Gesine Kulcke Identitätsbildungen älterer Migrantinnen VS RESEARCH Gesine Kulcke Identitätsbildungen älterer Migrantinnen Die Fotografie als Ausdrucksmittel und Erkenntnisquelle Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Alfred Holzbrecher VS RESEARCH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH,Wiesbaden 2009 Lektorat:Dorothee Koch /Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16946-0 Geleitwort Fotos als „geliebte Objekte“ (T. Habermas), als Medien zur Stiftung von Identi- tät in einem fremden Land: Wenn ältere Migrantinnen zur Kamera greifen, kann davon ausgegangen werden, dass sich in ihren Fotos ihr Lebensgefühl wider- spiegelt. Dieser komplexen Problematik nähert sich die Autorin zunächst mit dem Diskurs über Identitätsbildung von Migrantinnen, um auf diesem Hinter- grund „Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft“ herauszuarbeiten, d.h. aus der Perspektive der (interkulturellen) Medienfor- schung zu zeigen, in welcher Weise und mit welchem Interesse „Bilder“ von Migranten konstruiert werden. In einem weiteren Kapitel widmet sie sich der Fotografie als Ausdrucksmittel und Erkenntnisquelle bzw. als Forschungsmetho- de, deren Setting darin besteht, dass sie ältere Migrantinnen bittet, für sie bedeut- same Situationen zu fotografieren, ergänzend dazu werden Interviews durchge- führt. Damit wird es möglich, ein exemplarisch ausgewähltes Foto bildanalytisch zu untersuchen und mit Hilfe ergänzender Informationen aus dem „Fotointer- view“ sehr eindrucksvoll zu belegen, in welcher Weise dem Medium Fotografie im Identitätsbildungsprozess Bedeutung zukommt. Die Arbeit ist zum einen ein wichtiger Beitrag zu einer Fotopädagogik, in der die rezeptive und die pro- duktive Arbeit miteinander verknüpft sind, zum anderen zeigt sie beispielhaft, wie mit dem Medium Fotografie als Forschungsmethode gearbeitet werden kann. Prof. Dr. Alfred Holzbrecher Pädagogische Hochschule Freiburg Inhaltsverzeichnis Einleitung..............................................................................................................9 1 Identitätsbildung von Migrantinnen............................................................13 1.1 Identität und Identitätsbildung............................................................13 1.2 Migration als Identitätskrise...............................................................17 2 Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft.......21 2.1 Die unmoderne Frau unter dem Kopftuch..........................................21 2.2 Das Bild der Migrantin in den Medien...............................................27 2.2.1 Beispiele aus den Medien...........................................................27 2.2.2 Einfluss der Medien auf Alltagswissen über Migrantinnen........30 2.3 Das Bild der Migrantin in der Migrationsforschung...........................33 2.4 Die Migrantin in Beratungs- und Bildungsprojekten..........................34 3 Identitätsbildung sichtbar machen..............................................................39 3.1 Die Fotografie als Ausdrucksmittel....................................................39 3.2 Die Fotografie als Erkenntnisquelle....................................................41 3.3 Ein Analyseverfahren für Eigenproduktionen....................................48 4 Pädagogisches Setting.................................................................................55 4.1 Der Fotoauftrag...................................................................................55 4.1.1 Persönlich bedeutsame Orte........................................................55 4.2 Situation und fotografischer Kontext..................................................58 4.3 Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit............................59 4.3.1 Der Verein...................................................................................59 4.3.2 Projektverlauf..............................................................................60 5 Exemplarische Bildanalyse.........................................................................71 5.1 Auswahl eines Bildes für die exemplarische Analyse........................71 5.1.1 Erstverstehen.....................................................................................73 5.2 Bildanalyse.........................................................................................79 5.2.1 Einführung in die Methode.........................................................79 5.2.2 Sachebene...................................................................................80 5.2.2.1 Beschreibung bildlicher Details..............................................80 5.2.2.2 Gestaltungselemente...............................................................85 5.2.3 Selbstoffenbarungsebene............................................................91 5.2.3.1 Selbstdarstellung.....................................................................91 5.2.3.2 Selbstenthüllung......................................................................98 8 Inhaltsverzeichnis 6 Fotointerview............................................................................................113 7 Resümee....................................................................................................117 Anhang..............................................................................................................121 Literatur............................................................................................................147 Einleitung Die Feststellung, dass es nicht eine Migrantin gibt, sondern viele Frauen mit un- terschiedlichen Identitäten, die in Deutschland in der Migration leben, scheint überflüssig. Doch der Blick in die Medien, die Rezeption politischer Debatten sowie pädagogischer Praxis zeigt, dass die zahlreichen Lebensstile von Migrant- innen keinesfalls immer wahrgenommen, geschweige denn kommuniziert oder in pädagogischer Arbeit reflektiert werden. Vielmehr werden verallgemeinerte Darstellungen von Migrantinnen und ihre in der Regel als rückständig beschrie- benen Herkunftskulturen instrumentalisiert. Die Medien konstruieren Stereotypi- sierungen, die das Eigene aufwerten und das Fremde abwerten, und legitimieren damit soziale Ungleichheiten und Bildungsnachteile. Bis in die sechziger Jahre stellte die Ausländerpädagogik vornehmlich das Bild der orientierungslosen und handlungsunfähigen Migrantin in den Vor- dergrund, indem sie sich darauf konzentrierte, mit Sprach- und Förderkursen ökonomische, soziale und sprachliche Nachteile aufzufangen (vgl. Munsch et al. 2007, S. 38). Diese defizitorientierte Haltung wird inzwischen in der Interkultu- rellen Pädagogik kritisiert, doch nach Eggert-Schmid, orientieren sich Päda- gogInnen nach wie vor an zu allgemeinen Zuschreibungen und erkennen indivi- duelle Lebensentwürfe und -stile, sowie Integrationsleistungen von Migrantinnen und Migranten nicht ausreichend an bzw. nehmen diese nicht ausreichend wahr. Es wird nicht unbedingt mit der bewussten Haltung gearbeitet, alle Zugewander- ten gehörten einem ethnisch homogenen Kollektiv an. Doch „als Fiktion ist die- ses Bild nach wie vor ein Teil der gesellschaftlichen Realität“ (Eggert-Schmid 2000, S. 202). 10 Einleitung Bewusst oder unbewusst: die pauschale Aufforderung an Migrantinnen, ihre angeblich rückständigen Herkunftskulturen zu überwinden, leitet auch pädago- gisches Handeln. Die Überwindung der Herkunftskulturen wird weit verbreitet als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration betrachtet. Eingefordert wird damit Assimilation; kreative Chancen, die in der Transkulturalität und Wei- terentwicklung kultureller Traditionen liegen, werden dabei weder genutzt noch erkannt (vgl. Schiffauer 2003, S. 160). In dieser Arbeit sollen Spuren von Trans- kulturalität erfasst werden. Dabei wird vermutet, dass solche Spuren in indi- viduellen und schöpferischen Identitätsbildungen von Migrantinnen sichtbar werden, da sich Identitäten nicht allein aus gesellschaftlichen Zuschreibungen und Sinnvorgaben bilden: Zuschreibungen bedingen Identitätsbildungen, den- noch bleibt Raum, in dem individueller Sinn und individuelle Bedeutungen ent- stehen (vgl. Marotzki 1995, S. 60f.). Texte oder Interviews sind für diese Spurensuche weniger geeignet. Nicht etwa weil den Frauen sprachliche Defizite unterstellt werden sollen, sondern vielmehr weil Identitätsbildungen in ihrer Komplexität nicht immer bewusst nachvollziehbar sind (vgl. Marotzki 1995). Da Identitäten sich aber nach Habermas in der Gestaltung persönlicher Umwelten bzw. der Gestaltung und Aneignung persönlicher Orte widerspiegeln (vgl. 1999, S. 243f.), wird ange- nommen, dass Fotografien, die Migrantinnen von für sie persönlich bedeutsamen Orten machen, Identitätsbildungen so offenbaren, dass eine Kommunikation über sie möglich wird. Dabei ist hier nicht allein über das Motiv – also die persönlich bedeutsamen Orte – ein Zugang zu individuellen Identitätsbildungen von Mig- rantinnen zu erwarten, sondern auch über den bildspezifischen Selbstausdruck. Für die Interpretation dieses Selbstausdrucks wird u.a. auf das Bildana- lyseverfahren von Holzbrecher & Tell zurückgegriffen, die das von Schulz von Thun entwickelte kommunikationspsychologische Modell zur Analyse verbaler Nachrichten auf die Analyse von Bildnachrichten übertragen haben (vgl. Holzbrecher & Tell 2006). Schulz von Thun stellt eine Deutungsvielfalt für ge- sprochene Nachrichten fest (vgl. 2005). Um diese Deutungsvielfalt erfassen zu können, ordnet er die einzelnen Botschaften, die mit einer Nachricht sowohl