TJ'i /^oiocJ Das Berliner Scheunenviertel war der JlLlKC vjClSCl Zufluchtsort der in Kriegs- und Revolutionswirren eingewanderten polnischen und russischen Juden. Im Scheunenviertel Bilder, Texte und Dokumente Mit einem Vorwort von Günter Kunert Niemand weiß mehr, daß es im Herzen der alten Reichshauptstadt bis in die dreißiger Jahre hinein eine fremdartige Insel ostjüdischen Lebens gab - gleicherweise Ort von Talmud- Schulen und Verbrecherviertel. Severin und Siedler Digitized by the Internet Archive 2013 in http://archive.org/details/imscheunenvierteOOgeis Eike Geisel im letzten Jahrhundert errichteten Häuser und schließlich die Menschen, die wie unle- Das Scheunenviertel. bendige Botschafter mit einem vergessenen Beschreibung eines Zenotaphs. Auftrag durch das Viertel ziehen. Anders als die Untoten fürchten sie die Dämmerung und »Vom Morgen bis zum verstecken sich bei ihrem Einbruch, um tags- Abend kann die Welt über, mit schleppendem Gang zur nächsten zerstört werden.« grünen Schneise, die derKrieg geschlagen Martin Beradt, hat, sich aufzumachen und sich aufeiner Beide Seiten einer Bank niederzulassen. EinenAugenblick lang Straße mag man denken, die Zeit sei stehen geblie- I. ben, und der bukolische Name desViertels leistet dieserWahrnehmung, die nur senti- Kaum daß sich einer hierherverirrt. mentalerWunsch ist, Vorschub. In Wirklich- Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, keit ist die ganze Szenerie einTäuschungs- trotten die Menschenmassen, Einwohner wie manöver, das derWahrheitsfindung dient. Die Besucher der Hauptstadt, diszipliniert durch ausdruckslosen Alten, die zu den Sitzvorrich- die gleichförmigen Straßen. Nirgendwo tungen im Freien trotten oder mit starrem schlendernde Zerstreuung, nur das bloße Vor- Blick hinter den Fenstern kauern, sind nicht wärts, die leere Betriebsamkeit in einem nur die Chargen, die ihren Text vergessen Am Labyrinth ohne Geheimnis. Ende dieses haben; die ramponierten Häuser sind nicht überschaubaren Irrweges durch überirdische die Kulisse, aus welcher das Spiel einerver- Unterführungen, wo nichts zum Verweilen gangenen Epoche entzifferbar wäre. Nicht die auffordert, durch Straßen, die nicht zum Fla- Zeit sei stehen geblieben, ist die geheime Aus- nieren einladen, sondern zum Paradieren kunft des Quartiers, sondern alles sei, wie in zwingen, gelangt man durch unterirdische jener fiktiven »Stadt hinter dem Strom«, nur Gänge nicht zu einem menschenfressenden geronnene Dauer, abstrakterVerlauf. Ohne Minotaurus, sondern in die trogdolytenhafte von sich mehr zu enthüllen als die Physiogno- Atmosphäre eines U-Bahnhofs. Über ihm mie eines entleerten Schreckens, der seine breitet sich das Stein gewordene Entsetzen Herkunft nicht mehr kennt, von seiner Ge- der Menschen vor sich selbst aus: derAlexan- genwärtigkeit nichts weiß und von seiner derplatz. Ihn hat wie kaum einen anderen Ort, Zukunft nichts ahnt, teilt das Viertel eine alte welcher zum Schauplatz derNiederlage gegen Charta mit, die wie ein unsichtbares Manifest die Barbarei wurde, die wahrhaft systemüber- an den Häusern angeschlagen ist: ich war, ich greifende Einsicht geprägt, daß es aufdie bin, ich werde sein, lautet die nun absurde Menschen zu allerletzt ankommt. Deshalb Botschaft. säumen den Weg dorthin auch keine Passa- Und geradewegs bestätigt wird dieseraufder gen; erwird flankiert von Windkanälen. Stelle verharrende Dreischritt dadurch, daß er Wer dennoch vom verordneten Weg abweicht dementiert wird durch Demontage: was in und nicht injenem Erschrecken erstarrt, das schäbiger Form ein allgemeines Unglück derlei monumentale Öde auslöst - und aus- beherbergt, ist nämlich nur Planungsrück- lösen soll -, werversucht, durch die wenigen stand, von der Spitzhacke aufAbrufver- und schon überfälligen Schlupflöcherauszu- schont. Ihr stellt sich neuerdings entgegen, brechen, um nicht aufdie Ausfallstraßen was den alten Charakter modisch konserviert: getrieben zu werden, dergerät unversehens die Instandsetzung durch aufgetünchte Ge- ins Gestern; so scheint es. Alles deutet darauf schichte. Sie ist die letzte praktische Antwort hin: die oft enge und nicht dem tradierten Pri- aufdie Behauptungjenes Manifestes und mat der inneren Sicherheit folgende Straßen- folgt, ebenfalls im Dreisatz, aufdie Politik der führung, die Gasse, oder doch eher ihre be- verbrannten Erde und des betonierten Rau- schädigte Andeutung, die oft niedrigen und mes. 10 Scheunenviertel 1980 den, hier und da ein Gesicht, das uns melan- Franz Biberkopfvorführt) bildet Berührungs- cholisch anblickt - ist das das Scheunenviertel punkte, riefe aber, unkritisch akzeptiert, fal- gewesen? Auch meine Gedächtnispartikel sche Assoziationen hervor. reproduzieren es nicht; es bleibt unbeschreib- »Scheunenviertel« - ein semantisch reiches lich, weil es eine derart besondere Amalga- Schlüsselwort, voll Verlockung und Schauder. mierung gewesen ist, die selbst in zeitgenössi- Was ich da vor endlos langerZeit zu Gesicht schenTexten nicht erfaßt wird. Das Scheu- bekam, gehörte dazu und auch wieder nicht, nenviertel in seinerUnheimlichkeit und* und ergab eine frühe Erfahrung: Selber nicht Am Beängstigung erregenden Unmittelbarkeit dazuzugehören. Rande dieses verschwun- aller Begegnungen, eineArt Labyrinth, in denen Scheunenviertels lernte ich meine eige- dem unterzugehen es keines Minotaurus ne Außenseiterschaft kennen, ohne bis heute bedurfte, war viel zu sehr die Legende seiner zu wissen, ob sie eine Strafe oder eine Gnade selbst, als daß es durch eine literarisch-archäo- ist. logische Feldstudie vorstellbar würde. Gibt es Vergleichsmöglichkeiten? Ließe sich etwa das Scheunenviertel als das »Soho« Berlins bezeichnen? Nur das dichte Nebeneinander, die Verflech- tung von Ehrbarkeit und rechtsbrecherischem Außenseitertum (wie sie uns beispielsweise Straße, krasses Auftreten, Torkeln und Ge- eine Brandmauergestarrt hatte, überrascht schrei, Menschengeschiebe, vorbei an engen und beunruhigt von derNähe desZiegelwer- Kneipen, aus denen Bierdunst und Speise- kes, das ein Mann mit ausgestrecktem Arm geruch über die Passanten herfiel, Kramläden möglicherweise hätte berühren können, blick- und Kinos, und dazwischen drängte sich te ich nun gleich aus einem Mansardenfenster unaufhörlich klingelnd die Straßenbahn durch über die gegenüberliegenden Dächer offen- den Verkehr, in dem Pferdewagen, Hand- kundig niedrigerer Häuser. wagen, Karren und Motordreirädergleich- Übrigens spielten wir nie: Wir unterhielten berechtigt mitzogen. Kaum mehr als solche uns nur, das größere der beiden Mädchen schon traumhaft gewordenen Impressionen und ich. Ob es äußerst intensive Gespräche hat sich erhalten; Filmfetzen, ohne Anfang gewesen sind oder bloße Hinneigung zu und beschließendes Ende, Ausrisse aus einer derGefährtin wenigerViertelstunden? Daß örtlichen Biographie, die zu ihrer Erklärung ich mich an Beiläufiges erinnere, spricht so- wenig beitragen. wohl für das eine wie das andere. Selbst mei- Deutlicher ist mir das Haus in der Keibelstra- ne hingeworfene Behauptung, ich sei natür- ße, einerarchaischen BerlinerBaulichkeit, lich Kommunist, habe ich seit damals nicht kein Haus über drei Stockwerke gehend, eine vergessen, während meine Gesprächspartne- städtische Seltenheit, wo die beiden Schwe- rin sich zum Zionismus bekannte, von dem stern meines Großvaters in zwei winzigen ich nicht die geringste Ahnung hatte. Und Wohnungen, vielleicht auch nurWohn- seltsamerweise bin ich mir noch meiner küchen, nebeneinanderaufdem gleichen Flur damaligen Ambivalenz ihrgegenüber be- hausten. Tante Marie und Tante Guste: ein- wußt: Sie war mirverwandt und fremd zu- ander höchst unähnlich, wie ich noch bruch- gleich, ein pummeliges, aber hübsches Mäd- stückhaft weiß. Die eine übermäßig dick und chen mit langem strähnigen schwarzen Haar, mit einer dominierenden Brille im runden das mir seine Schulbücher zeigte, darunter Gesicht vor den unverkennbaren Augen, die solche in Hebräisch, was in mir Bewunderung andere hingegen hager und von männlichem und zugleich Ärger hervorrief. Ihre Selbst- Typus - ihre Behausungen sind mir nicht sicherheit war für ihrAlter erstaunlich, und mehrgegenwärtig. Weil wir, so scheint es vielleicht veranlaßte gerade das mich zu mei- jetzt, andere Verwandtschaft in diesem Hause ner altklugen und vorwitzigen politischen besuchten, das wohl hauptsächlich von Juden Erklärung. Dann war ihre Erinnerung verweht bewohnt war. Sonntags vermutlich erschienen wie alle anderen aus diesem Haus und den wiram Nachmittag zum Kaffee bei den Fal- umliegenden Häusern. Außer diesem scharf ckensteins, deren Anzahl ich vergessen habe. erinnerten Augenblick, da wir uns beide auf Da dergroße Kaffeetisch stets dicht besetzt blanken Holzdielen gegenüberstehen und war, muß es wohl eine umfangreichere Fami- reden, ist nichts geblieben. Doch immerwenn lie gewesen sein, die eines Tages, ohne daß ich durch die Keibelstraße kam, in der nach ich es merkte, meinem Blickfeld entschwun- Kriegsende noch die alten, verfallenen Unter- den gewesen ist, genauso wie Tante Marie künfte aus einem unglaubhaft gewordenen undTante Guste, ohne daß ihrer bis heute Gestern standen, unter denen ich den Platz jemals wiederErwähnung getan worden wäre. unseres kindlichen Dialoges nicht wiederent- Meist hielt ich mich an diesem Kaffeetisch decken konnte, erneuerte sich die kurze Sze- nicht lange auf, gelangweilt von den Unterhal- ne. Aber das ist kein Nachleben. tungen derErwachsenen. Bald stieg ich in die Davon - von solchen nichtigen und gleicher- Mansarde empor, wojemand wohnte, eine maßen daseinsbestimmenden Eindrücken, Frau, glaube ich, von der ich aber nur ihre von Kindergesprächen, in denen eine Zukunft beiden Kinder, zwei Mädchen, kannte, mit endete, die gar nicht erst beginnen durfte - ist denen zu spielen ich die ausgetretenen Stufen in den alten Photos nichts merkbar. Polizi- emporsprang. Während ich eben noch aus sten, fromme Juden mit Barten, schattenhafte einem Hinterzimmer lange Zeit fasziniert auf Menschenansammlungen, bröckelnde Fassa- 8 Günter Kunert schen Osten stammte, den Bezug aber zwi- schen der eigenenAbkunft und denjenigen, EinUnort die diese Abkunft noch so unverhohlen reprä- sentierten, ignorierte,ja, verdrängte man. Selbst in dem, was wir für Dokumente halten, Wenige Gemeinsamkeiten bestanden. Der unangreifbare Belege derZeitgeschichte, Glaube natürlich, falls er nicht »reformiert« bleibt uns häufig genug die Wahrheit des war odergänzlich aufgegeben. Jargonrelikte scheinbarDokumentierten verschlossen. und bestimmte Speisen bildeten die restliche Diese Photographien, Unikate von großem Erbschaft. Seltenheitswert, zeigen nicht eine vergangene Zu meinem Vater in seine verblüffend winzi- Lebensweise,jedenfalls die meisten nicht, ge Produktionsstätte für Schreibblocks, sondern wirken wie ein unheimliches Mene- Durchschreibebücher und Rechnungsbücher tekel. Als werde hier bereits vorweggeprobt, kam hin und wiederHerr Grünbaum: Ein was später in den Ghettos des Ostens kurz- Mann im schwarzenMantel mit einer roten, fristigerAlltag werden sollte: Polizeikontrol- ständig schniefelndenNase, um ein bißchen len, ärmlicher Straßenhandel, sinnloses und zu betteln. Was da an Weltgeschichtlichem massenhaftes Treiben außerhalb der verfallen- besprochen wurde, weiß ich schon lange nicht den Häuser, Ausgeliefertsein an die Macht, mehr, sehe nur Herrn Grünbaum, nachdem deren Untergebene schon in ihrem bedrohli- er meinenVater länger von derArbeit abge- chenAufzug die späteren Einsatzkommandos halten hatte als diesem lieb war, zufrieden mit erkennen lassen. einem Obolus davonspazieren, den ervermut- »Im Scheunenviertel« heißt unserBuch, und lich dafür erhielt, daß er freiwillig wiederver- wir sehen darin Bilder einer deutschenVor- schwand. Dann blieb eraus, ohne daß man es vergangenheit, welche wir über die Schrecken recht bemerkte. Das geschah, als die polni- jener späteren, »unbewältigten« Vergangen- schen Juden, selbst wenn sie deutsche Staats- heit vergessen haben. Wir haben einfach ver- angehörige waren, ausgebürgert und nach gessen, daß auch das Berlin gewesen ist. Und Polen ausgewiesen wurden. Ihr Schicksal als sogar ein ganzwesentliches Ingredienz der Vorwegnahme des eigenen verstanden von »Reichshauptstadt«, von dem sie Farbe und den später Betroffenen wohl nurwenige. Atmosphäre erhielt. Aber, so fragt sich der Das echte, sozusagen originale Scheunenvier- Betrachter beim Blättern, war das tatsächlich tel habe ich selber nicht mehr kennengelernt. das Scheunenviertel, was er da schwarz auf Als ich aufunselbständigen Kindesbeinen die weiß in derHand hält? Ganzgewiß nicht. Gegend um den Alexanderplatz an derHand Das Scheunenviertel war eine eigentümliche meiner Eltern betrat, existierte es nur noch Mixtur aus vielen Bestandteilen, nicht nur rudimentär. Der mächtige Bau des Arbeits- Ghetto, nicht nurUnterwelt, nicht nur billiges amtes im Speerschen Unstil schob sich wie Amüsierviertel, nicht nurZuflucht deraus ein Keil zwischen derNeuen Königstraße und Polen eingereisten armen Juden, nicht nur ein derFrankfurterAllee aufdenAlex zu. Nur »Zille-Milljöh«. Gerade seine ungewöhnliche hinter dem Bau der Karstadtverwaltung (ein Zusammensetzung brachte den Rufhervor, mächtiger siebengeschossigerBlock, der bald den das Scheunenviertel in Berlin genoß. dem Polizeipräsidium zugeschlagen wurde Für die Juden, die in Berlin geboren und und in dem sich auch heute das Präsidium längst assimiliertwaren, zeigte sich das Scheu- derVolkspolizei befindet), blieben die alten nenviertel genauso exotisch wie für ihre Gassen und Gäßchen erhalten, in denen christlichen respektive »arischen« Mitbürger. etwas von derAtmosphäre des Vergangenen Mit den Ostjuden, den »Planjes«, wie man sie zu überleben vermochte. Von der bunten und abschätzig nannte, hatte man kaum Berüh- lauten und grell beleuchteten Münzstraße ist rungspunkte: Möglich, daß noch der eigene ein bewegterEindruck zurückgeblieben: Vater oderGroßvater aus dem einstmals Gestalten, vor denen sich wahrscheinlich preußischen oder russischen, später polni- nicht nurKinderängstigten, belebten die 7 GünterKunert Ein Unort 7 Eike Geisel Das Scheunenviertel. Beschreibung eines Zenotaphs 10 Gustav Landauer Ostjuden und deutsches Reich. Zu Juden gesagt 34 NO Martin Beradt Ephraims Ankunft in Berlin 54 40 DerKaftan 41 AlexanderGranach Wie in Lemberg 42 Gustav Landauer Über das Jüdische Volksheim. Briefan seine Tochter 46 FranzKafka Über das Jüdische Volksheim. Briefan Feiice Bauer 48 Mischket Liebermann Im Berliner Ghetto 50 Walter Mehring Galizien am Alexanderplatz, Spartacus und Inflation 54 Sling Der Menschheit Krümel 68 Die alte Geschichte 72 Joseph Roth Juden aufWanderschaft. Berlin 76 Max Fürst Die Mulakei 88 Martin Beradt Die Betstube 92 Inge Unikower Suche nach dem gelobten Land. Kurze Geschichten von Gerschon 102 Arnold Zweig Die Summe 110 Martin Beradt Der Bettler Frischmann 114 Frischmanns Begräbnis 11 Alfred Dublin Östlich vom Alexanderplatz 120 Mischket Liebermann Einer aus dem Ghetto 136 Razzia 138 Micha Michalowitz Musik in derGrenadierstraße 144 Max Fürst Mein Viertel 150