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Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen: Jüdische und nicht-jüdische Vergangenheitsbearbeitungen in Ost- und Westdeutschland PDF

677 Pages·2009·2.44 MB·German
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Carsten Heinze Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen Carsten Heinze Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen Jüdische und nicht-jüdische Vergangenheitsbearbeitungen in Ost- und Westdeutschland Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2009 Lektorat:Katrin Emmerich/ Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Satz:Frank Gerke-Böhm,Siegen Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15841-9 Danksagung Die vorliegende Veröffentlichung beruht auf meiner im Oktober 2006 an der Universi- tät Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Department Wirt- schaft und Politik), eingereichten Dissertation. Es handelt sich hierbei um eine weitge- hend überarbeitete Fassung. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich beim Department, das aus der ehe- maligen Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) hervorgegangen ist, für das mir gewährte zweijährige Promotionsstipendium bedanken. Ohne diese finanzielle Unter- stützung wäre ein Einstieg in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess erheblich erschwert worden. Ebenso möchte ich mich beim Fachgebiet Soziologie des Departments und seiner Sprecherin, Frau Ulla Ralfs, für das mir entgegengebrachte Vertrauen bedanken. Dem VS Verlag für Sozialwissenschaften, namentlich Frau Anke Hoffmann sowie Herrn Frank Engelhardt, sei ebenfalls für ihr Vertrauen und ihre Geduld während der Zeit meiner Manuskript-Überarbeitung und der Möglichkeit, meine Arbeit in diesem Verlag zu veröffentlichen, gedankt. Dasselbe gilt für Herrn Frank Böhm, der meinen Terminverschiebungen immer mit Ruhe und Zuspruch begegnete. Ein ganz besonders herzlicher und persönlicher Dank gilt meiner unermüdlichen und mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehenden Erstprüferin, Frau Prof. Dr. Bär- bel von Borries-Pusback. Ohne ihre Geduld und Ratschläge wäre diese Arbeit kaum in der hier vorliegende Form zustande gekommen. Auch bei meinem Zweitprüfer, Herrn Prof. Dr. Goldschmidt, möchte ich mich herz- lich für seine Unterstützung und wohlmeinenden Zuspruch bedanken. Das Erstellen einer wissenschaftlichen Arbeit ist bekanntlich mit vielen Hoch- und noch mehr Tiefpunkten verbunden. Ohne Zuspruch und Ermunterung von außen, ohne das stets offene Ohr für Sorgen und Nöte, aber auch die notwendigen Ablenkungen, die das soziale Umfeld ermöglichen, wäre ein entsprechender Ausgleich kaum denkbar. Allen meinen Freunden sei dafür und für ihre langen Geduldsfäden gedankt. Zum Schluss möchte ich den Personen danken, die am meisten unter mir und mei- nen ‚Launen‘ zu leiden hatten und denen daher meine tiefe Verbundenheit gilt: Dazu gehört sicherlich Ariane, meine Eltern sowie Elena als die mir am nächsten stehende Person. Letztere war sicherlich am unmittelbarsten von den Schwierigkeiten meines wissenschaftlichen Arbeitens betroffen. Dass ich trotzdem ihre langjährige und aus- dauernde Unterstützung fand, freut mich deshalb umso mehr. Schließlich wäre das gesamte Projekt ohne die umfassende Unterstützung meiner Eltern und der freundlichen und intensiven Mitarbeit meines Vaters bei der Durchsicht der Arbeit nicht denkbar gewesen. Beide haben großen Anteil an der Verwirklichung dieses Projektes gehabt. Es soll ausdrücklich betont werden, dass ich für alle auftauchenden Fehler die volle Verantwortung trage. Inhaltsverzeichnis Danksagung............................................................................................................ 5 Einleitung............................................................................................................... 11 1 Sozialwissenschaftliche Biographieforschung und autobiographische Konstitutionsbedingungen....................................................................... 35 1.1 Methodische Vorgehensweise und die Auswahlkriterien des autobiographischen empirischen Materials.............................................. 39 1.2 Sozialwissenschaftliche Biographieforschung als Wissens- und Erfahrungswissenschaft............................................................................ 50 1.3 Die Autobiographie als empirische Quelle biographischer Sozialforschung........................................................................................ 60 1.3.1 Bestimmungen der Autobiographie.......................................................... 61 1.3.2 Wahrheit und Authentizität in der Autobiographie................................... 70 1.3.3 Die Bedeutung der Schreibgegenwart im autobiographischen Produktionsprozess.................................................................................. 83 1.3.4 Die Autor-Leser-Beziehung als thematisches und formales Erwartungsschema in der Autobiographie............................................... 89 1.3.5 Die Autobiographie als narrative Konstruktion....................................... 100 1.4 Die autobiographische Lebenskonstruktion als normatives Modell der Selbstbezogenheit.............................................................................. 121 1.4.1 Titel/Untertitel und Gliederungsaufbau als thematisches und performatives Strukturprinzip – die autobiographische Lebenskonstruktion im paratextuellen Aufbau der Autobiographie......... 142 1.4.2 Bilder und Dokumente in der autobiographischen Lebenskonstruktion.. 150 1.4.3 Identität in der autobiographischen Lebenskonstruktion......................... 165 1.4.4 Sozialisation in der autobiographischen Lebenskonstruktion.................. 182 1.4.5 Historische Wirklichkeiten als Sinn- und Bedeutungsträger der autobiographischen Lebenskonstruktion.................................................. 194 2 Vergangenheitsbearbeitungen am Ende des 20. Jahrhundert: deutsch-jüdische und deutsch-deutsche historische Erinnerungskontexte.. 213 2.1 Vergangenheitsbearbeitungen nach 1989/1990 im gesamtdeutschen Kontext.................................................................................................... 216 2.2 Deutsch-jüdische Selbst- und Fremdbilder im 20. Jahrhundert............... 224 2.2.1 Zeitgeschichte und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland............................................................................................. 235 2.2.2 Vergangenheitsbearbeitungen in der Bundesrepublik in Bezug auf die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus.............................. 244 8 Inhalt 2.2.3 Zeitgeschichte und politische Kultur in der SBZ/DDR........................... 253 2.2.4 Das Verhältnis des Kommunismus und der SED zu Juden aus historischer Perspektive – Vergangenheitsbearbeitungen in der DDR.... 262 3 Empirische Untersuchungen.................................................................... 275 3.1 Fritz Klein: „Drinnen und Draußen – Ein Historiker in der DDR“......... 278 3.1.1 Biographische Daten............................................................................... 278 3.1.2 Der paratextuelle Aufbau als äußere Gestaltung des Buches................... 279 3.1.3 Die autobiographische Konstruktion von lebensgeschichtlicher Identität in Bildern................................................................................... 282 3.1.4 Die autobiographische Lebenskonstruktion in Motto, Widmung und Gliederungsstruktur................................................................................. 286 3.1.5 Die Schreibgegenwart im Spiegel des Vorworts/der Einleitung – Selbstlegitimierungen in der autobiographischen Lebenskonstruktion.... 289 3.1.6 Identitäts- und Geschichtskonstruktionen innerhalb der autobiographischen Lebenskonstruktionen.............................................. 296 3.1.6.1 Weimarer Republik.................................................................................. 296 3.1.6.2 Nationalsozialismus................................................................................. 300 3.1.6.3 SBZ/DDR bis 1968.................................................................................. 313 3.1.6.4 DDR bis 1989.......................................................................................... 333 3.1.6.5 Wiedervereinigung.................................................................................. 340 3.1.7 Zusammenfassung Fritz Klein................................................................. 345 3.2 Helmut Eschwege – „Fremd unter meinesgleichen – Erinnerungen eines Dresdner Juden“............................................................................. 353 3.2.1 Biographische Daten............................................................................... 353 3.2.2 Der paratextuelle Aufbau als äußere Gestaltung des Buches................... 354 3.2.3 Die autobiographische Konstruktion von lebensgeschichtlicher Identität in Bildern................................................................................... 357 3.2.4 Die autobiographische Lebenskonstruktion in Motto, Widmung und Gliederungsstruktur.................................................................................. 361 3.2.5 Die Schreibgegenwart im Spiegel des Vorworts/der Einleitung – Selbstlegitimierungen in der autobiographischen Lebenskonstruktion... 362 3.2.6 Identitäts- und Geschichtskonstruktionen innerhalb der autobiographischen Lebenskonstruktionen.............................................. 369 3.2.6.1 Weimarer Republik.................................................................................. 369 3.2.6.2 Nationalsozialismus................................................................................. 374 3.2.6.3 SBZ/DDR: „Lebensstationen“................................................................. 381 3.2.6.4 SBZ/DDR: „Publikationen und Hemmnisse“.......................................... 405 3.2.6.5 Wiedervereinigung.................................................................................. 415 3.2.7 Zusammenfassung Helmut Eschwege..................................................... 418 3.3 Gegenüberstellung der autobiographischen Lebenskonstruktionen von Fritz Klein und Helmut Eschwege.................................................... 422 3.4 Wolf Jobst Siedler – „Ein Leben wird besichtigt“ und „Wir waren noch einmal davongekommen“............................................ 432 Inhalt 9 3.4.1 Biographische Daten............................................................................... 432 3.4.2 Der paratextuelle Aufbau als äußere Gestaltung des Buches................... 433 3.4.3 Die autobiographische Konstruktion von Identität in Bildern – „Ein Leben wird besichtigt“.................................................................... 436 3.4.4 Die autobiographische Lebenskonstruktion in Motto, Widmung und Gliederungsstruktur.......................................................................... 452 3.4.5 Die Schreibgegenwart im Spiegel des Vorworts/der Einleitung – Selbstlegitimierungen in der autobiographischen Lebenskonstruktion in „Ein Leben wird besichtigt“................................................................ 453 3.4.6 Identitäts- und Geschichtskonstruktionen innerhalb der autobiographischen Lebenskonstruktion................................................. 459 3.4.6.1 Weimarer Republik.................................................................................. 459 3.4.6.2 Nationalsozialismus................................................................................. 466 3.4.6.3 Zwischenfazit........................................................................................... 483 3.4.7 Der paratextuelle Aufbau als äußere Gestaltung des Buches – „Wir waren noch einmal davongekommen“............................................ 489 3.4.8 Die autobiographische Konstruktion von lebensgeschichtlicher Identität in Bildern.................................................................................. 491 3.4.9 Die autobiographische Lebenskonstruktion in Motto, Widmung und Gliederungsstruktur................................................................................. 497 3.4.10 Die Schreibgegenwart im Spiegel des Vorworts/der Einleitung – Selbstlegitimierungen in der autobiographischen Lebenskonstruktion in „Wir waren noch einmal davongekommen“........................................ 499 3.4.11 Identitäts- und Geschichtskonstruktionen innerhalb der autobiographischen Lebenskonstruktion................................................. 501 3.4.11.1 Nachkriegszeit in Berlin.......................................................................... 501 3.4.11.2 Bundesrepublik Deutschland................................................................... 513 3.4.12 Gesamtzusammenfassung Wolf Jobst Siedler.......................................... 527 3.5 Marcel Reich-Ranicki – „Mein Leben“................................................... 537 3.5.1 Biographische Daten................................................................................ 537 3.5.2 Der paratextuelle Aufbau als äußere Gestaltung des Buches................... 538 3.5.3 Die autobiographische Konstruktion von lebensgeschichtlicher Identität in Bildern.................................................................................. 540 3.5.4 Die autobiographische Lebenskonstruktion in Motto, Widmung und Gliederungsstruktur.................................................................................. 542 3.5.5 Die Schreibgegenwart im Spiegel des Vorworts/der Einleitung – Selbstlegitimierungen in der autobiographischen Lebenskonstruktion.... 544 3.5.6 Identitäts- und Geschichtskonstruktionen innerhalb der autobiographischen Lebenskonstruktionen.............................................. 550 3.5.6.1 Polen und Weimarer Republik................................................................. 550 3.5.6.2 Nationalsozialismus in Deutschland........................................................ 557 3.5.6.3 Nationalsozialismus und Nachkriegsjahre in Polen................................. 570 3.5.6.4 Bundesrepublik Deutschland................................................................... 591 10 Inhalt 3.5.7 Zusammenfassung Marcel Reich-Ranicki.................................................605 3.6 Gegenüberstellung der autobiographischen Lebenskonstruktionen von Wolf Jobst Siedler und Marcel Reich-Ranicki...................................613 4 Fazit: Die autobiographischen Lebenskonstruktionen von Fritz Klein, Helmut Eschwege, Wolf Jobst Siedler und Marcel Reich-Ranicki in der vergleichenden Gegenüberstellung.....................................................627 Literaturverzeichnis.................................................................................................645 Einleitung „Eine Autobiographie sieht am besten von ihrem Urheber ab, wenn es anginge. Er trete als Augen- zeuge auf – der Ereignisse und seiner selbst. Das verdirbt noch nichts. Ein Zeitalter wird besichtigt. Von wem? Ist immer die Frage.“ (Mann 1988: 164) Der Begriff ‚Identität‘ ist ein interdisziplinär geprägter Schlüsselbegriff des 20. Jahr- hunderts, der nicht nur in der Sozialpsychologie, sondern auch in den Geschichts- und Literaturwissenschaften unter verschiedenen Aspekten diskutiert wird. Die Schwierig- keit, sich hierbei über seine Elemente und Formen zu verständigen, resultiert aus unter- schiedlichen Annahmen und Vorstellungen über das Wesen und Zustandekommnen von Identität. Während Identität in der Sozialpsychologie das innere Selbstbild oder reprä- sentionale Selbstkonzept eines Individuums meint (vgl. Mummendey 2006), die So- ziologie Identität als interaktionales und situational geprägtes Handlungskonzept – als ‚Patchwork-Identität‘ – begreift (vgl. Keupp 1999) und von Identitäten in sozialen Rollenkontexten spricht, dagegen Identität in den Literaturwissenschaften als Frage nach Subjektivität und Referenzialität des Erzählens problematisiert wird (vgl. Zima 2000: 70-86), beschäftigt sich die sinnverstehende Geschichtswissenschaft mit dem Problem der Identität aus der Perspektive ‚kollektiver Identitäten‘ (vgl. Niethammer 2000) oder schließlich allgemeiner – geschichtsphilosophisch formuliert – mit dem Zusammenhang von Identitätsbildung in der Geschichte durch Geschichten (vgl. An- gehrn 1985) und der Frage nach der grundsätzlichen Bestimmung des Menschen in der Geschichte (vgl. Rohbeck 2004; Lembeck 2000) sowie dem Menschen als ‚Produzent von Geschichte‘ (Marx). Die Verwendung des Begriffs Identität ist also oftmals diffus und Identität wird daher als ‚Plastikwort‘ (vgl. Niethammer 2000: 33-35) oder auch als wattiertes Konstrukt (vgl. Kaufmann 2004) charakterisiert, wobei Kaufmann darauf insistiert, dass das Problem der Identitäten die soziale Frage umkreise und daher ein Problemfeld von erheblicher gesellschaftlicher Relevanz abstecke (vgl. ebd.: 52). ‚Iden- titätskonstruktionen‘ bezeichnen als heuristisches Modell in den gegenwärtigen sozio- logischen Auseinandersetzungen überdies den Versuch, das durch eine Vielzahl von gesellschafts- bzw. kulturgeschichtlichen Faktoren in die Krise geratene Individuum im Zeichen sog. spät- oder postmoderner Enttraditionalisierungen und soziostrukturel- ler bzw. soziokultureller Freisetzungen erkenntnistheoretisch neu zu positionieren (vgl. Eickelpasch/Rademacher 2004). Die gesellschaftlichen (und die in ihr zirkulierenden historischen) Wirklichkeiten pluralisieren sich in eine Vielzahl von Einzelperspektiven in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Erfahrungskontexte, ohne sich jedoch dabei radikal- konstruktivistisch aufzulösen (vgl. Stäheli 2000). Gerät die Identität in der Gegenwart in Bedrängnis, so scheint es umso verständlicher, sich dieser historisch zu versichern. Einflussreich ist die Vorstellung weitreichender ‚Individualisierungen‘ (vgl. Beck 1986) in der spätmodernen Gesellschaft, die sich identitätswirksam als aktive Selbstbehaup- tungsanforderungen – mit der darin inkludierten Gefahr des Scheiterns – auswirken. Dabei werden in den Gegenwartsdiagnosen gesellschaftlicher Identitätsbildungspro- 12 Einleitung zesse die Dimensionen ‚Arbeit‘ und ‚Familie‘ als Zentrum des identitären Selbstver- ständnisses ausgemacht (vgl. Eickelpasch/Rademacher: 30). Vernachlässigt werden dabei häufig übergreifende prädisponierende Identitätsvorstellungen als historische Identitä- ten, wie sie der ‚personalen Identität‘ lebensweltlich vorausgehen (vgl. Luckmann 2007b: 204-205). Die historische Lebenswelt in ihrer jeweiligen Gestalt ist demnach die Grund- struktur und Voraussetzung aller Identitätsbildungsprozesse, die von Luckmann ent- sprechend als ‚soziohistorisches Apriori‘ bezeichnet werden (vgl. Schnettler 2007: 181). Aus der Sicht der sozialphänomenologischen Lebenswelttheorie relativieren sich so- mit die Vorstellungen von frei flottierenden Identitätsbaukästen ein Stück weit und füh- ren sie ‚protosoziologisch‘ auf ihre soziologischen und historischen Verankerungen zurück – ein Aspekt, der im ‚anything goes‘ postmoderner Spielarten oftmals aus dem Blick gerät. Obwohl sich der Möglichkeitsraum der identitätswirksamen Selbstgestal- tung zunehmend verbreitert und Identität in der modernen Gesellschaft aktiv ‚angeeig- net‘ werden muss, bleibt dieser Möglichkeitsraum doch soziohistorisch determiniert. Gesellschaftliche Identitätsdifferenzierungen markieren gleichzeitig die ‚Plurali- sierung‘ subjektiver Vergangenheitsperspektivierungen, die als autobiographische Ge- schichtskonstruktionen die individuellen Interpretationen und Deutungen über Vergan- genheiten ausdrücken. Kraft eigenen Erlebens werden einzelne persönliche Erfahrun- gen, eingebettet in zeitgeschichtliche Kontexte, als ‚authentische‘ und ‚wahrhaftige‘ Geschichtsversionen identitätsrelevant. Die Behauptung und Verteidigung von Identi- tät wird somit nicht nur in Situationen des Alltags wirksam, sondern auch in langfristi- gen Entwürfen wie der biographischen Erzählung. In postmodernen Identitätstheorien werden subjektive Essentialisierungen und die Annahme über einen Kern der Persön- lichkeit zugunsten flexibler und polyvalenter Identitätsentwürfe und Selbstkonzeptio- nen aufgegeben (Moser/Nelles 2006: 7), was eine Reihe von erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung von historischen Identitäten in autobiographi- schen Konstruktionen aufwirft. Aus poststrukturalistischer Perspektive beruhen Identi- täts- und Selbstkonstruktionen auf reinen Textinszenierungen, die im Akt des autobio- graphischen Schreibens erst emergieren und beliebig gestaltbar sind (vgl. ebd.: 8-9). Obwohl es zutreffend ist, dass Identitäten narrativ konstruiert werden und mit dem Problem der Kontingenz umzugehen haben, so bleibt doch fragwürdig, ob die histori- schen Bezugspunkte innerhalb der Identitätskonstruktion ‚frei‘ wähl- und gestaltbar sind. Identitäten als Selbstbehauptungsstrategien dürfen also nicht nur in alltagsweltli- chen Handlungszusammenhängen auf dem Prüfstand stehen, sondern müssen ebenso in historischer Perspektive innerhalb lebensgeschichtlicher Selbstverortungen proble- matisiert werden. Die Erinnerungskulturforschung, die sich mit den Sinngebungspro- zessen von Vergangenheiten in Bezug auf die Gegenwart bzw. der Frage beschäftigt, was Menschen und Gesellschaften aus Geschichte machen, versucht, den substantiel- len Geist aus den jeweils gegenwärtigen Vergangenheitskonstruktionen auszutreiben, da die Einstellungen und Haltungen gegenüber der Vergangenheit sich im historischen Vergleich verändern. Insofern arbeitet Erinnerungsforschung nicht historiographisch (vgl. Assmann 2006a: 15-16), sondern hermeneutisch-interpretativ, was analytische Konsequenzen für den Umgang mit Geschichte in der Lebensgeschichte nach sich zieht. Geht man autobiographisch davon aus, dass Identitäten als Selbstbilder durch ‚Ge-

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