Immer wieder Heimat 100 Jahre Heimatmuseum Neukölln Immer wieder Heimat 100 Jahre Heimatmuseum Neukölln Herausgeber Udo Gößwald im Auftrag des Bezirksamts N eukölln von Berlin Abt. Bildung und Kultur Kulturamt/Heimatmuseum ~ MUSEUM FOR STADTKULTUR UND REGIONALGESCHICHTE HBMATMIISEUM NEUKUUN 1981 MUSEUMSPIElS OfS fUIOI'AtATES Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Impressum Dieses Buch erscheint als Begleitband zur Ausstellung Immer wieder Heimat 100 Jahre Heimatmuseum Neukölln I. Oktober 1997 - 4. Oktober 1998 Heimatmuseum Neukölln Ganghaferstraße 3 1204 3 Berlin AUSSTELLUNG Projektleitung: Udo Gößwald Konzeption: Monika Bönisch, Udo Gößwald, Cornelia Hüge, Christa Jancik, Stefan Paul, Rudolf Rogler, Claudia Rücker, Andrea Szatmary Gestaltung: Jürgen Freter, Dagmar von Wilcken, Ruthe Zuntz Mitarbeit: Mathias Kinzel, Angelika Schmidt, Iugeburg Schwibbe, Marion Seebade, Holger Starzmann, Lutz Vetter, Anna-Sophie Wagner Grafische Mitarbeit: Cilly Böhm Ausstellungsbau: Firma Museumstechnik, Firma Neumann-Schornsteinbau, Manfred Wolf unter Mitarbeit von Armin Gründler, DarekJez, Frank van Roode, Bernd Runge, Stefan Weichert, Kirk Ragner Wutsche! AV-Technik: Michael Reitz Beleuchtungstechnik: Michael Dietze Tontechnik: Gunther Birnbaum Sprecher: Marian Wolf, Karsta Zimmermann Reproarbeiten: Friedhelm Hoffmann KATALOGBUCH Herausgeber: Udo Gößwald im Auftrag des Bezirksamts Neukölln von Berlin Abt. Bildung und Kultur Kulturamt/Heimatmuseum Lektorat und Redaktion: Monica Geyler Bildredaktion: Monica Geyler, Claudia Rücker, Andrea Szatmary Redaktiomassistenz: Reinhard von Bernus, Angelika Schmidt Gestaltung: Marion Meyer, Büro für Gestaltung, Berlin Lithographie: Reprowerkstatt Rink, Berlin Copyright: 1997 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei den Herausgebern und Verlag Leske + Budrich 1997 ISBN 978-3-663-09171-4 ISBN 978-3-663-09170-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-09170-7 Inhalt Vorwort 6 MICHAEL WENDT Bezirksstadtrat für Bildung und Kultur Uoo GösSWALD 8 Immer wieder Heimat STEFAN PAUL 1& Menschen machen Museen Aus der Chronik des Heimatmuseums RuooLF RoGLER 43 Mutmaßungen über eine Museumsgründung in Rixdorf CHRISTA )ANCIK s& Die Odyssee eines Neuköllner germanischen Reiters DoROTHEA KoLLAND 74 Die Widerstandskiste MoNIKA BöNISCH 89 Dinge im Museum - noch immer in Gebrauch? Anmerkungen zur Sammlung CLAUDIA RücKER 99 Von der Perspektive zur Netzstruktur Objektpräsentation im Heimatmuseum Neukölln ANDREA SzATMARY 113 Das Museum: ein Spiel mit der Realität 119 Rundgang durch die Ausstellung CoRNELIA HüGE 120 Der Blick auf die Stadt-Der erste Raum Uoo GösswALD CHRISTA )ANCIK CLAUDIA RÜCKER ANDREA SZATMARY 126 Wenn Steine reden - Der zweite Raum MONIKA BöNISCH 157 Gegenstände der Betrachtung - Der dritte Raum Anhang 164 Autoren Bildnachweis Ausstellungen seit 1982 100 Jahre Heimatmuseum Im Jahre 1997 kann man guten Gewissens von einem Zeit punkt sprechen, in dem ein Jahrhundert abläuft. Nicht zufällig befin den wir uns daher auch in einer Zeit, in der sich manch Ereignis zum 100. Mal jährt. Das Neuköllner Heimatmuseum geht jedoch vielen Museen der gleichen Art zumindest zeitlich ein kleines Stück voran. Die Geschichte eines Museums zu beschreiben ist schwer, weil es doch selbst Geschichte beschreibt. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Museums wäre somit die Auseinandersetzung mit den Beschreiberinnen und Beschreibern von Geschichte. Da Menschen, die Geschichte festhalten, auch immer Teil ihrer eigenen Zeitgeschichte sind, gibt es auch in der Geschichte des Neuköllner Heimatmuseums Brüche und Veränderungen, die die Brüche und Veränderungen der letzten 100 Jahre wiedergeben. Die oberste und wichtigste Aufgabe von Menschen, die mit Geschichte umgehen, ist es jedoch, ehrlich zu sein, d.h. positiven wie auch negativen Abschnitten gerecht zu werden. Blicken wir nur auf die IetztenJahre zurück, so können wir das mit Stolz tun. Einer der Höhepunkte war ganz sicher die Verleihung des Museumspreises des Europarates vor zehn Jahren. Das Neuköllner Heimatmuseum ist keine Institution, die .nur Geschichte beschreibt. Es fordert immer wieder dazu auf, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, bezieht dabei bewußt Zeitzeu gen mit ein und ermuntert Kinder und Jugendliche, Geschichte zu erforschen. Es leistet auch einen Beitrag, damit unsere eigene Zeit geschichte einen positiven Verlauf nimmt - sei es, indem wir Bürger animieren, die eigene Geschichte und die Geschichte der Nachbarn,. die oft aus fremden Kulturen stammen, zu verstehen oder sei es, indem wir Kinder und Jugendliche anregen, zur Gestaltung ihrer Umwelt beizutragen. Das Neuköllner Heimatmuseum ist damit im besten Sinne des Wortes ein aktives Museum. Vor wenigen Jahren wäre es üblich gewesen, das lOOjährige Bestehen mit einem grandiosen und aufwendigen Festakt zu begehen. Im Jahre 1997 müssen wir bescheidener sein. Auch das ist Zeitge schichte. Wir freuen uns um so mehr, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Heimatmuseums eine großartige Jubiläumsausstellung organisiert haben und daß es sich viele engagierte Freundinnen und Freunde des Hauses nicht haben nehmen lassen, dieses Jubiläum mit uns zu begehen. 6 Natürlich ist eine 100-Jahr-Feier nicht nur Anlaß zum Rück blick. Zu Recht wird auch nach Zukunftsaussichten gefragt. Ange sichts der schwierigen Situation der Stadt, insbesondere in finanzieller Hinsicht, ist es schwer, Versprechungen zu machen. Doch die Tat sache, daß unser Heimatmuseum so eng mit vielen aktiven Bürgerin nen und Bürgern unseres Bezirks verknüpft ist, läßt uns optimistisch sein, daß seine Arbeit von vielen getragen wird. Die erfolgreiche Ar beit der letzten Jahre wird sich so als gutes Fundament in schwierigen Zeiten erweisen. Der Dank des Bezirks muß in dieser Zeit natürlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelten, die diese Arbeit tag täglich tragen. Ihr Erfindungsgeist und ihre ständige Suche nach Möglichkeiten, Ergebnisse auf immer neuen Wegen zu realisieren, verdient häufig Bewunderung. Möglicherweise wird in 25 Jahren ein neues wichtiges Jubiläum vor der Tür stehen. Da unsere Mitarbeite rinnen und Mitarbeiter in der Regel noch recht jung sind, werden sie dann vielleicht erfahren, wie ihr eigenes Wirken einmal bewertet wird. Ich bin ganz sicher, daß ihnen das Lob, das dann ausgesprochen wird, mehr bedeuten wird als alle Freundlichkeiten dieses Jahres. MICHAEL WENDT Bezirksstadtrat für Bildung und Kultur 7 Uno GösswALD Immer wieder Heimat 1987 publizierte der in Berlin-Neukölln ansässige Karin Kramer Verlag ein Buch mit dem Titel Heimat und Heimatlosigkeit. International renommierte Autoren wie Viiern Flusser, Harry Prass, Lew Kopelew oder Lili Faktor-Flechtheim beschreiben in diesem Buch ihre Erfahrungen mit der Emigration (DERICUMIWAMBOLDT 1987). Während Flusser in der Aneignung einer neuen Heimat nach erzwungener Emigration ein Moment der Freiheit sieht, betont Kopelew die "Summe von Beziehungen" (DERICUMIWAMBOLDT 1987. S. 52), die ihn an sein Heimatland binden. Harry Pross sieht drei wesentliche Aspekte mit dem Begriff der Heimat verbunden: "Heimat als Utopie, als ,himmlisches Jerusalem' oder irdische Idealordnung, Heimat als unbegrenzten Raum der Wohnung, des Hauses, der Gemeinde und des Landes (sowie)( ... ) Heimat als soziales Netz" (DERICUM/WAMBOLDT 1987. S. 16). In seiner Neukonzeption im Jahr 1984 hat sich das Neu köllner Museum ausdrücklich auf die Heimaten der verschiedenen in Neukölln vertretenen Kulturen und Bevölkerungsgruppen bezogen (BÄTz/GösswALD 1987). Mit der Aufarbeitung und Präsentation der Geschichte der böhmischen Zuwanderer, dem Projekt Fluchtpunkt Neukölln über politische Flüchtlinge und dem Projekt Ein Haus in Europa standen die oben beschriebenen Aspekte von Heimat im Mit telpunkt. Neukölln, vorher Rixdorf, war Ort der Erfahrung von Hei matlosigkeit, der Sehnsucht nach Heimat, der Suche nach sozialen Utopien und der Formulierung von gesellschaftspolitischen Entwürfen in mannigfaltigen Ausprägungen: In der Hufeisensiedlung lebte der Anarchist Erich Mühsam, den die Nazis bereits 193 3 inhaftierten. Eine starke Arbeiterbewegung konnte zwar die nationalsozialistische Machtergreifung nicht verhindern, aber ein Milieu prägen, in dem Widerstand gegen die Nazis möglich wurde (vgl. KoLLAND in diesem Band). Die Schüler-und Studentenbewegung Ende der 60er Jahre hat vielfältige Wurzeln im Bezirk. Doch auch ohne diese eindeutig politischen Orientierungen war Rixdorf/Neukölln für Tausende von Menschen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Stadtgebilde, in dem sich temporär Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen verdichteten, um der provinziellen Enge, dem mentalen und sozialen Elend in der "alten" Heimat zu entfliehen. Neukölln als Utopia, also Nicht-Ort, an dem sich Leid und Freude schicksalhaft verbanden und der Wunsch nach Flucht eine überzeitliche Präsenz zu haben scheint. Zigtausende Schlesier, Pommern und Ostpreußen strömten zwischen 1870 und 1910 in die Berliner Vor-Stadt Rixdorf, um in den neu entstehenden 8 Berliner Industriebetrieben Arbeit zu finden. In Rixdorf fanden sie oft kaum mehr als eine Schlafstelle, zogen weiter in andere Dörfer rings um Berlin. Wer sich als Sozialist für niedrigere Mieten, höhere Löhne, bessere Gesundheitsvorsorge oder Arbeitsschutz einsetzte, wurde mit dem Schmähruf "heimatloser Geselle!" bedacht. Der Hei matlose war der Störenfried. Seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts, als andere Fremde aus anderen Ländern auf der Suche nach Arbeit kamen, und mit der Zunahme der Migrationsbewegungen in Europa nach dem Fall der Mauer ist Neukölln wieder ein Ort mit einer hohen Zuwanderungs rate von Immigranten und Flüchtlingen geworden. Kein Tag vergeht, an dem nicht darüber berichtet wird, wie groß die Gefahren einer Verslumung gerade für den Altstadtbereich Neuköllns geworden sind. Die Politik steht dieser Entwicklung hilflos gegenüber. Breite Kreise der Gesellschaft betrachten die "Ausländer" mißtrauisch bis feindlich. Die latente Diskriminierung der "Fremden" durch die "einheimische" Bevölkerung gibt kaum Anlaß zu der Hoffnung, daß die sozialen Spannungen abgebaut werden könnten. Ich habe diese Aspekte skizziert, um deutlich zu machen, daß der Begriff Heimat für das Heimatmuseum Neukölln noch an Aktualität und Bedeutung zugenommen hat. Die deutsche Sprache hat mit dem Wort Heimat einen Begriff geschaffen, der kaum in eine andere Sprache übersetzbar ist. Das tschechische Wort "domov" kommt ihm sehr nah, was, wie Viiern Flusser (1994. S. 16) argumen tiert, mit dem starken Einfluß der deutschen Kultur auf die tschechi sche Sprache zusammenhängt. Wer versucht, das Wort einem Nicht deutschen zu erklären, benutzt schnell Hände und Füße. Heimat ist nicht greifbar, scheint so nah und blickt bei näherer Betrachtung noch ferner zurück. Heimat, ein Zauberwort? - wie Günter Kunert formu liert (KUNERT 1991. S. 122). Jede eindringliche Beschäftigung mit dem Wort "Heimat" führt in das Wörterbuch des Unmenschen, streift dunkle Ahnungsfelder, in denen sich die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis mit deutschen Wäldern, Hügeln und Seen verbindet. Spätestens hier möchte man den Saal verlassen, in dem sich Romantik, Götterdämme rung und SS-Schergen auf der Bühne unserer Phantasie unheilvoll zusammentun. Unter der Parole "Unsere Häuser brechen, unsere Herzen nicht!" wurde die Heimat von Hitlers Propagandamaschinerie zur letzten Bastion vor den anrückenden russischen und amerikanischen Truppen erklärt. "Da war mit Heimat längst nicht mehr Landschaft oder Ortschaft gemeint, sondern ein psychotisches Konglomerat, ein reines Wahngebilde" (KUNERT 1991. S. 124). Für die jugendlichen Flakhelfer, die am Wildmeisterdamm in N eukölln in den letzten Kriegsmonaten in Stellung gingen und täglich aus den umliegenden Häusern Leichen bergen mußten, wurde dieses Wahngebilde zum 9 lebenslangen Trauma (SCHILLER 1991). Mit dem Mißbrauch des Wor tes "Heimat" als nationalistisches Paradigma für Heldentod und Heldenverehrung, wurde es für den individuellen und kollektiven Gebrauch fast unverwendbar. Der Begriff "Heimat" wurde in der praktischen Arbeit des Museums jedoch niemals als eine statische Kategorie gesehen, sondern als eine dynamische, die, wie Vaclav Havel unlängst im Deutschen Bundestag ausgeführt hat, immer wieder neu angeeignet werden muß. Diskussionen über "das Fremde" und "das Andere" haben einen kriti schen Blick auf Heimat provoziert, wenn sie als ein "abgeschlosse- nes Idyll" oder "verlorenes Paradies" verstanden wurde. Ein Heimat begriff, der auf nostalgischer Verklärung und Selbsttäuschung beruht, kann nicht dazu beitragen, daß sich Menschen als Teil von Prozessen begreifen, die sich in ständigem Wandel befinden. ",Heimat' und ,Fremde' sind Kategorien der Orientierung", schreibt der Schweizer Ethnologe Mario Erdheim. "Die Enge der Heimat treibt in die Fremde und erzwingt den Wandel; die Gefahr in der Fremde sowie die Angst vor dem Fremden wecken das Heimweh und die Sehnsucht nach Heimat und Tradition. Nur wenn diese Bewegung abgeblockt wird, tauchen Fremdenhass oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Eigenen auf'' (ERD HEIM 1992. S. 17). Diese These unterstreicht den politischen Kontext, in dem sich der Streit um "Heimat" als ideolo gisch definierte kulturelle Identität innerhalb eines Gemeinwesens entfalten kann. Der um die Jahrhundertwende stattfindende gesellschaftliche Umbruch durch extensive Bautätigkeit, Industrialisierung, Zuzug von Arbeitern und Bauern vom Land hatte eine durchaus vergleichbare Dynamik wie der Strukturwandel, mit dem wir heute in einer euro päischen Metropole wie Berlin konfrontiert sind. Radikale lebens geschichtliche Brüche, die durch Krieg und Verfolgung, durch die Zerstörung gewachsener Milieus, den Übergang von der Großfamilie zur Kleinfamilie, neue Arbeitsplatzanforderungen verursacht wurden, prägen die Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Immer stärker·dringt uns ins Bewußtsein, in welchem Ausmaß Menschen ihre Wohnorte in unserem Jahrhundert wechseln mußten. Durch Flucht, Vertreibung oder Migration wurden viele Menschen mit der Angst konfrontiert, der wiederholten Entwurzelung nicht mehr gewachsen zu sein. Der Wunsch nach Orientierung wächst entsprechend überproportionaL "Die Heimat bedeutet Geborgenheit und Unbewusstheit; die Fremde Verlorenheit und Bewusstsein. Das Leben des Subjekts ist ein Pendeln zwischen diesen beiden Erfahrungsräumen" (ERDHEIM s. 1992. 71). Die Reflexion dieser Erfahrungsräume war Gegenstand vieler Veranstaltungen des Heimatmuseums. Mit dem Projekt Erfahrungs wissen im Heimatmuseum (KLAGES 1992) wurde die Auseinandersetzung 10