODERNER MUSIK’ Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorw(cid:252)rde der Philosophischen Fakult(cid:228)t der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universit(cid:228)t zu Bonn vorgelegt von Annette van Dyck-Hemming aus Wesel am Niederrhein Bonn 2002 Inhaltsverzeichnis Dank ...........................................................................................................6 Einleitung ...........................................................................................................7 Hermeneutik und Dekonstruktion..................................................................................19 Diskurs..........................................................................................................................23 Kapitel A: "lack of clarity" (cid:151) Auf der Suche nach ’Durchh(cid:246)rbarkeit’ beim H(cid:246)ren der Piano Sonata (1946, rev. 1982) und von Penthode (1985)..............................................................................30 Methodischer Nexus: Elemente, Regeln, Strategien des Diskurses.............................31 I. Eine H(cid:246)rmitschrift zur Piano Sonata (cid:151) Analysen der "˜u(cid:223)erlichkeiten"...........35 Methodischer Nexus: (Ein-)Ordnung im Diskurs (cid:151) "Carter ist wahrscheinlich der bedeutendste amerikanische Komponist unseres Jahrhunderts."................................38 Methodischer Nexus: Textsorten, Diskursteilnehmer, Formen des Wissens (cid:151) Autorit(cid:228)ten im Diskurs...................................................................................................43 II. Zum traditionellen musikanalytischen Begriffsrepertoire (cid:151) Problematisierung und Sch(cid:228)rfung............................................................................47 Terminologischer Nexus: Harmonik I (cid:151) ’Neoklassizistische’ Harmonik in der Piano Sonata?....................................................................................................50 Terminologischer Nexus: Zeit I (cid:151) Metrum, Rhythmus, Takt, Tempo.........................58 Historisch-kultureller Nexus: Zur Soziologie des Klaviers.............................................68 Historisch-kultureller Nexus: Nadia Boulangers Schule und die ˜sthetik der ’Epiphanie’...........................................................................................71 III. H(cid:246)rmitschriften zu Penthode (cid:151) Metaphernfelder und Kommunikation im Diskurs 79 Terminologischer Nexus: "What ever happened to good old melody?" (cid:151) Melodie und Phrase......................................................................................................85 Terminologischer Nexus: Harmonik II (cid:151) Ein ’postserielles’ Repertoire......................90 Methodischer Nexus: Weitere ˜u(cid:223)erungsmodalit(cid:228)ten (cid:151) Subjekte, Foren, Positionen im Subdiskurs ’(cid:155)Elliott Carter(cid:139) in Allgemeinen Zeitungen und Zeitschriften in New York und Boston’.............................97 IV. "The Turning Point" (cid:151) Zur Ordnung der Subdiskurse.......................................106 Methodischer Nexus: Die Diskurselemente ’Bruch’ und ’Reife’...................................109 Historisch-kultureller Nexus: "The horrible charge of (cid:155)intellectualism(cid:139)" (cid:151) Zu Funktion und Kontinuit(cid:228)t eines Diskurselementes.................................................119 Terminologischer Nexus: Zeit II (cid:151) Zur Unterscheidung von Zeitformen..................128 3 Kapitel B: "original, responsible, serious and adult" (cid:151) String Quartet No. 4 (1986) und Enchanted Preludes (1988) vor dem Hintergrund der ’Avantgarde’-Tradition......................137 Terminologischer Nexus: Eine Diskursgrenze: Der Formbegriff (cid:151) Form als Architektur und Form als Proze(cid:223).................................................................139 Historisch-kultureller Nexus: Die Diskurselemente ’Komplexit(cid:228)t’ und ’Repetition’ ..................................................................................................................149 I. "But there’s much more to catch you happily unaware." (cid:151) H(cid:246)rmitschriften zu String Quartet No. 4.................................................................158 Historisch-kultureller Nexus: Anerkennung f(cid:252)r den Komponisten (cid:151) Elliott Carters Streichquartette und ’der Markt’............................................................159 Terminologischer Nexus: Die ’Gattung’ Streichquartett als diskursive Einheit im Subdiskurs ’Avantgarde-Publikum’.........................................................................171 Terminologischer Nexus: Zeit III (cid:151) Simultaneit(cid:228)t und (Dis-)Kontinuit(cid:228)t....................177 II. Kammermusik und Avantgarde-Tradition..............................................................187 Historisch-kultureller Nexus: "Elliott Carter in den USA, Gy(cid:246)rgy KurtÆg in Ungarn, Giacinto Scelsi in Italien, Conlon Nancarrow in Mexico, Galina Ustwolskaja in Ru(cid:223)land" (cid:151) Das Diskurselement ’Internationalit(cid:228)t’................189 III. "The Secret Heart of Sound" (cid:151) Die geheime Botschaft von Enchanted Preludes..........................................................................................194 Terminologischer Nexus: Harmonik III (cid:151) ’Serialism’. Widerspr(cid:252)che eines Subdiskurses..............................................................................197 IV. Regelm(cid:228)(cid:223)igkeiten diskursiver Praxis.....................................................................207 Methodischer Nexus: Ein Formationssystem im Diskurs: Die Szene.........................209 Historisch-kultureller Nexus: Szene und M(cid:228)zene.......................................................214 Zusammenfassung (cid:151) M(cid:246)glichkeiten und Gefahren einer dekonstruktiven Hermeneutik...........................................221 4 Anhang 1: Weitere Diskursbeitr(cid:228)ge..............................................................226 I. Interviews 226 1. Interview mit Elliott Carter am 3. Dezember 1995 in 31 West 12th, New York......226 2. Interview mit Nancy Clarke, Direktorin des American Music Center, am 28. November 1995 im American Music Center, New York City......................231 3. Interview mit Dr. Felix Meyer, Leiter des Stiftungsarchivs, am 16. M(cid:228)rz 1995 in der Paul Sacher Stiftung, Basel............................................236 4. Interview mit Prof. Dr. Christoph Wolff, Dekan des Fachbereichs Musik an der Harvard University, am 20. November 1995 in der Harvard University, Boston, Massachusetts..........................................................................................247 II. Sonstige Untersuchungsergebnisse und Materialien...........................................253 1. Abschrift eines Typoskripts aus den Unterlagen zu Piano Sonata in der Paul Sacher Stiftung, Basel..........................................................................253 2. Programmhefte zu Piano Sonata in der Paul Sacher Stiftung................................253 3. Sharon L. Scholl (Jacksonville University), String Quartet Performance As Ritual....................................................................255 4. H(cid:246)rversuch Enchanted Preludes am 20. M(cid:228)rz 1995 im Doktorandencolloquium von Prof. Dr. Erik Fischer im Musikwiss. Institut der Universit(cid:228)t Bonn............................................................262 Anhang 2: Verzeichnisse...............................................................................265 I. Abk(cid:252)rzungen.............................................................................................................265 II. Schemata ..................................................................................................................266 III. Notenbeispiele ..........................................................................................................267 IV. Verzeichnis der zitierten Medien.............................................................................269 1. Printmedien au(cid:223)er Noten.......................................................................................269 2. Schallaufnahmen, Filme, Internetadressen............................................................278 3. Skizzen und Briefe aus der Sammlung ’Elliott Carter’ der Paul Sacher Stiftung, Basel.............................................................................278 V. Verzeichnis von Kompositionen Elliott Carters.....................................................279 5 «Das», sagte Peter, nachdem Tenor und Alt sich zur letzten freund- schaftlichen Kadenz umeinandergewunden hatten, «ist das wahre A und O der Musik. Harmonie kann haben wer will, wenn er uns nur den Kontrapunkt l(cid:228)(cid:223)t. [...]» (Dorothy L. Sayers: Aufruhr in Oxford. Reinbek 1992 [1935], S. 395) 6 Dank Wie wohl im Hinblick auf die folgenden Texte selbstverst(cid:228)ndlich versichert wurde, da(cid:223) diese ohne fremde Hilfe entstanden, ist andererseits kaum vorstellbar, da(cid:223) die Verfasserin nicht vielen auf die ei- ne oder andere Art hilfreichen Menschen zu Dank verpflichtet w(cid:228)re. Von diesen allen seien zun(cid:228)chst diejenigen genannt, die die unl(cid:228)(cid:223)lichste aller Voraussetzungen (cid:151) die Finanzierung des Projektes (cid:151) gesichert haben, allen voran das Cusanus-Werk, Bonn, meine Eltern und schlie(cid:223)lich die Paul Sacher Stiftung in Basel. Auf den thematischen Komplex ’Die Musik Elliott Carters’ wies mein Doktorvater Prof. Dr. Erik Fischer hin; ihm und einem Exkurs in die Neuere Literaturwissenschaft, die an der Universit(cid:228)t Bonn durch Prof. Dr. J(cid:252)rgen Fohrmann vertreten ist, verdanke ich die wichtigsten methodischen Anregun- gen. Diese beiden Kultur-Wissenschaftler haben nicht unerheblichen Anteil an meiner Verabschiedung vom archimedischen Standpunkt und der im folgenden versuchten vernetzten Art der Fragestellung. Wertvoll erscheinen mir in diesem Punkt nicht zuletzt auch die n(cid:228)chtelangen Diskussionen in meiner Wohngemeinschaft, deren Mitglieder mir als Gespr(cid:228)chspartner und Probanden zur Verf(cid:252)gung standen. Ebenso danke ich allen anderen ’Versuchskaninchen’, hervorgehoben die Besucher eines Vortrags im Rahmen des ’MuwiForum K(cid:246)ln’, das von Markus Heuger initiiert wurde. Besonders herzlicher Dank f(cid:252)r ihre Bereitschaft, Offenheit und Geduld gilt meinen Interviewpart- nern Dr. Felix Meyer von der Paul Sacher Stiftung, Basel, Director Nancy Clarke vom American Mu- sic Center, Prof. Dr. Christoph Wolff, Dean des Music Departement der Harvard University und ehe- maliger Chair der Paul Fromm Foundation sowie (cid:151) last but not least (cid:151) dem Komponisten und Humanisten Mr. Elliott Carter. Hier und auf der anderen Seite des Atlantik gab und gibt es jede Menge weiterer unterst(cid:252)tzender Kr(cid:228)fte, von denen ich nur wenige nennen kann: stellvertretend f(cid:252)r alle bibliothekarisch Zust(cid:228)ndigen sei Nils Grosch erw(cid:228)hnt, der mich in der ersten Phase zuverl(cid:228)ssig und selbstlos mit schwierig erreich- baren Materialien versorgte; auch Leigh Warre, meine Gastgeberin w(cid:228)hrend meines Aufenthaltes in New York, Dr. John Link und seiner Familie, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Institut of Studies in American Music in Brooklyn, allen voran Dr. Ray Allen spreche ich an dieser Stelle herzli- chen Dank aus (cid:151) ich wei(cid:223) nicht, wer diesen Mythos von den unfreundlichen New Yorkern erfunden hat, wahrscheinlich sie selbst, damit man nicht sofort merkt, wie freundlich und hilfsbereit sie sein k(cid:246)nnen. Der letzte Dankessatz gilt Thomas Ahrend, Berlin, und meinem Mann Jan Hemming (cid:151) ohne die- se streitbaren Korrekturleser und vor allem ohne die Konstruktivit(cid:228)t und den Optimismus des letzteren w(cid:228)re diese Arbeit wohl nie fertig geworden. Ich widme die Arbeit meinen beiden Gro(cid:223)m(cid:252)ttern Josefine van Dyck, geb. Winschuh (1898-1988) und Helene Hartjes geb. Paschmanns (1912-1994), (cid:252)ber deren Leben und Werk es keinen wissen- schaftlichen Diskurs gibt. Halle an der Saale, August 2001 Annette van Dyck-Hemming Einleitung Kaum eine Zeit der letzten Jahre ist mir so lebhaft in Erinnerung wie die sechs Wochen, die ich in New York City verbrachte, um Studien hinsichtlich dieser Dissertation (cid:252)ber Elliott Carters Musik zu betreiben. Ich war fasziniert vom ersten Augenblick an! This Was It. Die Menschen, die Stra(cid:223)en, diese architektonischen Wunderwerke, diese Vielfalt, diese Gr(cid:246)(cid:223)e; wie sollte ich je in einer Dissertation mit wissenschaftlichem Sprachstil einen Funken der Energie verspr(cid:252)hen, die in dieser Stadt unverhohlen nur l(cid:228)ssig geb(cid:228)ndigt wird? Ich hatte das Gl(cid:252)ck, in Brooklyn zu wohnen, in dem heute von Galerien und Boutiquen verein- nahmten Williamsburg bei einer als Grundschullehrerin arbeitenden K(cid:252)nstlerin, nicht viel (cid:228)lter als ich, die aus einer halbfranz(cid:246)sischen Familie stammte. Ihre Wohnung wurde der Ausgangspunkt f(cid:252)r meine Streifz(cid:252)ge nach Boston, Manhattan und Brooklyn, an das Institut of Studies in American Music am Brooklyn College, in das American Music Center in der 26. Stra(cid:223)e, das Lincoln Center in der 62., die Public Library an der 5th Avenue und in die West 12th Street in Greenwich Village, wo Mr. und Mrs. Carter lebten. (cid:150) Wie k(cid:246)nnte ich mit einer Diskursanalyse die Begeisterung f(cid:252)r die Erfahrungen und Erkenntnisse mitteilen, die ich an diesen Orten und mit den Menschen erlebt und gewonnen habe? An dem Internet-Terminal im Center of Science in Harvard, in der Mensa des Brooklyn College mitten in Flatbush, vor den Stapeln von Materialien des American Music Center, Kisten mit ausrangierten Lang- spielplatten durchst(cid:246)bernd in der Library of Performing Arts, Elliott Carter applaudierend in der Alice Tully Hall, die falsche U-Bahn nehmend nach einem Konzert in der Columbia University, auf die An- zeige der Ausleihnummern wartend in der Public Library, im Gespr(cid:228)ch mit Carter in seinem Apparte- ment mit Blick (cid:252)ber das Village... Ganz zu schweigen von den unz(cid:228)hligen cinamon-bagels with cream, die ich verspeist habe (cid:150) aber jetzt fange ich an zu tr(cid:228)umen und vergesse beinahe die andere Seite der Medaille: die Obdachlosen, die in der Public Library ihr sicheres Nickerchen hielten, den schwarzen Garderobier in der Library of Performing Arts, der sich unfl(cid:228)tige Drohungen eines wei(cid:223)en Pedanten anh(cid:246)ren musste, die Sch(cid:252)ler, deren Identit(cid:228)t aus Sicherheitsgr(cid:252)nden bei jedem Gang in oder aus einem Geb(cid:228)ude des Brooklyn Col- lege (cid:252)berpr(cid:252)ft wurde, das Ehepaar in der Alice Tully Hall, das auffiel wie ein bunter Hund, nicht weil es merkw(cid:252)rdig angezogen war, sondern weil es als einziges eine dunkle Hautfarbe hatte. Nein, man sollte schon genau hinschauen. Aber: hat nicht die Autorin jetzt gerade ohnehin genau die unmittelbaren Begeisterungsst(cid:252)rme des Neulings wiederholt, der dem Mythos von New York City erliegt, und seine leicht erschrockenen skeptischen Anwandlungen, wie sie unz(cid:228)hlige Male beschrieben und besprochen wurden? Es macht nat(cid:252)rlich einen Unterschied, ob man mit nostalgisch-melancholischer Brille Filme dar(cid:252)ber dreht wie Woody Allen oder Jim Jarmusch, Lieder schreibt wie Lou Reed, ob man die harten Seiten des Themas in Romanen und Erz(cid:228)hlungen verarbeitet wie John Dos Passos oder Paul Auster, als Korrespondent dar(cid:252)ber berichtet wie Werner Becker oder diesem Thema einige Zeilen einer Dissertation widmet. Die einzelnen filmischen, musikalischen, literarischen, journalistischen, wissenschaftlichen Expressionen sind so verschieden wie sie eben sind, und doch gruppieren sie sich auf einer bestimmten Ebene. Sie alle verbindet das Thema New York. Oder anders gesagt: sie geh(cid:246)ren s(cid:228)mtlich zum Diskurs New York, und schon durch die wenigen Anfangszeilen des vorliegenden Textes wird der Aussagengruppe, d. h. dem Diskurs eine weitere Aussage hinzugef(cid:252)gt (cid:151) eine Aussage, die z. B. das bereits in anderen Aussagen variierte Element ’New York (cid:151) Stadt der Widerspr(cid:252)che’ enth(cid:228)lt und die auf die implizite, von vielen (cid:228)lteren, diskurshierarchisch einflussreicheren und exponiert positionierten Aussagen etab- lierte Diskursregel W(cid:252)rdige den Mythos New York! rekurriert. 8 Dies zu reflektieren, kann die Autorin andererseits nicht hindern, dem Mythos genauso zu erliegen wie andere Diskursteilnehmer. Sie "ist kein unschuldiges Subjekt"1, sondern wie der Themenkomplex, der Diskurs New York selbst oder wie auch der Diskurs ’Die Musik Elliott Carters’, um den es in der vorliegenden Arbeit gehen wird, ist das Ich, die Autorin, eine "Pluralit(cid:228)t anderer Texte, unendlicher Codes", wie es Roland Barthes ausdr(cid:252)ckt. V(cid:246)llige Unvoreingenommenheit ist nicht m(cid:246)glich und auch nicht sinnvoll. Die konsequenterweise auch im folgenden im Ich, in dessen H(cid:246)rmitschriften, Erfah- rungsberichten oder Interviews vorgef(cid:252)hrte Subjektivit(cid:228)t, die sich dem spontanen Verdacht der Unwis- senschaftlichkeit aussetzt, kann eine Darstellung, die sich den Regeln der Nachvollziehbarkeit und Plausibilit(cid:228)t unterwirft, nicht wirklich einseitig personalisieren. Jede Art von Subjektivit(cid:228)t "ist nur die hinterlassene Spur aller Codes, die mich zusammensetzen", die ich mit sehr vielen Menschen (cid:151) be- zogen auf den Diskurs: mit sehr vielen Diskursteilnehmern (cid:151) teile. Tats(cid:228)chlich hat "meine Subjek- tivit(cid:228)t letztlich etwas von der Allgemeinheit von Stereotypen"; die rekursive Beobachtung vermeint- lich subjektiver ˜u(cid:223)erungen kann damit sogar weitere Erkenntnisse (cid:252)ber Art und Regeln des Diskur- ses erm(cid:246)glichen. Ohnehin muss man zugestehen, dass auch die Idee einer ’Objektivit(cid:228)t’ "ein imagin(cid:228)- res System wie alle anderen"2 darstellt; sie ist eine metaphorische und rhetorische Konstruktion, mit der der Betrachter au(cid:223)erhalb des zu Betrachtenden gestellt werden soll, um beide im Rahmen wissen- schaftlicher Diskurse durch Attribute der Objektivit(cid:228)t wie ’Unabh(cid:228)ngigkeit’, ’Unvoreingenommenheit’, ’Allgemeing(cid:252)ltigkeit’, sogar ’Wahrheit’ "vorteilhafter benennen zu lassen"3, wirkungsvoller zu adeln, aber auch um sich der Erkenntnisleistung einer wissenschaftlichen Arbeit sicherer zu sein, sie besser vergewissern, d. h. sie (selbst)verst(cid:228)ndlicher machen zu k(cid:246)nnen4. Die Fragw(cid:252)rdigkeit der Opposition von Subjektivit(cid:228)t und Objektivit(cid:228)t vorausgesetzt kann man das ’Material’, das sich zum Diskurs gruppiert, auch nicht mehr polar in ’prim(cid:228)r’ und ’sekund(cid:228)r’ oder in ’Fakten’ und ’Interpretation’ oder ’Analyse’ und ’Deutung’ aufteilen und damit von vornherein Aussagen (cid:252)ber Glaubw(cid:252)rdigkeit, Zuverl(cid:228)ssigkeit oder Nutzen einer entsprechend eingeordneten Quelle treffen. Dass die Aneignung narrativer5 Komplexe wie Mythen6 n(cid:228)mlich nicht nur f(cid:252)r quasi-literarische Text- sorten7 wie M(cid:228)rchen, Romane, also sogenannte ’Prim(cid:228)rtexte’, oder f(cid:252)r den Beginn der Einleitung die- ser Dissertation festzustellen ist, sondern auch f(cid:252)r den umfassenden Bereich der Geschichtswissenschaften gilt, hat Hayden White gezeigt, der die grunds(cid:228)tzlichen (cid:220)berlegungen und Konsequenzen aus Dekonstruktion und Diskurstheorie mit der g(cid:228)ngigen Praxis in der Historik konfrontiert. Jede Faktenauswahl sei bereits ein interpretativer Akt, Zusammenh(cid:228)nge zwischen ’Fakten’ w(cid:252)rden vor allem auf der Ebene der Sprache konstituiert, etwa mit Hilfe von Ursache- 1 Roland BARTHES, S/Z. Frankfurt/ M. 1987, S. 14; auf dieser Seite sind auch (cid:151) wenn nicht anders angegeben (cid:151) alle anderen im einzelnen nicht nachgewiesenen Zitate dieses Absatzes zu finden. 2 Ib., S. 15. 3 Ib. 4 Vergewisserung ist nur eine aus einer Reihe von Eigenschaften menschlicher Wirklichkeitsauffassungen, die bis in die achtziger Jahre hinein in ihrer Bedeutung f(cid:252)r die Erkenntnisleistung des Menschen unbenannt blieben. Wolfgang Wurm stellte sie in seinem Buch ’Evolution(cid:228)re Kulturwissenschaft’ zusammen (Wolfgang WURM, Evolution(cid:228)re Kulturwissen- schaft. Die Bew(cid:228)ltigung gef(cid:228)hrlicher Wahrheiten oder (cid:252)ber den Zusammenhang von Psyche, Kultur und Erkenntnis. Stuttgart 1991, S. 36 ff.). Im gr(cid:246)(cid:223)eren poststrukturalistischen Theoriediskurs wurden solche (cid:220)berlegungen im Rahmen der Problematisierung traditioneller philosophischer und literaturwissenschaftlicher Paradigmen wie ’Identit(cid:228)t’, ’Pr(cid:228)senz’, ’Subjekt’ etc. aber schon seit den siebziger Jahren thematisiert. Vgl. zum Problem der Objektivit(cid:228)t bzw. Evidenz auch den Abschnitt ’Hermeneutik und Dekonstruktion’ im folgenden, S. 19. 5 Als narrativ gilt eine ’Form, die eine gegebene Ereignisfolge haben mu(cid:223) und au(cid:223)erdem eine Plotstruktur aufweist,’ im Sinne von Hayden WHITE, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991 [1986, Jahreszahlen in eckigen Klammer geben das Jahr der Erstausgabe an], S. 70 ff.; vgl. auch im folgenden, S. 44 f. 6 Synonym zu ’kulturell als Wahrheit fundierte Fiktion’ im Sinne von Hayden WHITE, Auch Klio dichtet... (Anm. 5), besonders S. 180 ff. 7 Vgl. zum Begriff Textsorten den Nexus ’Textsorten, Diskursteilnehmer, Formen des Wissens’ im folgenden, S. 43. 9 der Ebene der Sprache konstituiert, etwa mit Hilfe von Ursache-Wirkung- oder Teil-Ganzes- Relationen, als Beschreibungen von ’Epochen’, ’Gattungen’ u. (cid:228).8 In der vorliegenden Arbeit werden also vielf(cid:228)ltigste Sorten von Quellen einbezogen (cid:151) eben alles, was Aussagen zum Diskurs enth(cid:228)lt: au(cid:223)er schriftlich vorliegenden Quellen wie Monographien, Fach- artikeln, CD-Beiheften, Rezensionen, Interviews und dergleichen geh(cid:246)ren auch Filme, Bilder, (schrift- lich festgehaltene) Erfahrungen und H(cid:246)reindr(cid:252)cke dazu und dar(cid:252)ber hinaus speziell f(cid:252)r diese Disserta- tion verfasste musikalische Analysen und Interpretationen. Die vermeintlich ’subjektivsten’ dieser Textsorten wie Erfahrungsberichte, H(cid:246)rmitschriften und auch musikalisch-hermeneutische ’Erkl(cid:228)run- gen’ folgen oft am treulichsten den (cid:252)berindividuellen, internen Regeln des Diskurses ’Die Musik Elli- ott Carters’. Ihre Erstellung und rekursive Betrachtung erm(cid:246)glicht (cid:151) wie es Clifford Geertz9 f(cid:252)r den Bereich der Kulturwissenschaften zeigen konnte und Christopher Small10 f(cid:252)r musikologische Zusam- menh(cid:228)nge darlegte (cid:151) ein durch "dichte Beschreibung"11 reflektiertes teilnehmendes Verstehen der "selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe"12, als die man Kultur (cid:151) und eben auch Musik-Kultur (cid:151) ansehen kann. Und trotz bzw. gerade aufgrund der "Dispersion"13 und "Diskontinuit(cid:228)t"14 diskursiver Ereignisse zum Thema ’Die Musik Elliott Carters’ k(cid:246)nnen mit Hilfe des begrifflichen Repertoires der Dekonstruktion bzw. im speziellen der Diskurstheorie15 Funktionsweisen und Gesetzm(cid:228)(cid:223)igkeiten des Diskurses etwa im Hinblick auf die Konstitution von musikalischer Bedeutung, von biographischer Identit(cid:228)t, von Konsens durch terminologische Unsch(cid:228)rfen formuliert werden. Warum soll dieses Vorgehen ausgerechnet an der Musik Elliott Carters erprobt werden? (cid:151) Vor allem in personell (cid:252)berschaubaren amerikanischen und europ(cid:228)ischen Fachkreisen kennt man Elliott Carters Musik, obwohl ihm von der Stadt Los Angeles ein eigener Tag gewidmet16 und Carter 1993 vom popul(cid:228)ren Musikmagazin Musical America zum Komponisten des Jahres erko- ren wurde17. Doch schon wird die Musik allenthalben mit plakativen Etiketten belegt: Carter sei ein Komponist der "radikalen Moderne"18 oder der ’amerikanischen Moderne’19. In europ(cid:228)ischen Musikgeschichtsentw(cid:252)rfen dient Carter als Vertreter einer ganzen ’Richtung’, w(cid:228)hrend er in den USA als relativ isoliert arbeitender Individualist gilt. Das Aufzeigen von kulturellen Vernetzun- gen des Ph(cid:228)nomens ’Die Musik Elliott Carters’ scheint die angemessene Methode zu sein, diffe- renziert ’Einordnung’ zu bieten und gleichzeitig darstellen zu k(cid:246)nnen, welche Funktionen solche ’Einordnungen’ erf(cid:252)llen. 8 WHITE, Auch Klio dichtet... (Anm. 5), S. 83 ff. 9 Clifford GEERTZ, Dichte Beschreibung. Beitr(cid:228)ge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1997 [New York 1973]. 10 Christopher SMALL, Musicking. The Meanings of Performing and Listening. Hanover, New Hampshire 1998, vgl. be- sonders S. 13 ff. 11 GEERTZ, Dichte Beschreibung (Anm. 9), S. 10 ff. 12 Ib., S. 9. 13 Michel FOUCAULT, Arch(cid:228)ologie des Wissens. Frankfurt 1994 [Paris 1969], S. 41. 14 Ib., S. 17 ff. 15 Vgl. im folgenden, S. 19 ff. 16 Joan LABARBARA, [oh. Tit.]. In: Musical America 8/1978. 17 Andrew PORTER, 1993 (cid:151) Composer of the Year. In: Musical America Directory 1993, S. 29-31. 18 Hermann DANUSER, Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Carl DAHL- HAUS (Hg.). Laaber 1984, S. 292. 19 Hermann DANUSER, Ein Klassiker der amerikanischen Moderne: zum 80. Geburtstag des Komponisten Elliott Carter am 11. Dezember. In: Neue Z(cid:252)rcher Zeitung 10/11.12.1988, S. 289; vgl. zu den Diskursregeln f(cid:252)r ’Einordnung’ auch den Nexus ’(Ein-)Ordnung im Diskurs’, S. 38. 10 (cid:151) Nordamerikanische Musik ist ein weites Feld. Dies sollte aber nicht der Schlusssatz jeder Be- sch(cid:228)ftigung damit sein, wenn die Namen ’Charles Ives’, ’Aaron Copland’ und ’John Cage’ gefallen sind. (cid:220)berspitzt ausgedr(cid:252)ckt: es f(cid:228)llt vielen Europ(cid:228)ern schwer, sich die Art organisierter Vielfalt, wie die Kultur der Vereinigten Staaten sie bietet, (cid:252)berhaupt als koexistent vorzustellen. Mancher bevorzugt es daher immer noch, von der ’Kulturlosigkeit’ einer ganzen Gesellschaft zu sprechen. Dies hat in nicht geringem Ma(cid:223) damit zu tun, dass ’die nordamerikanische Kultur’ (nur aus gro(cid:223)er Ferne kann man (cid:252)berhaupt einen derartigen Singular daf(cid:252)r w(cid:228)hlen) d. h. auch und gerade die an europ(cid:228)ische Traditionen angelehnten kulturellen Diskurse in den Vereinigten Staaten bei n(cid:228)herem Hinsehen sehr schnell die Erwartung entt(cid:228)uschen, alles ’sei wie zu Hause’. (cid:151) Gott sei Dank ist Amerika kein zweites Europa, sondern hat eine eigene Geschichte, ein eigenes gesellschaftliches Wertesystem und eine eigene hochdifferenzierte Kultur entwickelt, mit der zu besch(cid:228)ftigen auf- grund der vielschichtigen Geflechte hochinteressant ist und (cid:151) wegen des dadurch neuzugewin- nenden Blicks auf europ(cid:228)ische Verh(cid:228)ltnisse (cid:151) sehr viel (cid:252)ber unsere eigenen Scheuklappen aus- zusagen vermag. (cid:151) Die biographischen Gr(cid:252)nde sind wahrscheinlich die ausschlaggebenden: Carters Musik lernte ich w(cid:228)hrend der Wittener Tage f(cid:252)r Neue Kammermusik kennen in Form einer Auff(cid:252)hrung von A Mirror On Which To Dwell und war spontan vom Engagement, das ich in den Texten von Elisa- beth Bishop las, und von der ’bedeutsamen’ Art der Musik angesprochen: von der ideenreichen Instrumentation, der illustrativen und doch nicht plakativen Melik, der Vielgestaltigkeit der Mit- tel, ohne dass das ’Okkulte der Avantgarde’ ins ’Mythisch-Geniehafte’ (cid:252)berzogen wurde. Erst die Suche nach einem Thema f(cid:252)r die Magisterarbeit, meine Vorliebe f(cid:252)r amerikanische Musik und der Hinweis eines Dozenten setzten mich wieder auf die Spur. Ich fand in Elliott Carter einen A- ristoteliker, der sein Leben geistreicher Originalit(cid:228)t widmete und vor dem Hintergrund exzellenter Bildung und eines g(cid:252)nstigen gesellschaftlichen Kontextes ’wirklich gute’ Musik schrieb. Diesen ’unmittelbaren’ Eindruck hielt ich in der Magisterarbeit fest und bin nach wie vor stolz auf meine dort pr(cid:228)sentierten Analysen von String Quartet No. 4, Double Concerto for Harpsichord and Pi- ano With Two Chamber Orchestras sowie A Mirror On Which To Dwell.20 Die Beobachtungen, die ich gemacht hatte, wiesen aber darauf, dass eine (cid:252)bergreifende, vielschichtige Verortung unter Analyse des bestehenden Diskurses viel (cid:252)ber das kulturelle Verh(cid:228)ltnis ’Amerika-Europa’, (cid:252)ber ge- sellschaftliche und kulturelle Strukturen sowie (cid:252)ber die Funktion und Bedeutung von Musik in spezifischen Kontexten ergeben w(cid:252)rde. Insbesondere lenkte meine Arbeit den Blick auf die er- staunliche Art und Weise, wie Menschen (cid:252)ber und mittels als ’schwierig’ und ’schwer zug(cid:228)nglich’ apostrophierte Musik kommunizieren. Dies begann ich als Ausdruck u. a. von ’Verstehen’ zu be- greifen, welches ich in seiner Funktion und Funktionsweise wiederum verstehen wollte. * Der Diskurs, um den es hier gehen soll (cid:151) er wird ’Die Musik Elliott Carters’ genannt -, bildet mit dem bereits erw(cid:228)hnten Diskurs New York eine Schnittmenge. Auch die Abgrenzung dieser Schnitt- menge wird unter anderem im folgenden interessant sein. Denn Elliott Carter wurde 1908 in New Y- ork City geboren, lebte und arbeitete dort die meiste Zeit seines Lebens. Er erh(cid:228)lt immer noch aus ei- nem bestimmten Teil der Gesellschaft New Yorks besondere (cid:246)ffentliche Anerkennung f(cid:252)r seine Kom- positionen. Dieser Teil der kulturellen Szene New Yorks hat mit dem Bau des Lincoln Center in der Lower West Side in den sechziger Jahren ein institutionelles Zentrum erhalten, um das sich Einrich- tungen wie die Public Library, die Columbia University, die Carnegie Hall, das Metropolitan Museum, 20 Annette VAN DYCK, ’what the first note is going to be’ (cid:151) K(cid:252)nstlerisches Repertoire und kompositorischer Proze(cid:223) in der Musik Elliott Carters. Magisterarbeit. Bochum, Fakult(cid:228)t f(cid:252)r Geschichtswissenschaft 1992.
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