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Horkheimer, Adorno - Elemente des Antisemitismus PDF

14 Pages·2004·0.1 MB·German
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Max Horkheimer / Theodor W. Adorno Elemente des Antisemitismus GRENZEN DER AUFKLÄRUNG I zu sein. Ihre Beziehung zu den Herrenvölkern war die der Gier und der Furcht. Wann immer jedoch sie die Differenz Der Antisemitismus heute gilt den einen als Schicksalsfrage zum herrschenden Wesen preisgaben, tauschten die Arri- der Menschheit, den anderen als bloßer Vorwand. Für die vierten den kalten, stoischen Charakter dafür ein, den die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gesellschaft bis heute den Menschen aufzwingt. Die dialek- Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Aus- tische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das rottung soll das Glück der Welt abhängen. Dem entgegen- Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Be- gesetzt ist die These, die Juden, frei von nationalen oder freiung, das die Juden bei den großen Aufklärern wie den Rassemerkmalen, bildeten eine Gruppe durch religiöse demokratischen Volksbewegungen zu fühlen bekamen, Meinung und Tradition, durch nichts sonst. Jüdische Kenn- zeigt sich auch im Wesen der Assimilierten selbst. Die auf- zeichen bezögen sich auf Ostjuden, jedenfalls bloß auf noch geklärte Selbstbeherrschung, mit der die angepaßten Juden nicht ganz Assimilierte. Beide Doktrinen sind wahr und die peinlichen Erinnerungsmale der Beherrschung durch falsch zugleich. andere, gleichsam die zweite Beschneidung, an sich über- wanden, hat sie aus ihrer eigenen, verwitterten Gemein- schaft vorbehaltlos zum neuzeitlichen Bürgertum geführt, Die erste ist wahr in dem Sinn, daß der Faschismus sie wahr das schon unaufhaltsam zum Rückfall in die bare Unterdrü- gemacht hat. Die Juden sind heute die Gruppe, die prak- ckung, zu seiner Reorganisation als hundertprozentige tisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, Rasse vorwärts schritt. Rasse ist nicht, wie die Völkischen es den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolut sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte verstockte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Volk. Während es der Herrschaft ökonomisch nicht mehr Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bedürfte, werden die Juden als deren absolutes Objekt be- bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kol- stimmt, mit dem bloß noch verfahren werden soll. Den lektiv. Die Harmonie der Gesellschaft, zu der die liberalen Arbeitern, auf die es zuletzt freilich abgesehen ist, sagt es Juden sich bekannten, mußten sie zuletzt als die der Volks- aus guten Gründen keiner ins Gesicht; die Neger will man gemeinschaft an sich selbst erfahren. Sie meinten, der Anti- dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die semitismus erst entstelle die Ordnung, die doch in Wahrheit Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven ohne Entstehung der Menschen nicht leben kann. Die Ver- Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu folgung der Juden, wie Verfolgung überhaupt, ist von sol- vertilgen, Widerhall. Im Bild des Juden, das die Völkischen cher Ordnung nicht zu trennen. Deren Wesen, wie sehr es vor der Welt aufrichten, drucken sie ihr eigenes Wesen aus. sich zu Zeiten verstecke, ist die Gewalt, die heute sich of- Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht fenbart. ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie II nicht glauben können. Der Antisemitismus als Volksbewegung war stets, was Die andere, die liberale These ist wahr als Idee. Sie enthält seine Anstifter den Sozialdemokraten vorzuwerfen liebten: das Bild jener Gesellschaft, in der nicht länger Wut sich reproduziert und nach Eigenschaften sucht, an denen sie Gleichmacherei. Denen, die keine Befehlsgewalt haben, soll sich betätigen kann. Indem aber die liberale These die Ein- es ebenso schlecht gehen wie dem Volk. Vom deutschen heit der Menschen als prinzipiell bereits verwirklicht an- Beamten bis zu den Negern in Harlem haben die gierigen setzt, hilft sie zur Apologie des Bestehenden. Der Versuch, Nachläufer im Grunde immer gewußt, sie würden am Ende durch Minoritätenpolitik und demokratische Strategie die selber nichts davon haben als die Freude, daß die andern äußerste Bedrohung abzuwenden, ist zweideutig wie die auch nicht mehr haben. Die Arisierung des jüdischen Eigen- Defensive der letzten liberalen Bürger überhaupt. Ihre tums, die ohnehin meist den Oberen zugute kam, hat den Ohnmacht zieht den Feind der Ohnmacht an. Dasein und Massen im Dritten Reich kaum größeren Segen gebracht als Erscheinung der Juden kompromittiert die bestehende All- den Kosaken die armselige Beute, die sie aus den gebrand- gemeinheit durch mangelnde Anpassung. Das unabänderli- schatzten Judenvierteln mitschleppten. Der reale Vorteil che Festhalten an ihrer eigenen Ordnung des Lebens brachte war halbdurchschaute Ideologie. Daß die Demonstration sie zur herrschenden in ein unsicheres Verhältnis. Sie seiner ökonomischen Vergeblichkeit die Anziehungskraft erwarteten, von ihr erhalten zu werden, ohne ihrer doch des völkischen Heilmittels eher steigert als mildert, weist mächtig zu sein. Ihre Beziehung zu den Herrenvölkern war 1 auf seine wahre Natur: es hilft nicht den Menschen, sondern rationale Insel wird überschwemmt, und die Verzweifelten ihrem Drang nach Vernichtung. Der eigentliche Gewinn, erscheinen einzig noch als die Verteidiger der Wahrheit, als auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung die Erneuerer der Erde, die auch den letzten Winkel noch seiner Wut durchs Kollektiv. Je weniger sonst heraus- reformieren müssen. Alles Lebendige wird zum Material kommt, um so verstockter hält man sich wider die bessere ihrer scheußlichen Pflicht, der keine Neigung mehr Eintrag Erkenntnis an die Bewegung. Gegen das Argument man- tut. Die Tat wird wirklich autonomer Selbstzweck, sie be- gelnder Rentabilität hat sich der Antisemitismus immun mäntelt ihre eigene Zwecklosigkeit. Immer ruft der Antise- gezeigt. Für das Volk ist er ein Luxus. mitismus erst noch zu ganzer Arbeit auf. Zwischen Antise- mitismus und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Seine Zweckmäßigkeit für die Herrschaft liegt zutage. Er Zusammenhang. Blindheit erlaßt alles, weil sie nichts be- wird als Ablenkung, billiges Korruptionsmittel, terroristi- greift. sches Exempel verwandt. Die respektablen Rackets unter- halten ihn, und die irrespektablen üben ihn aus. Die Gestalt Der Liberalismus hatte den Juden Besitz gewährt, aber ohne des Geistes aber, des gesellschaftlichen wie des individuel- Befehlsgewalt. Es war der Sinn der Menschenrechte, Glück len, die im Antisemitismus erscheint, die urgeschichtlich- auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist. Weil die geschichtliche Verstrickung, in die er als verzweifelter Ver- betrogenen Massen ahnen, daß dies Versprechen, als allge- such des Ausbruchs gebannt bleibt, ist ganz im Dunkel. meines, Lüge bleibt, solange es Klassen gibt, erregt es ihre Wenn einem der Zivilisation so tief innewohnenden Leiden Wut; sie fühlen sich verhöhnt. Noch als Möglichkeit, als sein Recht in der Erkenntnis nicht wird, vermag es auch der Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs Einzelne in der Erkenntnis nicht zu beschwichtigen, wäre er neue verdrängen, sie verleugnen ihn um so wilder, je mehr auch so gutwillig wie nur das Opfer selbst. Die bündig er an der Zeit ist. Wo immer er inmitten der prinzipiellen rationalen, ökonomischen und politischen Erklärungen und Versagung verwirklicht erscheint, müssen sie die Unterdrü- Gegenargumente - so Richtiges sie immer bezeichnen - ckung wiederholen, die der eigenen Sehnsucht galt. Was vermögen es nicht, denn die mit Herrschaft verknüpfte zum Anlaß solcher Wiederholung wird, wie unglücklich Rationalität liegt selbst auf dem Grunde des Leidens. Als selbst es auch sein mag, Ahasver und Mignoi, Fremdes, das blind Zuschlagende und blind Abwehrende gehören Ver- ans verheißene Land, Schönheit, die ans Geschlecht erin- folger und Opfer noch dem gleichen Kreis des Unheils an. nert, das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen gemahnt, zieht die Zerstörungslust der Zivilisierten auf ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte sich, die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz Menschen als Subjekte losgelassen werden. Was sie tun, vollziehen konnten. Denen, die Natur krampfhaft beherr- sind - für die Beteiligten - tödliche und dabei sinnleere Re- schen, spiegelt die gequälte aufreizend den Schein von aktionen, wie Behavioristen sie feststellen, ohne sie zu deu- ohnmächtigem Glück wider. Der Gedanke an Glück ohne ten. Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre. ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wah- Das Hirngespinst von der Verschwörung lüsterner jüdischer ren Ritualmorde. In ihnen wird die Ohnmacht dessen de- Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren, steht als Zei- monstriert, was ihnen Einhalt gebieten könnte, der Besin- chen eingeborener Ohnmacht, das gute Leben als Zeichen nung, des Bedeutens, schließlich der Wahrheit. Im läppi- von Glück. Dazu gesellt sich das Bild des Intellektuellen; er schen Zeitvertreib des Totschlags wird das sture Leben scheint zu denken, was die anderen sich nicht gönnen, und bestätigt, in das man sich schickt. vergießt nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft. Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und Geist, die Ex- Erst die Blindheit des Antisemitismus, seine Intentionslo- ponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild sigkeit, verleiht der Erklärung, er sei ein Ventil, ihr Maß an der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft Wahrheit. Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient. Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protes- III tanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mör- der treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald Die heutige Gesellschaft, in der religiöse Urgefühle und es als die Norm sich mächtig fühlt. Es gibt keinen genuinen Renaissancen ebenso wie die Erbmasse von Revolutionen Antisemitismus, gewiß keine geborenen Antisemiten. Die am Markte feilstehen, in der die faschistischen Führer hinter Erwachsenen, denen der Ruf nach Judenblut zur zweiten verschlossenen Türen Land und Leben der Nationen aus- Natur geworden ist, wissen so wenig warum, wie die Ju- handeln, während das gewiegte Publikum am Radioemp- gend, die es vergießen soll. Die hohen Auftraggeber freilich, fänger den Preis nachrechnet, die Gesellschaft, in der noch die es wissen, hassen die Juden nicht und lieben nicht die das Wort, das sie entlarvt, sich eben damit als Empfehlung Gefolgschaft. Diese aber, die weder ökonomisch noch sexu- zur Aufnahme in ein politisches Racket legitimiert: diese ell auf ihre Kosten kommt, haßt ohne Ende; sie will keine Gesellschaft, in der nicht bloß mehr die Politik ein Geschäft Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt. So ist ist, sondern das Geschäft die ganze Politik - sie entrüstet es in der Tat eine Art dynamischer Idealismus, der die or- sich über das zurückgebliebene Händlergebaren des Juden ganisierten Raubmörder beseelt. Sie ziehen aus, um zu und bestimmt ihn als den Materialisten, den Schacherer, der plündern, und machen eine großartige Ideologie dazu, dem Feuergeist derer weichen soll, die das Geschäft zum faseln von der Rettung der Familie, des Vaterlandes, der Absoluten erhoben haben. Menschheit. Da sie aber die Geprellten bleiben, was sie freilich insgeheim schon ahnten, fällt schließlich ihr erbärm- Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen liches rationales Motiv, der Raub, dem die Rationalisierung ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in dienen sollte, ganz fort und diese wird ehrlich wider Willen. Produktion. Waren in früheren Epochen die Herrschenden Der unerhellte Trieb, dem sie von Anfang an verwandter unmittelbar repressiv, so daß sie den Unteren nicht nur die war als der Vernunft, ergreift von ihnen ganz Besitz. Die 2 Arbeit ausschließlich überließen, sondern die Arbeit als die die Völker Europas nicht bewirkt, man ließ ihn keine Wur- Schmach deklarierten, die sie unter der Herrschaft immer zeln schlagen und schalt ihn darum wurzellos. Stets blieb er war, so verwandelt sich im Merkantilismus der absolute Schutzjude, abhängig von Kaisern, Fürsten oder dem abso- Monarch in den größten Manufakturherrn. Produktion wird lutistischen Staat. Sie alle waren einmal ökonomisch avan- hoffähig. Die Herren als Bürger haben schließlich den bun- ciert gegenüber der zurückgebliebenen Bevölkerung. Soweit ten Rock ganz ausgezogen und Zivil angelegt. Arbeit sie den Juden als Vermittler brauchen konnten, schützten schändet nicht, sagten sie, um der der andern rationaler sich sie ihn gegen die Massen, welche die Zeche des Fortschritts zu bemächtigen. Sie selbst reihten sich unter die Schaffen- zu zahlen hatten. Die Juden waren Kolonisatoren des Fort- den ein, während sie doch die Raffenden blieben wie ehe- schritts. Seit sie als Kaufleute römische Zivilisation im genti- dem. Der Fabrikant wagte und strich ein wie Handelsherr len Europa verbreiten halfen, waren sie im Einklang mit und Bankier. Er kalkulierte, disponierte, kaufte, verkaufte. ihrer patriarchalen Religion die Vertreter städtischer, bür- Am Markt konkurrierte er mit jenen um den Profit, der gerlicher, schließlich industrieller Verhältnisse. Sie trugen seinem Kapital entsprach. Nur raffte er nicht bloß am Markt kapitalistische Existenzformen in die Lande und zogen den sondern an der Quelle ein: als Funktionär der Klasse sorgte Haß derer auf sich, die unter jenen zu leiden hatten. Um des er dafür, daß er bei der Arbeit seiner Leute nicht zu kurz wirtschaftlichen Fortschritts willen, an dem sie heute zu kam. Die Arbeiter hatten so viel wie möglich abzuliefern. Grunde gehen, waren die Juden von Anbeginn den Hand- Als der wahre Shylock bestand er auf seinem Schein. Auf werkern und Bauern, die der Kapitalismus deklassierte, ein Grund des Besitzes der Maschinen und des Materials er- Dorn im Auge. Seinen ausschließenden, partikularen Cha- zwang er, daß die andern produzierten. Er nannte sich den rakter erfahren sie nun an sich selber. Die immer die ersten Produzenten, aber er wie jeder wußte insgeheim die Wahr- sein wollten, werden weit zurückgelassen. Selbst der jüdi- heit. Die produktive Arbeit des Kapitalisten, ob er seinen sche Regent eines amerikanischen Vergnügungstrusts lebt Profit mit dem Unternehmerlohn wie im Liberalismus oder in seinem Glanz in hoffnungsloser Defensive. Der Kaftan dem Direktorengehalt wie heute rechtfertigte, war die Ideo- war das geisterhafte Überbleibsel uralter Bürgertracht. Heu- logie, die das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende te zeigt er an, daß seine Träger an den Rand der Gesellschaft Natur des Wirtschaftssystems überhaupt zudeckte. geschleudert wurden, die, selber vollends aufgeklärt, die Gespenster ihrer Vorgeschichte austreibt. Die den Individu- Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den alismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propa- Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für ein- gierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürger- zelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfas- recht, das ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen senden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Klasse aufgebürdet wird. Der Fabrikant hat seine Schuldner, Der Jude, ohne Unterschied. Auf das Bündnis mit der Zent- die Arbeiter, in der Fabrik unter den Augen und kontrolliert ralgewalt blieb der Jude auch im neunzehnten Jahrhundert ihre Gegenleistung, ehe er noch das Geld vorstreckt. Was in angewiesen. Das allgemeine, vom Staat geschützte Recht Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn war das Unterpfand seiner Sicherheit, das Ausnahmegesetz sie sehen, was sie dafür kaufen können: der kleinste Magnat sein Schreckbild. Er blieb Objekt, der Gnade ausgeliefert, kann über ein Quantum von Diensten und Gütern verfügen auch wo er auf dem Recht bestand. Der Handel war nicht wie kein Herrscher zuvor; die Arbeiter jedoch erhalten das sein Beruf, er war sein Schicksal. Er war das Trauma des sogenannte kulturelle Minimum. Nicht genug daran, daß Industrieritters, der sich als Schöpfer aufspielen muß. Aus sie am Markt erfahren, wie wenig Güter auf sie entfallen, dem jüdischen Jargon hört er heraus, wofür er sich insge- preist der Verkäufer noch an, was sie sich nicht leisten kön- heim verachtet: sein Antisemitismus ist Selbstbaß, das nen. Im Verhältnis des Lohns zu den Preisen erst drückt schlechte Gewissen des Parasiten. sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird. Mit ihrem Lohn nahmen sie zugleich das Prinzip der Entlöhnung an. IV Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichts- Der völkische Antisemitismus will von der Religion abse- vollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die hen. Er behauptet, es gehe um Reinheit von Rasse und Nati- andern auf sich. Die Verantwortlichkeit der Zirkulations- on. Sie merken, daß die Menschen der Sorge ums ewige sphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Heil längst entsagt haben. Der durchschnittliche Gläubige Schein. ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden vorzuwerfen, sie seien versteckte Ungläubige, bringt Die Juden hatten die Zirkulationssphäre nicht allein besetzt. keine Masse mehr in Bewegung. Schwerlich aber ist die Aber sie waren allzu lange in sie eingesperrt, als daß sie religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Juden- nicht den Haß, den sie seit je ertrugen, durch ihr Wesen verfolgung antrieb, ganz erlöschen. Eher bezeugt der Eifer, zurückspiegelten. Ihnen war im Gegensatz zum arischen mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition ver- Kollegen der Zugang zum Ursprung des Mehrwerts weithin leugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief inne- verschlossen. Zum Eigentum an Produktionsmitteln hat wohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane man sie nur schwer und spät gelangen lassen. Freilich ha- Idiosynkrasie. Religion ward als Kulturgut eingegliedert, ben es die getauften Juden in der Geschichte Europas und nicht aufgehoben. Das Bündnis von Aufklärung und Herr- noch im deutschen Kaiserreich zu hohen Stellungen in Ver- schaft hat dem Moment ihrer Wahrheit den Zugang zum waltung und Industrie gebracht. Immer jedoch hatten sie es Bewußtsein abgeschnitten und ihre verdinglichten Formen mit doppelter Ergebenheit, beflissenem Aufwand, hartnä- konserviert. Beides kommt zuletzt dem Faschismus zugute: ckiger Selbstverleugnung zu rechtfertigen. Man ließ sie die unbeherrschte Sehnsucht wird als völkische Rebellion heran nur, wenn sie durch ihr Verhalten das Verdikt über kanalisiert, die Nachfahren der evangelistischen Schwarm- die andern Juden stillschweigend sich zueigneten und geister werden nach dem Modell der Wagnerschen Gralshü- nochmals bestätigten: das ist der Sinn der Taufe. Alle Groß- ter in Verschworene der Blutsgemeinschaft und Elitegarden taten der Prominenten haben die Aufnahme der Juden in verkehrt, die Religion als Institution teils unmittelbar mit 3 dem System verfilzt, teils ins Gepränge von Massenkultur Opfer rational. Das Tabu wandelt sich in die rationale Rege- und Aufmärschen transponiert. Der fanatische Glaube, lung des Arbeitsprozesses. Es ordnet die Verwaltung in dessen Führer und Gefolgschaft sich nähmen, ist kein ande- Krieg und Frieden, das Säen und Ernten, Speisebereitung rer als der verbissene, der früher die Verzweifelten bei der und Schlächterei. Entspringen die Regeln auch nicht aus Stange hielt, nur sein Inhalt ist abhanden gekommen. Von rationaler Überlegung, so entspringt doch aus ihnen Ratio- diesem lebt einzig noch der Haß gegen die, welche den nalität. Die Anstrengung, aus der unmittelbaren Furcht sich Glauben nicht teilen. Bei den deutschen Christen blieb von zu befreien, schuf beim Primitiven die Veranstaltung des der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus. Rituals, sie läutert sich im Judentum zum geheiligten Rhythmus des familiären und staatlichen Lebens. Die Pries- Das Christentum ist nicht bloß ein Rückfall hinter das Ju- ter waren zu Wächtern darüber bestimmt, daß der Brauch dentum. Dessen Gott hat beim Übergang von der he- befolgt werde. Ihre Funktion in der Herrschaft war in der notheistischen in die universale Gestalt die Züge des Na- theokratischen Praxis offenbar; das Christentum aber wollte turdämons noch nicht völlig abgeworfen. Der Schrecken, geistlich bleiben, auch wo es nach der Herrschaft trachtete. der aus präanimistischer Vorzeit stammt, geht aus der Na- Es hat die Selbsterhaltung durchs letzte Opfer, das des tur in den Begriff des absoluten Selbst über, das als ihr Gottmenschen, in der Ideologie gebrochen, eben damit aber Schöpfer und Beherrscher die Natur vollends unterwirft. In das entwertete Dasein der Profanität überantwortet: das all seiner unbeschreiblichen Macht und Herrlichkeit, die mosaische Gesetz wird abgeschafft, aber dem Kaiser wie ihm solche Entfremdung verleiht, ist er doch dem Gedanken dem Gott je das Seine gegeben. Die weltliche Obrigkeit wird erreichbar, der eben durch die Beziehung auf ein Höchstes, bestätigt oder usurpiert, das Christliche als das konzessio- Transzendentes universal wird. Gott als Geist tritt der Natur nierte Heilsressort betrieben. Die Überwindung der Selbst- als das andere Prinzip entgegen, das nicht bloß für ihren erhaltung durch die Nachahmung Christi wird verordnet. blinden Kreislauf einsteht wie alle mythischen Götter, son- So wird die aufopfernde Liebe der Naivität entkleidet, von dern aus ihm befreien kann. Aber in seiner Abstraktheit und der natürlichen getrennt und als Verdienst gebucht. Die Ferne hat sich zugleich der Schrecken des Inkommensurab- durchs Heilswissen vermittelte soll dabei doch die unmit- len verstärkt, und das eherne Wort Ich bin, das nichts neben telbare sein; Natur und Übernatur seien in ihr versöhnt. sich duldet, Überbietet an unausweichlicher Gewalt den Darin liegt ihre Unwahrheit: in der trügerisch affirmativen blinderen, aber darum auch vieldeutigeren Spruch des ano- Sinngebung des Selbstvergessens. nymen Schicksals. Der Gott des Judentums fordert, was ihm gebührt, und rechnet mit dem Säumigen ab. Er verstrickt Die Sinngebung ist trügerisch, weil zwar die Kirche davon sein Geschöpf ins Gewebe von Schuld und Verdienst. Dem- lebt, daß die Menschen in der Befolgung ihrer Lehre, forde- gegenüber hat das Christentum das Moment der Gnade re sie Werke, wie die katholische oder den Glauben, wie die hervorgehoben, das freilich im Judentum selber im Bund protestantische Version, den Weg zur Erlösung sehen, aber Gottes mit den Menschen und in der messianischen Verhei- doch das Ziel nicht garantieren kann. Die Unverbindlichkeit ßung enthalten ist. Es hat den Schrecken des Absoluten des geistlichen Heilsversprechens, dieses jüdische und ne- gemildert, indem die Kreatur in der Gottheit sich selbst gative Moment in der christlichen Doktrin, durch das Magie wiederfindet: der göttliche Mittler wird mit einem mensch- und schließlich noch die Kirche relativiert ist, wird vom lichen Namen gerufen und stirbt einen menschlichen Tod. naiven Gläubigen im stillen fortgewiesen, ihm wird das Seine Botschaft ist: Fürchtet euch nicht; das Gesetz zergeht Christentum, der Supranaturalismus, zum magischen Ritu- vor dem Glauben; größer als alle Majestät wird die Liebe, al, zur Naturreligion. Er glaubt nur, indem er seinen Glau- das einzige Gebot. ben vergißt. Er redet sich Wissen und Gewißheit ein wie Astrologen und Spiritisten. Das ist nicht notwendig das Aber kraft der gleichen Momente, durch welche das Chris- Schlechtere gegenüber der vergeistigten Theologie. Das tentum den Bann der Naturreligion fortnimmt, bringt es die italienische Mütterchen, das dem heiligen Gennaro für den Idolatrie, als vergeistigte, nochmals hervor. Um soviel wie Enkel im Krieg in gläubiger Einfalt eine Kerze weiht, mag das Absolute dem Endlichen genähert wird, wird das Endli- der Wahrheit näher sein als die Popen und Oberpfarrer, die che verabsolutiert. Christus, der fleischgewordene Geist, ist frei vom Götzendienst die Waffen segnen, gegen die der der vergottete Magier. Die menschliche Selbstreflexion im heilige Gennaro machtlos ist. Der Einfalt aber wird die Reli- Absoluten, die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist gion selbst zum Religionsersatz. Die Ahnung davon war das proton pseudos. Der Fortschritt über das Judentum ist dem Christentum seit seinen ersten Tagen beigesellt, aber mit der Behauptung erkauft, der Mensch Jesus sei Gott nur die paradoxen Christen, die antioffiziellen, von Pascal gewesen. Gerade das reflektive Moment des Christentums, über Lessing und Kierkegaard bis Barth machten sie zum die Vergeistigung der Magie ist schuld am Unheil. Es wird Angelpunkt ihrer Theologie. In solchem Bewußtsein waren eben das als geistigen Wesens ausgegeben, was vor dem sie nicht bloß die Radikalen sondern auch die Duldsamen. Geist als natürlichen Wesens sich erweist. Genau in der Die anderen aber, die es verdrängten und mit schlechtem Entfaltung des Widerspruchs gegen solche Prätention von Gewissen das Christentum als sicheren Besitz sich einrede- Endlichem besteht der Geist. So muß das schlechte Gewis- ten, mußten sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer sen den Propheten als Symbol empfehlen, die magische bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten. Praxis als Wandlung. Das macht das Christentum zur Reli- Das ist der religiöse Ursprung des Antisemitismus. Die gion, in gewissem Sinn zur einzigen: zur gedanklichen Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes Bindung ans gedanklich Suspekte, zum kulturellen Sonder- gehaßt als die, welche es besser wissen. Es ist die Feind- bereich. Wie die großen asiatischen Systeme war das vor- schaft des sich als Heil verhärtenden Geistes gegen den christliche Judentum der vom nationalen Leben, von der Geist. Das Ärgernis für die christlichen Judenfeinde ist die allgemeinen Selbsterhaltung kaum geschiedene Glaube. Die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisie- Umformung des heidnischen Opferrituals vollzog sich we- ren und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf der bloß im Kultus noch bloß im Gemüt, sie bestimmte die und Heilsordnung festhält, die sie angeblich bewirken sol- Form des Arbeitsvorganges. Als dessen Schema wird das len. Der Antisemitismus soll bestätigen, daß das Ritual von 4 Glaube und Geschichte recht hat, indem er es an jenen voll- seine Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflekto- streckt, die solches Recht verneinen. rischer Mimesis zu beherrschter Reflexion. Anstelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt die »Rekognition im V Begriff « die Befassung des Verschiedenen unter Gleiches. Die Konstellation aber, unter der Gleichheit sich herstellt, die unmittelbare der Mimesis wie die vermittelte der Syn- »Ich kann dich ja nicht leiden - Vergiß das nicht so leicht« thesis, die Angleichung ans Ding im blinden Vollzug des sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Lebens wie die Vergleichung»des Verdinglichten in der Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkra- wissenschaftlichen Begriffsbildung, bleibt die des Schre- sie. Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff ckens. Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den erhoben, das Sinnlose seiner selbst innewird, hängt die dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab. konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Idiosynkrasie aber heftet sich an Besonderes. Als natürlich Natur zurückschlägt als gesellschaftliche Herrschaft über gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammen- die Natur. Wissenschaft ist Wiederholung, verfeinert zu hänge der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die sich nicht beobachteter Regelmäßigkeit, aufbewahrt in Stereotypen. durch die Kanäle der begrifflichen Ordnung zum Zweckvol- Die mathematische Formel ist bewußt gehandhabte Regres- len geläutert hat, der schrille Laut des Griffels auf Schiefer, sion, wie schon der Zauber-Ritus war; sie ist die sublimier- der durch und durch geht, der haut goût, der an Dreck und teste Betätigung von Mimikry. Technik vollzieht die Anpas- Verwesung gemahnt, der Schweiß, der auf der Stirn des sung ans Tote im Dienste der Selbsterhaltung nicht mehr Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht ganz mitge- wie Magie durch körperliche Nachahmung der äußeren kommen ist oder die Verbote verletzt, in denen der Fort- Natur, sondern durch Automatisierung der geistigen Pro- schritt der Jahrhunderte sich sedimentiert, wirkt penetrant zesse, durch ihre Umwandlung in blinde Abläufe. Mit ih- und fordert zwangshaften Abscheu heraus. rem Triumph werden die menschlichen Äußerungen so- wohl beherrschbar als zwangsmäßig. Von der Angleichung Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die an die Natur bleibt allein die Verhärtung gegen diese übrig. Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen Urge- Die Schutz- und Schreckfarbe heute ist die blinde Naturbe- schichte her: Zeichen der Gefahr, bei deren Laut das Haar herrschung, die mit der weitblickenden Zweckhaftigkeit sich sträubte und das Herz stillstand. In der Idiosynkrasie identisch ist. entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamenta- In der bürgerlichen Produktionsweise wird das untilgbar len Reizen. Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der mimetische Erbe aller Praxis dem Vergessen überantwortet. Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer Das erbarmungslose Verbot des Rückfalls wird selber zum doch nicht ganz mächtig. Für Augenblicke vollziehen sie die bloßen Verhängnis, die Versagung ist so total geworden, Angleichung an die umgebende unbewegte Natur. Indem daß sie nicht mehr zum bewußten Vollzug gelangt. Die von aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten bloßer Natur sich nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhal- denn unbewegte Natur, zu der, wie Daphne, Lebendiges in tensweisen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolier- höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußer- te Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten lichsten, der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu absolute Entfremdung. Wo Menschliches werden will wie vertraut. Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation Natur, verhärtet es sich zugleich gegen sie. Schutz als Schre- unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, cken ist eine Form der Mimikry. Jene Erstarrungsreaktionen Beschwichtigen, Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitge- am Menschen sind archaische Schemata der Selbsterhal- mäße jener Regungen. Sie scheinen die längst verdinglich- tung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch ten menschlichen Beziehungen wieder in persönliche Angleichung ans Tote. Machtverhältnisse zurückzuübersetzen, indem sie den Käu- fer durch Schmeicheln, den Schuldner durch Drohen, den Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans Gläubiger durch Flehen zu erweichen suchen. Peinlich andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, wirkt schließlich jede Regung überhaupt, Aufregung ist zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handha- minder. Aller nicht-manipulierte Ausdruck erscheint als die bung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die Grimasse, die der manipulierte - im Kino, bei der Lynchjus- rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte Mimesis tiz, in der Führer-Rede - immer war. Die undisziplinierte wird verfemt. Der Engel mit dem feurigen Schwert, der die Mimik aber ist das Brandzeichen der alten Herrschaft, in die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen lebende Substanz der Beherrschten eingeprägt und kraft Fortschritts trieb, ist selbst das Sinnbild solchen Fortschritts. eines unbewußten Nachahmungsprozesses durch jede frühe Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Kindheit hindurch auf Generationen vererbt, vom Trödelju- Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den be- den auf den Bankier. Solche Mimik fordert die Wut heraus, herrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinswei- weil sie angesichts der neuen Produktionsverhältnisse die sen abschnitten, angefangen vom religiösen Bildverbot über alte Angst zur Schau trägt, die man, um in ihnen zu überle- die Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu ben, selbst vergessen mußte. Auf das zwangshafte Moment, sein, ist die Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche auf die Wut des Quälers und des Gequälten, die ungeschie- und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der den in der Grimasse wieder erscheinen, spricht die eigene objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und Wut im Zivilisierten an. Dem ohnmächtigen Schein antwor- bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf tet die tödliche Wirklichkeit, dem Spiel der Ernst. und Nieder der umgebenden Natur. Alles Abgelenktwer- den, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Ar- Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden. Durch beit zu tun, lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem 5 Ernst des Daseins zu entziehen, indem sie ihn fessellos von dem Drang, ans andere sich zu verlieren und gleich zu eingesteht: so ist sie unecht. Aber Ausdruck ist der schmerz- werden. Darum ist Geruch, als Wahrnehmung wie als liche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, ehe laut wird in Wahrgenommenes - beide werden eins im Vollzug - mehr der Klage. Er ist stets übertrieben, wie aufrichtig er auch sei, Ausdruck als andere Sinne. Im Sehen bleibt man, wer man denn, wie in jedem Werk der Kunst, scheint in jedem Klage- ist, im Riechen geht man auf. So gilt der Zivilisation Geruch laut die ganze Welt zu liegen. Angemessen ist nur die Leis- als Schmach, als Zeichen niederer sozialer Schichten, min- tung. Sie und nicht Mimesis vermag dem Leiden Abbruch derer Rassen und unedler Tiere. Dem Zivilisierten ist Hin- zu tun. Aber ihre Konsequenz ist das unbewegte und unge- gabe an solche Lust nur gestattet, wenn das Verbot durch rührte Antlitz, schließlich am Ende des Zeitalters das Baby- Rationalisierung im Dienst wirklich oder scheinbar prakti- gesicht der Männer der Praxis, der Politiker, Pfaffen, Gene- scher Zwecke suspendiert wird. Man darf dem verpönten raldirektoren und Racketeers. Die heulende Stimme faschis- Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Aus- tischer Hetzredner und Lagervögte zeigt die Kehrseite des- rottung gilt. Das ist die Erscheinung des Spaßes oder des selben gesellschaftlichen Sachverhalts. Das Geheul ist so Ulks. Er ist die elende Parodie der Erfüllung. Als verachtete, kalt wie das Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der sich selbst verachtende, wird die mimetische Funktion hä- Natur und machen ihn zum Element ihrer Technik. Ihr misch genossen. Wer Gerüche wittert, um sie zu tilgen, Gebrüll ist fürs Pogrom, was die Lärmvorrichtung für die »schlechte« Gerüche, darf das Schnuppern nach Herzenslust deutsche Fliegerbombe ist: der Schreckensschrei, der Schre- nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude cken bringt, wird angedreht. Vom Wehlaut des Opfers, der hat. Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine zuerst Gewalt beim Namen rief, ja, vom bloßen Wort, das unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz die Opfer meint: Franzose, Neger, Jude, lassen sie sich ab- desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die Schwelle sichtlich in die Verzweiflung von Verfolgten versetzen, die passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der anti- zuschlagen müssen. Sie sind das falsche Konterfei der semitischen Reaktionsweise. Um den Augenblick der auto- schreckhaften Mimesis. Sie reproduzieren die Unersättlich- ritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln keit der Macht in sich, vor der sie sich fürchten. Alles soll sich die Antisemiten, er allein macht sie zum Kollektiv, er gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Exis- konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen. Ihr Getöse tenz des anderen ist das Ärgernis. Jeder andere »macht sich ist das organisierte Gelächter. Je grauenvoller Anklagen und breit« und muß in seine Schranken verwiesen werden, die Drohungen, je größer die Wut, um so zwingender zugleich des schrankenlosen Graues. Was Unterschlupf sucht, soll der Hohn. Wut, Hohn und vergiftete Nachahmung sind ihn nicht finden; denen, die ausdrücken, wonach alle süch- eigentlich dasselbe. Der Sinn des faschistischen Formelwe- tig sind, den Frieden, die Heimat, die Freiheit: den Noma- sens, der ritualen Disziplin, der Uniformen und der gesam- den und Gauklern hat man seit je das Heimatrecht ver- ten vorgeblich irrationalen Apparatur ist es, mimetisches mehrt. Was einer fürchtet, wird ihm angetan. Selbst die Verhalten zu ermöglichen. Die ausgeklügelten Symbole, die letzte Ruhe soll keine sein. Die Verwüstung der Friedhöfe jeder konterrevolutionären Bewegung eigen sind, die To- ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er selbst. tenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommel- Die Vertriebenen erwecken zwangshaft die Lust zu vertrei- schlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten ben. Am Zeichen, das Gewalt an ihnen hinterlassen hat, sind ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Prak- entzündet endlos sich Gewalt. Getilgt soll werden, was bloß tiken, die Mimesis der Mimesis. Der Führer mit dem vegetieren will. In den chaotisch-regelhaften Fluchtreaktio- Schmierengesicht und dem Charisma der andrehbaren nen der niederen Tiere, in den Figuren des Gewimmels, in Hysterie führt den Reigen. Seine Vorstellung leistet stellver- den konvulsivischen Gesten von Gemarterten stellt sich dar, tretend und im Bilde, was allen anderen in der Realität was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz beherr- vermehrt ist. Hitler kann gestikulieren wie ein Clown, Mus- schen läßt: der mimetische Impuls. Im Todeskampf der solini falsche Töne wagen wie ein Provinztenor, Goebbels Kreatur, am äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die geläufig reden wie der jüdische Agent, den er zu ermorden Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung empfiehlt, Coughlin Liebe predigen wie nur der Heilend, der Materie durch. Dagegen richtet sich die Idiosynkrasie, dessen Kreuzigung er darstellt, auf daß stets wieder Blut die der Antisemitismus als Motiv vorgibt. vergossen werde. Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar zu machen einspannt, ist solche rationalisierte Idiosynkrasie. Alle die strebt. Vorwände, in denen Führer und Gefolgschaft sich verste- hen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige Verletzung Dieser Mechanismus bedarf der Juden. Ihre künstlich ge- des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen steigerte Sichtbarkeit wirkt auf den legitimen Sohn der Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht gentilen Zivilisation gleichsam als magnetisches Feld. In- leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es dem der Verwurzelte an seiner Differenz vom Juden die nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt. Das Gleichheit, das Menschliche, gewahrt, wird in ihm das Ge- sind immer selbst mimetische Chiffren: die argumentieren- fühl des Gegensatzes, der Fremdheit, induziert. So werden de Handbewegung, der singende Tonfall, wie er unabhän- die tabuierten, der Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung gig vom Urteilssinn ein bewegtes Bild von Sache und Ge- zuwiderlaufenden Regungen in konformierende Idiosynk- fühl malt, die Nase, das physiognomische principium indi- rasien umgesetzt. Die ökonomische Position der Juden, der viduationis, ein Schriftzeichen gleichsam, das dem Einzel- letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie, nen den besonderen Charakter ins Gesicht schreibt. In den bietet dagegen keinen zuverlässigen Schutz. Da sie zur vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die alte Sehn- Erzeugung jener seelischen Induktionsströme so geeignet sucht nach dem Unteren fort, nach der unmittelbaren Verei- sind, werden sie zu solchen Funktionen willenlos bereitge- nigung mit umgebender Natur, mit Erde und Schlamm. stellt. Sie teilen das Schicksal der rebellierenden Natur, für Von allen Sinnen zeugt der Akt des Reichens, das angezo- die sie der Faschismus einsetzt: sie werden blind und gen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten scharfsichtig gebraucht. Es verschlägt wenig, ob die Juden 6 als Individuen wirklich noch jene mimetischen Züge tragen, prägt noch das Vertrauteste als Feind. Regungen, die vom die böse Ansteckung bewirken, oder ob sie jeweils unter- Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und schoben werden. Haben die ökonomischen Machthaber ihre ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: Angst vor der Heranziehung faschistischer Sachwalter erst dem prospektiven Opfer. Dem gewöhnlichen Paranoiker einmal überwunden, so stellt sich den Juden gegenüber die steht dessen Wahl nicht frei, sie gehorcht den Gesetzen Harmonie der Volksgemeinschaft automatisch her. Sie wer- seiner Krankheit. Im Faschismus wird dies Verhalten von den von der Herrschaft preisgegeben, wenn diese kraft ihrer Politik ergriffen, das Objekt der Krankheit wird realitätsge- fortschreitenden Entfremdung von Natur in bloße Natur recht bestimmt, das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in zurückschlägt. Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der der Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht. Der Me- verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet chanismus, den die totalitäre Ordnung in Dienst nimmt, ist als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüste der Ein- so alt wie die Zivilisation. Dieselben geschlechtlichen Re- heimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, gungen, die das Menschengeschlecht unterdrückte, wußten in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles bei Einzelnen wie bei Völkern in der vorstellungsmäßigen Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projek- Verwandlung der Umwelt in ein diabolisches System sich tion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so zu erhalten und durchzusetzen. Stets hat der blind Mordlus- gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, tige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzwei- und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen felt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Inhalt der Projektion. Die völkischen Phantasien jüdischer Reiche haben den schwächsten Nachbarn als unerträgliche Verbrechen, der Kindermorde und sadistischen Exzesse, der Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen. Die Rati- Volksvergiftung und internationalen Verschwörung defi- onalisierung war eine Finte und zwangshaft zugleich. Der nieren genau den antisemitischen Wunschtraum und blei- als Feind Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen. ben hinter seiner Verwirklichung zurück. Ist es einmal so Die Störung liegt in der mangelnden Unterscheidung des weit, dann erscheint das bloße Wort Jude als die blutige Subjekts zwischen dem eigenen und fremden Anteil am Grimasse, deren Abbild die Hakenkreuzfahne - Totenschä- projizierten Material. del und gerädertes Kreuz in einem - entrollt; daß einer Jude heißt, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren. Die dem Bilde gleicht. Projektion von Eindrücken der Sinne ist ein Vermächtnis der tierischen Vorzeit, ein Mechanismus für die Zwecke von Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der Schutz und Fraß, verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, alles in bloße Natur verwandelt. mit der die höheren Tierarten, lustvoll und unlustvoll, auf Bewegung reagierten, unabhängig von der Absicht des Die Juden selber haben daran durch die Jahrtausende teil- Objekts. Projektion ist im Menschen automatisiert wie ande- gehabt, mit Aufklärung nicht weniger als mit Zynismus. re Angriffs- und Schutzleistungen, die Reflexe wurden. So Das älteste überlebende Patriarchat, die Inkarnation des konstituiert sich seine gegenständliche Welt, als Produkt Monotheismus, haben sie die Tabus in zivilisatorische Ma- jener »verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen ximen verwandelt, da die anderen noch bei der Magie hiel- Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich ten. Den Juden schien gelungen, worum das Christentum jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen wer- vergebens sich mühte: die Entmächtigung der Magie ver- den« . Das System der Dinge, das feste Universum, von dem möge ihrer eigenen Kraft, die als Gottesdienst sich wider die Wissenschaft bloß den abstrakten Abdruck bildet, ist, sich selber kehrt. Sie haben die Angleichung an Natur nicht wenn man die kantische Erkenntniskritik anthropologisch, sowohl ausgerottet als sie aufgehoben in den reinen Pflich- das bewußtlos zustandekommende Erzeugnis des tierischen ten des Rituals. Damit haben sie ihr das versöhnende Ge- Werkzeugs im Lebenskampf, jener selbsttätigen Projektion. dächtnis bewahrt, ohne durchs Symbol in Mythologie In der menschlichen Gesellschaft aber, wo mit der Heraus- zurückzufallen. So gelten sie der fortgeschrittenen bildung des Individuums das affektive wie das intellektuel- Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran, für le Leben sich differenziert, bedarf der Einzelne steigender ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm. Sie werden Kontrolle der Projektion, er muß sie zugleich verfeinern und dessen schuldig gesprochen, was sie, als die ersten Bürger, hemmen lernen. Indem er unter ökonomischem Zwang zuerst in sich gebrochen haben: der Verführbarkeit durchs zwischen fremden und eigenen Gedanken und Gefühlen Untere, des Dranges zu Tier und Erde, des Bilderdienstes. unterscheiden lernt, entsteht der Unterschied von außen Weil sie den Begriff des Koscheren erfunden haben, werden und innen, die Möglichkeit von Distanzierung und Identifi- sie als Schweine verfolgt. Die Antisemiten machen sich zu kation, das Selbstbewußtsein und das Gewissen. Um die in Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß Kontrolle genommene Projektion und ihre Entartung zur die Juden, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, falschen zu verstehen, die zum Wesen des Antisemitismus zu Erde werden. gehört, bedarf es der genaueren Überlegung. VI Die physiologische Lehre von der Wahrnehmung, die von den Philosophen seit dem Kantianismus als naiv realistisch und als Zirkelschluß verachtet wurde, erklärt die Wahr- Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist nehmungswelt als die vom Intellekt gelenkte Rückspiege- das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst lung der Daten, die das Gehirn von den wirklichen Gegens- verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem tänden empfängt. Nach dieser Ansicht erfolgt die Anord- diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt nung der aufgenommenen punktuellen Indizes, der Eindrü- ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich cke, durch Verstand. Beharren auch die Gestaltleute darauf, ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das daß die physiologische Substanz nicht bloß Punkte sondern Innen sich anschmiegt, das Fremde zum 'Vertrauten, so schon Struktur empfange, so haben Schopenhauer und versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und Helmholtz trotz und gerade wegen des Zirkels doch mehr 7 von der Beziehung von Subjekt und Objekt gewußt als die ren nie aufgehört hat. Wie seit ihrem Aufstieg die species offizielle Folgerichtigkeit der Schule, der neupsychologi- Mensch den anderen sich zeigt, als die entwicklungsge- schen wie der neukantischen: das Wahrnehmungsbild ent- schichtlich höchste und daher furchtbarste Vernichtung, wie hält in der Tat Begriffe und Urteile. Zwischen dem wahrhaf- innerhalb der Menschheit die fortgeschritteneren Rassen ten Gegenstand und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, den primitiveren, die technisch besser ausgerüsteten Völker zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das den langsameren, so tritt der kranke Einzelne dem anderen Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muß. Um das Ding Einzelnen gegenüber, im Größen- wie im Verfolgungswahn. zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurück- Beide Male ist das Subjekt im Zentrum, die Welt bloße Ge- geben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt legenheit für seinen Wahn; sie wird zum ohnmächtigen außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen oder allmächtigen Inbegriff des auf sie Projizierten. Der Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dinges in seinen mannig- Widerstand, über den der Paranoiker bei jedem Schritt faltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert wahllos sich beklagt, ist die Folge der Widerstandslosigkeit, damit rückwirkend das Ich, indem es nicht bloß den äuße- der Leere, die der sich Abblendende rings erzeugt. Er kann ren sondern auch den von diesen allmählich sich sondern- nicht aufhören. Die Idee, die keinen festen Halt an der Reali- den inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen tät findet, insistiert und wird zur fixen. lernt. Das identische Ich ist das späteste konstante Projekti- onsprodukt. In einem Prozeß, der geschichtlich erst mit den Indem der Paranoiker die Außenwelt nur perzipiert, wie es entfalteten Kräften der menschlichen physiologischen Kon- seinen blinden Zwecken entspricht, vermag er immer nur stitution sich vollziehen konnte, hat es als einheitliche und sein zur abstrakten Sucht entäußertes Selbst zu wiederho- zugleich exzentrische Funktion sich entfaltet. Auch als selb- len. Das nackte Schema der Macht als solcher, gleich über- ständig objektiviertes freilich ist es nur, was ihm die Ob- wältigend gegen andere wie gegen das eigene mit sich zer- jektwelt ist. In nichts anderem als in der Zartheit und dem fallene Ich, ergreift, was sich ihm bietet, und fügt es, ganz Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die gleichgültig gegen seine Eigenart, in sein mythisches Gewe- innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unter- be ein. Die Geschlossenheit des Immergleichen wird zum brochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Surrogat von Allmacht. Es ist, als hätte die Schlange, die Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so den ersten Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt Paranoiker ihr Versprechen eingelöst. Er schafft alle nach aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, er- seinem Bilde. Keines Lebendigen scheint er zu bedürfen schöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es und fordert doch, daß alle ihm dienen sollen. Sein Wille den Geist auf. Nur in der Vermittlung, in der das nichtige durchdringt das All, nichts darf der Beziehung zu ihm ent- Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität behren. Seine Systeme sind lückenlos. Als Astrologe stattet bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke er die Sterne mit Kräften aus, die das Verderben des Sorglo- vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, sen herbeiführen, sei es im vorklinischen Stadium des frem- wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze den, sei es im klinischen des eigenen Ichs. Als Philosoph Natur befangen ist. Nicht in der vom Gedanken unange- macht er die Weltgeschichte zur Vollstreckerin unausweich- kränkelten Gewißheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit licher Katastrophen und Untergänge. Als vollendet von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem Wahnsinniger oder absolut Rationaler vernichtet er den reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöh- Gezeichneten durch individuellen Terrorakt oder durch die nung sich an. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das wohlüberlegte Strategie der Ausrottung. So hat er Erfolg. die Außenwelt im eigenen Bewußtsein hat und da als ande- Wie Frauen den umgerührten paranoiden Mann anbeten, res erkennt. Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das sinken die Völker vor dem totalitären Faschismus in die Leben der Vernunft, als bewußte Projektion. Knie. In den Hingegebenen selber spricht das Paranoische auf den Paranoiker als den Unhold an, die Angst vor dem Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Gewissen aufs Gewissenlose, dem sie dankbar sind. Sie Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion folgen dem, der an ihnen vorbeisieht, der sie nicht als Sub- darin. Indem das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt jekte nimmt, sondern dem Betrieb der vielen Zwecke über- zurückzugeben, was es von ihm empfangen hat, wird es läßt. Mit aller Welt haben jene Frauen die Besetzung großer selbst nicht reicher sondern ärmer. Es verliert die Reflexion und kleiner Machtpositionen zu ihrer Religion gemacht und nach beiden Richtungen: da es nicht mehr den Gegenstand sich selbst zu den bösen Dingen, zu denen die Gesellschaft reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so sie stempelt. So muß der Blick, der sie Freiheit mahnt, sie als die Fähigkeit zur Differenz. Anstatt der Stimme des Gewis- der des allzu naiven Verführers treffen. Ihre Welt ist ver- sens hört es Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Pro- kehrt. Zugleich aber wissen sie wie die alten Götter, die den tokoll der eigenen Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Blick ihrer Gläubigen scheuten, daß hinter dem Schleier Protokolle der Weisen von Zion den andern zu. Es schwillt Totes wohnt. Im nicht paranoischen, im vertrauenden Blick über und verkümmert zugleich. Grenzenlos belohnt es die werden sie jenes Geistes eingedenk, der in ihnen erstorben Außenwelt mit dem, was in ihm ist; aber womit es sie be- ist, weil sie draußen bloß die kalten Mittel ihrer Selbsterhal- lehnt, ist das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte tung sehen. Solche Berührung weckt in ihnen Scham und bloße Mittel, Beziehungen, Machenschaften, die finstere Wut. Der Irre jedoch erreicht sie nicht, selbst wenn er wie Praxis ohne den Ausblick des Gedankens. Herrschaft selber, der Führer ihnen ins Antlitz blickt. Er entflammt sie bloß. die, auch als absolute, dem Sinn nach immer nur Mittel ist, Der sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der wird in der hemmungslosen Projektion zugleich zum eige- freie die Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur nen und zum fremden Zweck, ja zum Zweck überhaupt. In einseitigen Treue indem er sie fensterlosen Monadenwälle der Erkrankung des Individuums wirkt der geschärfte intel- ihrer eigenen Person weist. Er weckt nicht das Gewissen, lektuelle Apparat des Menschen gegen Menschen wieder als sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der durchdrin- das blinde Feindwerkzeug der tierischen Vorzeit, als das bei gende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der Gattung er gegen die ganze übrige Natur zu funktionie- der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden 8 wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Naturbeherrschung sich vergeistigt habe, wird in der Sche- Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektri- matisierung leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und siert. Sie werden verraten: die Frauen weggeworfen, die das System als die Sache selbst gesetzt. Das vergegenständ- Nation ausgebrannt. So bleibt der Verschlossene das Spott- lichende Denken enthält wie das kranke die Willkür des der bild der göttlichen Gewalt. Wie ihm in seiner souveränen Sache fremden subjektiven Zwecks, es vergißt die Sache d Gebärde das schaffende Vermögen in der Realität ganz tut ihr eben damit schon die Gewalt an, die ihr später in der abgeht, so fehlen ihm gleich dem Teufel die Attribute des Praxis geschieht. Der unbedingte Realismus der zivilisierten Prinzips, das er usurpiert: eingedenkende Liebe und in sich Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezial- ruhende Freiheit. Er ist böse, von Zwang getrieben und so fall paranoischen Wahns, der die Natur entvölkert und am schwach wie seine Stärke. Wenn es von der göttlichen All- Ende die Völker selbst. In jenem Abgrund der Ungewißheit, macht heißt, sie ziehe das Geschöpf zu sich, so zieht die den jeder obktivierende Akt überbrücken muß, nistet sich satanische, eingebildete alles in ihre Ohnmacht hinein. Das die Paranoia ein. Weil es kein absolut zwingendes Argu- ist das Geheimnis ihrer Herrschaft. Das zwangshaft proji- ment gegen materialfalsche Urteile gibt, läßt die verzerrte zierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Un- Wahrnehmung, in der sie begriffliche, wie jedes Urteil un- glück, von dessen ihm selbst einwohnendem Grund es doch aufgehellt phänomenalistische Elemente. Weil also zur in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist. Daher sind Wahrheit Einbildungskraft gehört, kann es dem an dieser die Produkte der falschen Projektion, die stereotypen Sche- Beschädigten stets vorkommen, als ob die Wahrheit phan- mata des Gedankens und der Realität, solche des Unheils. tastisch und seine Illusion die Wahrheit sei. Der Beschädigte Dem Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner selbst versinkt, zehrt von dem der Wahrheit selbst immanenten Element werden die Gegenstände zu Allegorien des Verderbens, in der Einbildung, indem er es unablässig exponiert. Demokra- denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt. tisch besteht er auf der Gleichberechtigung für seinen Wahn, weil in der Tat auch die Wahrheit nicht stringent ist. Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion Wenn der Bürger schon zugibt, daß der Antisemit im Un- hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich recht ist, so will er wenigstens, daß auch das Opfer schuldig tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. sei. So verlangt Hitler die Lebensberechtigung für den Mas- Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom senmord im Namen des völkerrechtlichen Prinzips der Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Souveränität, das jede Gewalttat im anderen Lande toleriert. Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt Wie jeder Paranoiker profitiert er von der gleißnerischen und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere Identität von Wahrheit und Sophistik; ihre Trennung ist so loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation wenig zwingend, wie sie doch streng bleibt. Wahrnehmung mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit ist nur möglich, insofern das Ding schon als bestimmtes, durch angebliche Notwehr. Das in Aggression umgesetzte etwa als Fall einer Gattung wahrgenommen wird. Sie ist Verpönte ist meist homosexueller Art. Aus Angst vor der vermittelte Unmittelbarkeit, Gedanke in der verführerischen Kastration wurde der Gehorsam gegen den Vater bis zu Kraft der Sinnlichkeit. Subjektives wird von ihr blind in die deren Vorwegnahme in der Angleichung des bewußten scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt. Einzig die Gefühlslebens ans kleine Mädchen getrieben und der Va- ihrer selbst bewußte Arbeit des Gedankens kann sich die- terhaß als ewige Ranküne verdrängt. In der Paranoia treibt sem Halluzinatorischen wieder entziehen, dem Leibniz - dieser Haß zur Kastrationslust als archaische Ungeschie- schen und Hegelschen Idealismus zufolge die Philosophie. denheit von Liebe und Überwältigung. Ihm kommt es auf Indem der Gedanke im Gang der Erkenntnis die in der physische Nähe, Beschlagnahmen, schließlich auf die Bezie- Wahrnehmung unmittelbar gesetzten und daher zwingen- hung um jeden Preis an. Da er die Begierde sich nicht zuge- den Begriffsmomente als begriffliche identifiziert, nimmt er stehen darf, rückt er dem anderen als Eifersüchtiger oder sie stufenweise ins Subjekt zurück und entkleidet sie der Verfolger auf den Leib, wie dem Tier der verdrängende anschaulichen Gewalt. In solchem Gange erweist sich jede Sodomit als Jäger oder Antreiber. Die Anziehung stammt frühere Stufe, auch die der Wissenschaft, gegenüber der aus allzu gründlicher Bindung oder stellt sich her auf den Philosophie noch gleichsam als Wahrnehmung, als ein mit ersten Blick, sie kann von den Großen ausgehen wie beim unerkannten intellektuellen Elementen durchsetztes, ent- Querulanten und Präsidententmörder oder von den Ärms- fremdetes Phänomen; dabei zu verharren, ohne Negation, ten wie beim echten Pogrom. Die Objekte der Fixierung sind gehört der Pathologie der Erkenntnis zu. Der naiv Verabso- substituierbar wie die Vaterfiguren in der Kindheit; wohin lutierende, und sei er noch so universal tätig, ist ein Leiden- es trifft, trifft es; noch der Beziehungswahn greift bezie- der, er unterliegt der verblendenden Macht falscher Unmit- hungslos um sich. Die pathische Projektion ist eine verzwei- telbarkeit. felte Veranstaltung des Ichs, dessen Reizschutz Freud zu- folge nach innen unendlich viel schwächer als nach außen Solche Verblendung aber ist ein konstitutives Element jegli- ist: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggres- chen Urteils, ein notwendiger Schein. Jedes Urteil, auch das sion vergißt er seelische Mechanismus seine phylogenetisch negative, ist versichernd. Wie sehr auch ein Urteil zur späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und Selbstkorrektur seine eigenen wenn auch noch so vorsichtig erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr formulierten Inhalt, das Behauptete, als nicht bloß isoliert besser gewachsen zu sein. und relativ behaupten. Darin besteht sein Wesen als Urteil, in der Klausel verschanzt sich bloß der Anspruch. Die Dieser Druck aber lastet auch auf dem gesunden Erkennt- Wahrheit hat keine Grade wie die Wahrscheinlichkeit. Der nisvograng als Moment von dessen unreflektierter und zur negierende Schritt über das einzelne Urteil hinaus, der seine Gewalt treibender Naivität. Wo immer die intellektuellen Wahrheit rettet, ist möglich nur, sofern es sich selbst für Energien absichtsvoll aufs Draußen konzentriert sind, also wahr nahm und sozusagen paranoisch war. Das wirklich überall, wo es ums Verfolgen, Feststellen, Ergreifen zu tun Verrückte liegt erst im Unverrückbaren, in der Unfähigkeit ist, um jene Funktionen, die aus der primitiven Überwälti- des Gedankens zu solcher Negativität, in welcher entgegen gung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der dem verfestigten Urteil das Denken recht eigentlich besteht. 9 Die paranoische Überkonsequenz, die schlechte Unendlich- zugleich und sinister. Die obskuren Systeme heute leisten, keit des immergleichen Urteils, ist ein Mangel an Konse- was dem Menschen im Mittelalter der Teufelsmythos der quenz des Denkens; anstatt das Scheitern des absoluten offiziellen Religion ermöglichte: die willkürliche Besetzung Anspruchs gedanklich zu vollziehen und dadurch sein der Außenwelt mit Sinn, die der einzelgängerische Paranoi- Urteil weiter zu bestimmen, verbeißt der Paranoiker sich in ker nach privatem, von niemand geteiltem und eben des- dem Anspruch, der es scheitern ließ. Anstatt weiter zu ge- halb erst als eigentlich verrückt erscheinendem Schema hen, indem es in die Sache eindringt, tritt das ganze Denken zuwege bringt. Davon entheben die fatalen Konventikel in den hoffnungslosen Dienst des partikularen Urteils. Des- und Panazeen, die sich wissenschaftlich aufspielen und sen Unwiderstehlichkeit ist dasselbe wie seine ungebroche- zugleich Gedanken abschneiden: Theosophie, Numerologie, ne Positivität und die Schwäche des Paranoikers die des Naturheilkunde, Eurhythmie, Abstinenzlertum, Yoga und Gedankens selbst. Die Besinnung nämlich, die beim Gesun- zahllose andere Sekten, konkurrierend und auswechselbar, den die Macht der Unmittelbarkeit bricht, ist nie so zwin- alle mit Akademien, Hierarchien, Fachsprachen, dem feti- gend wie der Schein, den sie aufhebt. Als negative, reflek- schisierten Formelwesen von Wissenschaft und Religion. Sie tierte, nicht geradeaus gerichtete Bewegung entbehrt sie der waren, im Angesicht der Bildung, apokryph und unrespek- Brutalität, die dem Positiven innewohnt. Wenn die psychi- tabel. Heute aber, wo Bildung überhaupt aus ökonomischen sche Energie der Paranoia aus jener libidinösen Dynamik Gründen abstirbt, sind in ungeahntem Maßstab neue Be- stammt, welche die Psychoanalyse bloßlegt, so ist ihre ob- dingungen für die Paranoia der Massen gegeben. Die Glau- jektive Unangreifbarkeit in der Vieldeutigkeit begründet, benssysteme der Vergangenheit, die von den Völkern als die vom vergegenständlichenden Akt gar nicht abzulösen geschlossen paranoide Formen ergriffen wurden, hatten ist; ja, dessen halluzinatorische Gewalt wird ursprünglich weitere Maschen. Gerade infolge ihrer rationalen Durchges- entscheidend gewesen sein. In der Sprache der Selektions- taltung und Bestimmtheit ließen sie, wenigstens nach oben, theorie ließe sich verdeutlichend sagen, es hätten während Raum für Bildung und Geist, deren Begriff ihr eigenes Me- der Entstehungsperiode des menschlichen Sensoriums jene dium war. Ja sie haben in gewisser Weise der Paranoia Individuen überlebt, bei denen die Kraft der Projektionsme- entgegengewirkt. Freud nennt, hier sogar mit Recht, die chanismen am weitesten in die rudimentären logischen Neurosen »asoziale Bildungen« »sie suchen mit privaten Fähigkeiten hineinreichte, oder am wenigsten durch allzu Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive frühe Ansätze der Reflexion gemindert war. Wie noch heute Arbeit entstand« Die Glaubenssysteme halten etwas von praktisch fruchtbare wissenschaftliche Unternehmungen dieser Kollektivität fest, welche die Individuen vor der der unangekränkelten Fähigkeit zur Definition bedürfen, Erkrankung bewahrt. Diese wird sozialisiert: im Rausch der Fähigkeit, den Gedanken an einer durchs gesellschaftli- vereinter Ekstase, ja als Gemeinde überhaupt, wird Blind- che Bedürfnis designierten Stelle stillzulegen, ein Feld ab- heit zur Beziehung und der paranoische Mechanismus be- zugrenzen, das dann bis ins kleinste durchforscht wird, herrschbar gemacht, ohne die Möglichkeit des Schreckens ohne daß man es transzendierte, so vermag der Paranoiker zu verlieren. Vielleicht war das einer der großen Beiträge einen durch sein psychologisches Schicksal designierten der Religionen zur Selbsterhaltung der Art. Interessenkomplex nicht zu überschreiten. Sein Scharfsinn verzehrt sich in dem von der fixen Idee gezogenen Kreis, Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung wie das Ingenium der Menschheit im Bann der technischen von Bünden, Fronden und Rackets. Die Mitglieder haben Zivilisation sich selbst liquidiert. Die Paranoia ist der Schat- Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glauben. Projizie- ten der Erkenntnis. rend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmache- rei. Zu anderen verhielt sich die etablierte Gruppe stets So verhängnisvoll wohnt die Bereitschaft zur falschen Pro- paranoisch; die großen Reiche, ja die organisierte Mensch- jektion dem Geiste ein, daß sie, das isolierte Schema der heit als ganze haben darin vor den Kopfjägern nichts vor- Selbsterhaltung, alles zu beherrschen droht, was über diese aus. Jene, die ohne eigenen Willen von der Menschheit hinausgeht: die Kultur. Falsche Projektion ist der Usurpator ausgeschlossen waren, wußten es, wie jene, die aus Sehn- des Reiches der Freiheit wie der Bildung; Paranoia ist das sucht nach der Menschheit von ihr sich selbst ausschlossen: Symptom des Halbgebildeten. Ihm werden alle Worte zum an ihrer Verfolgung stärkte sich der krankhafte Zusammen- Wahnsystem, zum Versuch, durch Geist zu besetzen, woran halt. Das normale Mitglied aber löst seine Paranoia durch seine Erfahrung nicht heranreicht, gewalttätig der Welt Sinn die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leiden- zu geben, die ihn selber sinnlos macht, zugleich aber den schaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigten Geist und die Erfahrung zu diffamieren, von denen er aus- Formen des Wahns. Der horror vacui, mit dem sie sich ihren geschlossen ist, und ihnen die Schuld aufzubürden, welche Bänden verschreiben, schweißt sie zusammen und verleiht die Gesellschaft trägt, die ihn davon ausschließt. Halbbil- ihnen die fast unwiderstehliche Gewalt. Mit dem bürgerli- dung, die im Gegensatz zur bloßen Unbildung das be- chen Eigentum hatte auch die Bildung sich ausgebreitet. Sie schränkte Wissen als Wahrheit hypostasiert, kann den ins hatte die Paranoia in die dunklen Winkel von Gesellschaft Unerträgliche gesteigerten Bruch von innen und außen, von und Seele gedrängt. Da aber die reale Emanzipation der individuellem Schicksal und gesellschaftlichem Gesetz, von Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes Erscheinung und Wesen nicht aushalten. In diesem Leiden erfolgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebil- ist zwar ein Element von Wahrheit enthalten gegenüber dete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit dem bloßen Hinnehmen des Gegebenen, auf das die überle- eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Pro- gene Vernünftigkeit sich vereidigt hat. Stereotyp jedoch zeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, greift Halbbildung in ihrer Angst nach der ihr jeweils eige- informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, nen Formel, um bald das geschehene Unheil zu begründen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt bald die Katastrophe, zuweilen als Regeneration verkleidet, sich auf die Erfassung des isoliert Faktischen. Gedankliche vorherzusagen. Die Erklärung, in welcher der eigene Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Wunsch als objektive Macht auftritt, ist immer so äußerlich Anstrengung fortgewiesen. Das Entwicklungsmoment im und sinnleer, wie das isolierte Geschehen selbst, läppisch Gedanken, alles Genetische und Intensive darin, wird ver- 10

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Max Horkheimer / Theodor W. Adorno. Elemente des Antisemitismus. GRENZEN DER AUFKLÄRUNG. I. Der Antisemitismus heute gilt den . Diese aber, die weder ökonomisch noch sexu- ell auf ihre Kosten kommt, haßt ohne Ende; sie will keine. Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt.
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