Moritz Baumstark/ Robert Forkel (Hg.) H istorisierung Begriff – Geschichte – Praxisfelder Moritz Baumstark / Robert Forkel (Hg.) Historisierung Begriff – Geschichte – Praxisfelder Unter Mitarbeit von Stefan Kühnen und Marc Weiland Mit 12 Abbildungen J. B. Metzler Verlag Die Herausgeber Moritz Baumstark ist promovierter Historiker und derzeit wissenschaftlicher Referent am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München. Robert Forkel ist Literaturwissenschaftler und derzeit Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Beide arbeiteten von 2012 bis 2015 gemeinsam mit Stefan Kühnen und Marc Weiland innerhalb einer Nachwuchsforschergruppe zum Thema »Historisierung« am Hallenser Landesforschungsschwer- punkt »Aufklärung – Religion – Wissen«, der die Arbeit an diesem Band institutionell und finanziell unterstützt hat. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02629-3 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart www.metzlerverlag.de [email protected] Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: James Steidl/123RF) Deutschsprachiges Lektorat: Lektorat Tennert & Weiß, Halle Englischsprachiges Lektorat: topcorrect, Hamburg Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Inhalt Inhalt Inhalt Vorwort VII I Einleitung Was ist Historisierung? Einführende Überlegungen zum Begriff Moritz Baumstark/ Robert Forkel 1 II Systematische Perspektiven auf den Historisierungsbegriff Historisierung und ihre Widerparte. Zwei Begriffsangebote samt einer Beispielanalyse zur Konstruktion des Klassischen im 18. Jahrhundert Daniel Fulda 17 Historicization reconsidered Glenn W. Most 36 Historicization and Historicism. Some Nineteenth Century Perspectives Frederick C. Beiser 42 Historische Distanz. Überlegungen zu Begriff und Heuristik Mark Salber Phillips 55 Historisierung der Epistemologie. Historische Epistemologie und die Epistemologisierung der Wissenschaftsgeschichte Hans-Jörg Rheinberger 72 III Historisierung im Aufklärungszeitalter und um 1800 Die Natur der Geschichte. Der Beitrag der schottischen Aufklärung zum Konzept der Historisierung Annette Meyer 83 Historisierung als Grundmethode der Theologie. Anmerkungen zur Hermeneutik Johann Salomo Semlers Marianne Schröter 98 Historisierung als Institutionalisierung. Johann Christoph Gatterers Verwissenschaft- lichung der Historiografie und die Konstruktion von Nation Martin Gierl 112 Kunst als Gegenstand einer historischen Narration. Beobachtungen zur Historisierung bei Winckelmann, Caylus und Herder Elisabeth Décultot 129 Historicizing Genre. The German Romantic Rethinking of Ancient Tragedy Michael N. Forster 147 Historik zwischen Aufklärung und Historismus. Schleiermachers Theorie der Geschichts- schreibung Constantin Plaul 164 Geschichte als Bewusstwerdung? Historisierung in Bildungsroman und nachkantischer Subjektivitätstheorie Lars-Thade Ulrichs 178 VI Inhalt IV Historisierung in Moderne und Gegenwart Nietzsches radikale Historisierung der Philosophie Bertrand Binoche 199 Historicism and Its Unresolved Problems. Ernst Troeltsch’s Last Word Brent W. Sockness 210 At the Limits of Historicization. The “Final Solution”, the Holocaust, and the Assimilation of History Peter Fritzsche 231 Making the Museum Historical in the Twenty-First Century The “Enlightenment Gallery” of the British Museum and the Renovation of the Neue Museum in Berlin Felicity Bodenstein 250 Toward a New Historical Condition François Hartog 271 Beiträgerinnen und Beiträger 283 Abbildungsverzeichnis 285 Personenregister 287 Vorwort Dieser Band ist hervorgegangen aus der Arbeit einer Nachwuchsforschergruppe zum Thema »Historisierung und Subjektivität« am Landesforschungsschwerpunkt »Aufklä- rung – Religion – Wissen« (ARW) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der von Moritz Baumstark koordinierten Forschergruppe gehörten neben Robert Forkel, Stefan Kühnen und Marc Weiland zeitweilig auch Jens Nagel und John Palatini an. Die konzeptuelle Ausrichtung sowie die interdisziplinäre und internationale Zusammenset- zung des Bandes wurden geprägt von der dreijährigen Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe sowie dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus Halle und von außer- halb. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Historisierungsdefini- tionen haben wir die Voraussetzungen, Dimensionen und Implikationen eines geschärf- ten Historisierungsbegriffs erarbeitet und damit die Grundlagen für das in der Einleitung dargelegte Historisierungskonzept geschaffen. Die Rahmenbedingungen für diese Arbeit waren durch den Landesforschungsschwer- punkt ARW gegeben. Für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und Unterstützung der Gruppe und des Publikationsprojekts danken wir besonders dem ehemaligen und dem derzeitigen Sprecher des Landesforschungsschwerpunkts, Jörg Dierken und Andreas Pečar, sowie Daniel Fulda, Elisabeth Décultot und den anderen Mitgliedern des Spre- cherrats. Mit ihnen und unserer Kollegin Marianne Schröter haben wir eingehend über Historisierung debattiert. Hilfreiches Feedback erhielten wir zudem von Rainer Godel und Sebastian Böhmer, die nacheinander als Wissenschaftliche Koordinatoren von ARW unsere Arbeit in den letzten Jahren begleitet haben. Annegret Jummrich, die in Halle Vieles möglich macht, danken wir herzlich für ihren großen Einsatz. Dem Band ging die von der Nachwuchsforschergruppe konzipierte und durchge- führte internationale Gastvortragsreihe »Historisierung: Begriff – Methode – Praxis« im Sommersemester 2014 voraus. Die Aufzeichnung der Reihe als Vortragsvideos wurde professionell durchgeführt von Anke Tornow vom Zentrum für multimediales Lehren und Lernen. Die Vorträge von Frederick Beiser, Michael Forster, Annette Meyer, Glenn Most und Hans-Jörg Rheinberger sind als Beiträge in den Band eingegangen. Vertieft wurde die Auseinandersetzung mit dem Historisierungsbegriff durch Work- shops mit Frederick Beiser, Carsten Dutt, Karen Feldman, Peter Fritzsche, Martin Gierl und Brent Sockness. Die in diesen Vorträgen, Diskussionen und Gesprächen erhalte- nen Impulse waren wertvoll für unsere Forschung. Bedauerlicherweise hatten wir keine Gelegenheit mehr, mit dem früh verstorbenen Olaf Breidbach über Historisierung zu debattieren. Eine Reihe von Personen hat sich um diesen Band besonders verdient gemacht: Sebas- tian Tennert und Claudia Weiß danken wir für das sorgfältige Lektorat der deutschspra- chigen Beiträge, Aleksandra Ambrozy für ihre kongeniale Übersetzung zweier französi- scher Beiträge. Danken möchten wir zudem Karsten Malowitz für die Übersetzung eines englischen Beitrags, Sabine Volk-Birke und Michael Werner für hilfreiche Hinweise, VIII Vorwort Raymond Geuss und Ayse Yuva für ihren Einsatz und ihr Verständnis sowie Dajana Napiralla für ihre stete Unterstützung. Oliver Schütze hat uns als zuständiger Programmleiter bei J. B. Metzler gut betreut und unsere Entscheidung mitgetragen, einen international besetzten und bilingualen Band zu veröffentlichen, der sich an ein deutsch- und zum Teil auch englischsprachiges Publikum richtet. Den Beiträgerinnen und Beiträgern sind wir für den offenen und konstruktiven Austausch verbunden, der die Entstehung dieses Bandes begleitet und möglich gemacht hat. Working with you has been a pleasure. Die Herausgeber I Einleitung Was ist Historisierung? Einführende Überlegungen zum Begriff* Moritz Baumstark / Robert Forkel Beginnen wir mit einem Beispiel: Angezogen vom Image einer Stadt interessieren sich de- ren Besucher zunächst für die vermeintlich unmittelbar wahrnehmbare Gegenwart – sie machen Fotos von Gebäuden und von sich selbst und halten Ausschau nach Restaurants, Kulturangeboten und Souvenirläden. Durch die Teilnahme an einer Stadtführung wird ihr Zugang jedoch wesentlich erweitert: Der Guide erläutert nicht nur das gegenwärtig zu erlebende Städtetreiben, sondern informiert auch über die Geschichte der aufgesuchten Orte und besichtigten Bauwerke. Damit ändert sich der Blick auf das Gegenwärtige, da dieses nun in seiner historischen Dimension in Erscheinung tritt. Hierbei handelt es sich um einen Vorgang des Historisierens, der sich auf mindestens drei Stufen vollzieht: Erstens erfolgt ein Verweis auf die Entstehungszeit – bei der Histori- sierung eines Gebäudes wird zumeist das Baujahr angegeben. Über die Datierung hinaus interessiert man sich zweitens in der Regel auch für den historischen Kontext der Ent- stehungszeit. Hierbei wird beispielsweise auf die originäre Funktion des Gebäudes und die soziale Schicht der damaligen Bewohner eingegangen. Diese Rekonstruktion hat zum Ziel, dass sich die Zuhörer eine Vorstellung machen von den Lebensumständen und Men- talitäten innerhalb der Stadt während einer bestimmten Phase ihrer Geschichte. Darüber hinaus können die architektonischen Merkmale einer Stilepoche zugeordnet und stilge- schichtlich ausgedeutet werden. Ausgehend vom historischen Kontext werden drittens verschiedene Stadien der historischen Entwicklung und bautechnischen Veränderung des Gebäudes sowie seiner Nutzung aufgezeigt. Hierbei können gleichermaßen Kontinuitä- ten wie Diskontinuitäten thematisiert werden. Auf diese Weise entsteht eine Erzählung, die eine sinnhafte Verkettung vom Ursprung bis zum gegenwärtigen Zustand herstellt und das gegenwärtig Gegebene explizit als das Produkt seiner Geschichte ausweist. Die Historisierung des Gebäudes dient demnach nicht nur der Wissensvermittlung, sondern hat auch zur Folge, dass das gegenwärtig Gegebene künftig anders wahrgenommen wird. Dieses Beispiel zeigt den Historisierungsvorgang in drei Komplexitätsstufen, die wir als Datierung, Kontextualisierung und Reintegration bezeichnen. Ungeachtet der stufen- * Unsere Auseinandersetzung mit dem Historisierungsbegriff basiert auf einer dreijährigen Zu- sammenarbeit mit Marc Weiland und Stefan Kühnen, die als kritische Leser und Ideengeber den Entstehungsprozess der vorliegenden Einleitung begleitet haben, wofür wir ihnen an dieser Stelle unseren herzlichen Dank aussprechen möchten. Weiterhin danken wir Daniel Fulda, Carsten Dutt und Andreas Pečar für ihr konstruktives Feedback. M. Baumstark, R. Forkel (Hrsg.), Historisierung, DOI 10.1007/978-3-476-05460-9_1, © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2 Moritz Baumstark / Robert Forkel weisen Komplexitätssteigerung ergeben sich auch innerhalb jeder Stufe graduelle Unter- schiede: Datierungen können mehr oder weniger präzise, Rekonstruktionen historischer Kontexte mehr oder weniger ausführlich und die Kennzeichnungen historischer Über- gänge mehr oder weniger detailliert ausfallen. Darüber hinaus kann anhand der in unserem Beispiel auftretenden Akteure gezeigt werden, dass Historisierungen auf zwei grundlegend verschiedenen Ebenen vollzogen werden: Auf der einen Seite haben wir den Guide, der über historisches Wissen verfügt und berufsmäßig (für andere) historisiert. Innerhalb solcher Kommunikationssituatio- nen erscheint das Historisieren als Appell, denn das Datieren, Kontextualisieren und Reintegrieren impliziert stets die Aufforderung, das betrachtete Objekt in seiner histori- schen Dimension wahrzunehmen. Eine gewisse Bereitschaft vorausgesetzt, treten auf der anderen Seite auch die Zuhörer als historisierende Subjekte auf, denn eine tatsächliche Neubewertung der unmittelbaren Umwelt kann erst erfolgen, wenn die geschichtlichen Informationen in konkrete Vorstellungen übersetzt worden sind. Auf dieser Ebene stellt sich das Historisieren als eine Anzahl kognitiver Operationen dar: Imaginieren, Einfüh- len, Vergleichen, Verstehen und Schlussfolgern. Somit kann zwischen Historisierung als Handlung und als Denkoperation unterschie- den werden, wobei beide Vorgänge zueinander in einem komplementären Verhältnis stehen. Diese Komplementarität zeigt sich nicht nur darin, dass historisierende Darstel- lungen vonseiten der Rezipienten mental repräsentiert und nachvollzogen werden, son- dern oftmals basiert eine Historisierung auf einer Kombination von äußerem Anlass und darauf reagierenden Inferenzen. So handelt es sich bei einer bloßen Datierung eigentlich noch nicht um eine Historisierungspraxis, denn schließlich kann die Funktion von Da- tierungen auch auf die Herstellung einer zeitlichen Ordnung beschränkt bleiben (etwa in Chroniken) oder rein informativ sein (wie bei der Angabe von Weinjahrgängen). Von Historisierung kann jedoch erst dann gesprochen werden, wenn die Kenntnisnahme des Entstehungszeitpunkts Kontextualisierungen auf kognitiver Ebene anregt. In unserem Beispiel handelt es sich demnach beim Datieren nur dann um eine Historisierungspraxis, wenn der Guide Grund zur Annahme hat, dass die Nennung einer Jahreszahl genügt, um bei seinen Zuhörern bereits vorhandenes Kontextwissen zu aktivieren. In diesem Fall wird eine kontextualisierende – und gegebenenfalls auch reintegrierende – Fortsetzung und Vollendung des Historisierungsvorgangs erst durch die Ergänzungsleistungen der einzelnen Zuhörer vollzogen. Weiterhin ist anzumerken, dass sich das Historisieren im Rahmen einer Stadtführung nicht auf die Tätigkeiten des Guides und der Touristen beschränkt, sondern eine Reihe weiterer Akteure und Institutionen voraussetzt. Dabei ist zunächst auf die wissenschaft- liche Vorarbeit zu verweisen, ohne die eine historische Stadtführung kaum durchzufüh- ren wäre, denn schließlich ist auch der Guide auf Ergebnisse der stadtgeschichtlichen Forschung angewiesen. Neben Fachbüchern zur Stadtgeschichte spielen hierbei auch Stadtarchive eine Rolle: Das Sammeln von Dokumenten ist eine institutionelle Voraus- setzung für die Historisierung einer Stadt – der Akt der Archivierung dient einer allge- meinen ›Historisierungsvorsorge‹1, während die Institution des Archivs ein ›Historisie- rungsangebot‹ bereitstellt. 1 Der Begriff ›Historisierungsvorsorge‹ wurde von Carsten Dutt geprägt.