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Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 4: Hu-K PDF

797 Pages·1998·49.932 MB·German
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Historisches Wörterbuch der Rhetorik Historisches Wörterbuch der Rhetorik Herausgegeben von Gert Ueding Mitbegründet von Walter Jens In Verbindung mit Wilfried Barner, Dietrich Briesemeister, Volker Drehsen, Joachim Dyck, Ekkehard Eggs, Ludwig Finscher, Manfred Fuhrmann, Fritjof Haft, Konrad Hoffmann, Joachim Knape, Josef Kopperschmidt, Friedrich Wilhelm Korff, Egidius Schmalzriedt, Konrad Vollmann, Rolf Zerfaß Unter Mitwirkung von mehr als 300 Fachgelehrten Max Niemeyer Verlag Tübingen Historisches Wörterbuch der Rhetorik Herausgegeben von Gert Ueding Redaktion: Gregor Kalivoda Lavinia Keinath Franz-Hubert Rohling Thomas Zinsmaier Band 4: Hu—Κ Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998 Die Redaktion wird mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Universität Tübingen gefördert. Wissenschaftliche Mitarbeiter des Herausgebers: Bernd Steinbrink (bis 1987) Peter Weit (seit 1985) Mitarbeiter der Redaktion: Peter Brandt, Andreas Hettiger, Philipp Ostrowicz, Matthias Schatz, Ursula Wörz Anschrift der Redaktion: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Wilhelmstraße 50 D-72074 Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Historisches Wörterbuch der Rhetorik / hrsg. von Gert Ueding. Mitbegr. von Walter Jens in Verbindung mit Wilfried Barner ... Unter Mitw. von mehr als 300 Fachgelehrten. -Tübingen: Niemeyer. ISBN 3-484-68100-4 Bd. 4. Hu-K. - 1998 ISBN 3-484-68104-7 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Einband: Heinr. Koch,Tübingen. Vorbemerkung Der Dank von Herausgeber und Redaktion gilt nach der Gebiet sehr lebhafte Forschungsprozeß, die Fülle der Fertigstellung eines neuen Bandes des HWRh zualler- Desiderate und die Veränderung methodischer Zugriffe erst den Autoren. Sie haben ihre fachliche Kompetenz das begriffliche Instrumentarium der Rhetorik ständig und ihre Forschungskapazität in den Dienst des gemein- verändern. Beispiele dafür lieferte auch wieder die samen Projekts gestellt - ungeachtet der gleichsam nur Tagung «Rhetorik und Topik», zu der sich im Herbst symbolischen Honorierung und der zahlreichen wissen- 1997 in Blaubeuren mehr als 80 Wissenschaftler aus schaftlichen Hemmnisse, die die Rhetorikforschung Europa und Übersee versammelten. Die wichtigsten immer noch zu überwinden hat, weil selbst zentrale For- Ergebnisse dieser Tagung werden in einem eigenen schungslücken noch nicht geschlossen sind und die insti- Band der Reihe «Rhetorik-Forschungen» (Max Nie- tutionelle Absicherung des Faches vieles zu wünschen meyer Verlag) dokumentiert und sind von der Redak- übrigläßt. Ungeachtet auch der oftmals sehr knappen tion für die ständige Lemmata-Revision und die konzep- Terminsetzung: denn anders als manche vergleichbare tionelle Planung der Forschungs- und Sachartikel ausge- Lexikonunternehmen, untersteht das HWRh einer strik- wertet worden. ten Zeitplanung, die mit der DFG und dem Verlag abge- Natürlich gibt es auch die (wenigen) Fälle, bei denen sprochen ist, und Redaktion wie Herausgeber bemühen sich im Laufe der Bearbeitung herausstellt, daß sich ein sich, diesen zeitlichen Vorgaben trotz aller damit ver- bestimmtes, nicht dem Bereich der Schulrhetorik ange- bundenden Probleme zu entsprechen. hörendes und daher historisch längst umrissenes Stich- Eine der größten Schwierigkeiten besteht nach wie vor wort als rhetorisch unergiebig erweist, geschichtlich nur darin, daß gerade fachlich hoch spezialisierte Mitarbei- eine punktuelle und noch dazu periphere Bedeutung ter oft mit der rhetorischen Dimension der Begriffs- und erlangt hat und daher einen eigenen Artikel nicht recht- Sachgeschichte ihres Stichworts noch wenig vertraut fertigt. Den entsprechenden Verweis auf den zugehöri- sind, sie unterschätzen oder bei der Ausarbeitung zugun- gen Oberbegriff vermittelt ebenfalls das Artikelver- sten der vertrauten literaturgeschichtlichen oder philo- zeichnis im Anhang. sophischen Perspektive wieder aus den Augen verlieren, Der Dank von Herausgeber und Redaktion für die auch wenn die Redaktion wie in jedem Fall eine detail- langjährige Förderung gilt der Deutschen Forschungsge- lierte Konzeption des Artikels vorweg geliefert hat. Die meinschaft, die auf unser häufiges Hilfesuchen auch in Überarbeitung und Ergänzung solcher Artikel oder - in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit Verständnis und seltenen Fällen - ihre Neuvergabe bringen das strikte großem Entgegenkommen reagiert hat. Darüber hinaus Zeitgefüge der Planung und redaktionellen Arbeit dem Niemeyer Verlag, der die Redaktion mit einer lei- immer wieder durcheinander und können sogar dazu stungsfähigen EDV-Ausstattung versehen hat, so daß es führen, daß die Artikel einem anderen, damit meist möglich wird, eine EDV-Linie vom Autor über die weniger geläufigen und nicht ganz deckungsgleichen Redaktion und den Verlag bis zur Druckerei zu installie- Stichwort zugewiesen werden, damit die Veröffentli- ren. chung eines Bandes nicht unzumutbar weit hinausge- Ein ganz besonderer Dank geht auch diesmal an die schoben werden muß. Das sind pragmatische Entschei- Adresse unserer Fachberater, die nicht nur bei der Ent- dungen, hinter denen weder konzeptionelle Neuorien- scheidung über problematische Artikel, bei der Suche tierungen noch gar begriffsgeschichtliche Fehlinterpre- nach fachlich zuständigen Autoren oder beim Ausfall tationen stehen, sondern die vor allem den Zweck von Artikeln mit ihrem Rat behilflich waren und uns mit haben, das weitere Erscheinen des Lexikons in dem von ihrer Zeit und Arbeitskraft ganz wesentlich unterstützt Verlag und Leser erwarteten Rahmen sicherzustellen. haben, sondern die auch bereitwillig unserer Einladung Der Benutzer findet den Verweis auf das andere Lemma zu den periodischen Arbeitssitzungen gefolgt sind, deren am Schluß jedes Bandes zusammen mit dem Verzeichnis Ergebnisse in die Lemmata- und Artikel-Planung einge- der getilgten und einem anderen Stichwort zugewiese- flossen sind. nen Lemmata. Tilgungen, Zuweisungen und Neuauf- nahmen von Stichwörtern gehören nach wie vor zum Alltag der Redaktionsarbeit, weil der auf rhetorischem Tübingen, im Sommer 1998 Gert Ueding V Humanismus Humanismus Humanismus (engl, humanism, frz. humanisme, ital. ten Kleinadel zunehmend der Konflikt arma - litterae [7] umanesimo) abzeichnet, ist dessen Verhältnis zur römischen Amts- Α. Allgemeines. -B.I. Nationalliteratur: 1. Italien. -2. Frank- kirche wegen seiner Nähe zu religiösen Reformbewe- reich. - 3. Spanien. - 4. Portugal. -5. Deutschland. - 6. Osteu- gungen (G. GROOTE) und der Entwicklung reformatori- ropa. - 7. Niederlande. - 8. England. - 9. Skandinavien. - II. scher Ansätze (Befreiung der artes von der theologischen 1. Bildende Kunst. -2. Musik. Bevormundung [8], Textkritik auch an der Bibel) in der A. Allgemeines. Die geistesgeschichtliche Strömung älteren Forschung sicher zu negativ beschrieben worden. des H. ist kaum losgelöst von der kulturgeschichtlichen Wenn man die starke Präsenz bedeutender Humanisten Epoche der Renaissance zu betrachten, da ja der H. in der römischen Amtskirche (von päpstlichen Sekretä- wesentliche Grundlagen für deren künstlerische Ausprä- ren bis zu Kardinälen, wie POGGIO BRACCIOLINI, E. S. gung (z.B. in der Architektur) liefert. [1] Die zeitliche PiccoLOMiNi, P. BEMBO, G. DELLA CASA) und die Schlüs- Abgrenzung des H. ist in der modernen Forschung vor selrolle der Konzile von Konstanz und Basel als Orte der allem deshalb umstritten, weil er die in zahlreichen Dis- Vermittlung berücksichtigt, dann stellt sich der als <heid- ziplinen traditionell respektierte Trennlinie von Mittel- nisch> apostrophierteH. (z.B. beiC. CELTISoder U. VON alter und Neuzeit in Frage stellt. Die vertretenen HUTTEN) oft nur als eine Ausformung nationaler Politik Extrempositionen, welche in der Folge der Renaissance gegenüber dem alten und dem neuen Rom dar: « Virtus jede Eigenständigkeit absprechen [2], versuchen daher scriptaque sola manent.» («Nichts dauert hienieden ewig vor allem mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen als dieses allein : Tugend und Literatur», so Celtis in: <Ad Argumenten, den H. aufzufassen einerseits als Produkt Romam, dum illam intraret» [9]). Der Satz resümiert die einer bereits im 12. Jh. einsetzenden Zeitenwende programmatische Verbindung von doctrina et virtus, die (Blüte des italienischen Fernhandels, Erstarken der beide von zahlreichen Vertretern (PICCOLOMINI, J. WIMP- Stadtrepubliken und ihrer Führungsschichten) und FELING) als christianae gesehen werden. andererseits als Fortsetzung einer sich erst in der Aufklä- Der Kernbereich des Η. mit seinen wesentlichen Lei- rung vollendenden Befreiung des Individuums und einer stungen für die literarischen Disziplinen ist trotz unter- im Klassizismus des 18. Jh. zu Ende geführten Antikere- schiedlicher Gewichtungen zwischen PETRARCA und T. zeption. Im Kern dieser Darstellungen wird der H. daher TASSO ZU fixieren, wobei die Abgrenzung von der vor- als an der Antike ausgerichtetes Bildungsprogramm hergehenden Epoche in dem schon bei Petrarca propa- gesehen, das vor- oder frühbürgerlichen Gesellschafts- gierten Modell von den drei Epochen der Menschheits- formen zwischen Feudalsystem und Industriegesell- geschichte (der Glanz der Antike - die Finsternis des schaft entspricht. Bemerkenswert scheint eine jüngere Mittelalters - die Wiedergeburt in der Neuzeit) beson- Definition der Epoche, die von politischen Konzepten in ders dramatisch ausfällt. Durch die zunehmende Relati- der Sprache ausgeht und somit einschneidende Verände- vierung der tenebrae (Finsternis) dominieren in der For- rungen an B. LATINIS <Livres douTrésor> (1266) und G. schungsliteratur zwei Positionen: a) die Fortführung und BOTEROS <Della Ragion di Stato> (1586) ausmacht. Das Vollendung mittelalterlichen Ansätze, wie sie Cur- an der frühesten Cicero-Renaissance entwickelte Voka- tius [10] vor allem auf dem Gebiet rhetorischer und lite- bular von der idealen Republik und die daraus abgelei- rarischer topoi gezeigt hat. Für Curtius ereignen sich die tete Vision der Politik als nobelste Lebensform des <Bür- wesentlichen Umwälzungen in der Zeit zwischen der gerhumanismus> weicht darin der Resignation angesichts karolingischen Renaissance des 9. Jh. und der Kritik an absolutistischer Machtpolitik: «Ich unterstreiche, daß der Pariser Scholastik durch Oxford (GROSSETESTE, R. der Triumph der Sprache der Staatsräson zusammenfiel BACON) im 12. Jh., worauf dann ein nahtloser Übergang mit dem Verschwinden der Sprache der Politik, die in in die neuzeitliche Literaturtradition folgt. Er zeigt, daß der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausgearbeitet bereits die Rhetorik des 11. Jh. in der ars dictaminis für worden war und die Momente ihres Höhepunktes in der funktionelle und offizielle Briefe repräsentative Formen Epoche des bürgerlichen Humanismus erlebte.» [3] des Η. vorgibt, daß JOHANNES VON SALISBURY schon im Allerdings wird die Politik auch auf diesem Höhepunkt 12. Jh. Rhetorik im Geist Petrarcas als die mit dem richti- mehr als ein Feld der rhetorischen Geste genützt: «Aber gen Wort kombinierte Vernunft definiert und daß die für im Ganzen blieb humanistische Redekunst eine solche den Η. typische Auffassung von Poetik als Steigerung des 'Paradierens', der Zeremonie, und sie hatte nur der Rhetorik ebenfalls im Mittealter wurzelt. Dem geringe politische Bedeutung, abgesehen von ihrem pflichtet P.O. Kristeller[11] bei mit seiner Ansicht, daß Gebrauch für Publicity und Propaganda.» [4] Kulturge- der italienische H. eine konsequente Fortsetzung der schichtliche Abgrenzungen stützen sich andererseits auf literarischen Praxis mittelalterlicher dictatores darstellt, die Neubewertung der <acidia> (Schwermut) bei b) Die andere Position wird durch den absoluten Bruch PETRARCA, die nicht mehr als Sünde - wie noch bei mit dem Mittelalter von R. Sabbadini [12] und E. Dante [5] - sondern als intellektuelle Disposition auf- Garin [13] markiert, wobei für den ersten die materielle tritt, deren Folgen münden werden in Dürers <Melenco- und geistige Entdeckung antiker Schriften, für den zwei- lia> bzw. in R. BURTONS <The Anatomy of Melancholy> ten besonders die Änderung der Haltung ihnen gegen- (1621) als typische Krankheit des humanistischen Intel- über zum Ausgangspunkt des H. wird. Garin unter- lektuellen, dessen Lebensführung eine gefährliche Ver- streicht die philosophische und rhetorische Bewegung dickung der Körpersäfte zu fördern droht. Insofern zeigt weg vom Wort Gottes hin zur menschlichen Kommuni- sich im H. erstmals das Auftreten des unabhängigen kation, damit zur historischen und nicht mehr geoffen- Intellektuellen durch die Konstituierung der dritten barten Wahrheit (nach dem Prinzip: veritas est filia tem- Domäne des Studium (neben den mittelalterlichen Berei- poris, die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit). Übertra- chen des imperium und sacerdotium) und manifestiert gen auf Sprache und Literatur (besonders Latein) ergibt sich in den beiden Universitäts-Gründungswellen (2. sich daraus die unbestreitbar vom H. hervorgebrachte Hälfte des 14. und des 15. Jh. [6]). Während das impe- Disziplin der Philologie. rium den H. bald zu seinen Gunsten einzusetzen weiß, so daß sich für den dadurch in Verwaltungsämtern bedroh- Beide Positionen stimmen darin überein, daß das Pro- gramm des H. auf eine Rhetorisierung sämtlicher For- 1 2 Humanismus Humanismus men der menschlichen Kommunikation, von der Sprach- gen auf beispielhafte Übersetzungen (NIKLAS VON WYLE, beherrschung bis zu den Umgangsformen, abzielt. Der H. STEINHÖWEL) und Historiographie beschränkt; f) der Weg führt dabei von der anfänglich bedingungslosen Reformations- (REUCHLIN, MELANCHTHON) und Gegen- Cicero-Imitation nach PETRARCA über das von L. VALLA reformations-H. (G. DELLA CASA, G. BOTERO), der die favorisierte Modell Quintilians zu der eigenständigen vorangehenden Leistungen für religiöse bzw. politische Stilfindung bei ERASMUS, von der auch im Mittelalter Zwecke nützt. präsenten Dreistillehre bis zur Aktualisierung des Her- Die für den H. konstitutiven Elemente sind dabei in mogenes von Tarsos in den Stilqualitäten bei J. C. SCALI- ihren Grundzügen bereits im Schaffen PETRARCAS vorzu- GER, von einer stilistischen Unterordnung der Poetik finden, der mit seinem Gesamtwerk eine deutliche unter die Rhetorik über die Aristoteles-Renaissance bis Wende einleitet: a) Die Kritik an der ungeordnete zum Erhabenen in der Wiedererschließung des Pseudo- Kenntnisse anhäufenden Naturwissenschaft und an den Longinus. Der aus dieser allgemeinen Rhetorisierung >sinnlosen< Spekulationen der Scholastik [19] und das resultierende Vorwurf der Formalisierung wird bereits zunehmende Interesse für die aus menschlichen Leistun- von F. BACON [14] im Sinne eines neuen, konkreten Den- gen hervorgegangene Erfahrung machen die bis dahin kens erhoben. Die in älterer Literatur vorgebrachte vernachlässigte Historie zur magistra vitae (Lehrmeiste- These von der Feindschaft des H. gegenüber der Natur- rin des Lebens) und in der Folge zu einer Leitdisziplin wissenschaft scheint nicht mehr haltbar, denn die räumli- des Wissenschaftsbetriebes. Die Beispielsammlungen che und zeitliche Öffnung des Horizonts bewegen sich aus den derart wiedererarbeiteten Klassikern (Livius, auf rationalem Boden: «Abgesehen von ihren Unter- Valerius Maximus) und deren Nachahmung (Petrarcas schieden in Thema, Methode und Stoff haben Humanis- <De viris illustribus>, BOCCACCIOS <De claris mulieribus>) mus und Naturwissenschaft zwei grundlegende Stand- liefern Material für die rhetorische inventio. b) Die aus punkte gemeinsam. Beide behaupten, daß die Wirklich- gerechtfertigter curiositas (Neugier) gewonnene persön- keit rational verstanden werden müsse und daß die Prin- liche Erfahrung der Natur (1336 die Besteigung des zipien zu ihrer Erklärung «ihr selbst innewohnen.» [15] Mont Ventoux durch Petrarca) führt zur Entstehung des Der inhaltsleeren Logik bewußt entgegengestellt fördert literarischen Reiseberichts als Erschließung des Buches die Rhetorisierung des H. die Entwicklung einer auf der Welt, in dem gleichermaßen Zeichen Gottes wie der sprachliche Vermittlung abzielenden Analyse wissen- menschlichen Kultur (Denkmäler der Antike, Evoka- schaftlicher Fragen: «Die Rhetorik verwandelt in der tion früherer Texte) zu finden sind (Petrarcas itinera- Renaissance die Wissenschaften in praktische, ange- rium breve de Janua usque ad Jerusalem et terram sanc- wandte Disziplinen mit einer oft detailliert beschriebe- tam>). c) Die daraus abgeleitete Kritik an der Autorität nen Kommunikationsleistung: etwa die Theologie im bereitet zweifellos eine neue Erfahrungswissenschaft Hinblick auf die Verkündigung, die Philosophie im Hin- und eine persuasivere Präsentation von deren Ergebnis- blick auf die Topik, die Medizin im Hinblick auf die sen vor. So schreibt Petrarca in der Vorrede zu <De Therapeutik. Erheblichen Anteil an dieser Entwicklung remediis utriusque fortunae>: «Quid enim de re qualibet besitzt die humanistische Bildungskonzeption, die der iudicare possum nisi quod sentio? Nisi forte compellar, Rhetorik einen signifikanten Stellenwert zuweist.» [16] ut iudicio iudicem alieno; quod qui facit, iam non ipse Der Beitrag der rhetorischen Praxis beschränkt sich iudicat, sed iudicia commémorât.» (Wie kann ich denn dabei nicht auf inventio und disposalo der wissenschaftli- über eine Sache urteilen, ohne daß ich es auch so meine? chen Darstellung, sondern erfaßt auch die elocutio, Das hieße ja mich zwingen, mit fremdem Urteil zu urtei- besonders im Bereich der Terminologie, z. B. der Medi- len! - wer das tut, der urteilt nicht selbst, sondern refe- zin [17], wo der H. bis heute gültige Grundlagen schafft. riert Urteile.) [20] d) Auf die Arbeit mit Texten übertra- gen, begründet diese Haltung die humanistische Philolo- Innerhalb des H. gibt es aufeinanderfolgende bzw. gie, für die Petrarca mit seiner Livius-Edition, seinen konkurrierende Phasen, für die meist folgendes Grund- Handschriftenfunden und seinem Gutachten über das schema gelten kann: a) die isolierten Vorläufer als Ver- österreichische Privilegium maius [21] die Grundlagen treter einzelner Programmelemente (in Italien ca. schafft. Diese Bewegung a faecibus ad fontes (von den 1260—1335 mit GUIDOTTO DA BOLOGNA, B. LATINI und trüben Rinnsalen zu den Quellen) findet ihren humani- A. MUSSATO; im deutschen Sprachraum ca. 1360—1420 stischen Endpunkt 1557 mit F. ROBORTELLOS <De arte mit JOHANN VON NEUMARKT, JOHANNES VON TEPL, A. RA- sive ratione corrigendi veteres authores>. [22] e) Durch TINCK und N. DYBIN); b) der norditalienische PETRARCA- diese Instrumente der Textkritik erhöht sich die Qualität H. ca. 1335—1430 (im restlichen Europa teilweise bis der Wiederbelebung antiker Gattungen, was Petrarca zum Ende des 15. Jh.); c) der florentinische H. ab 1400 selbst an Epos (<Africa>) und Bukolik (<Bucolicum car- mit seiner republikanischen Komponente (L. BRUNI men)) vorführt, f) Die Verbindung von Weisheit und ARETINO, POGGIO BRACCIOLINI), der aus politischen Beredsamkeit, die - ebenfalls gegen frühere Ausbil- Gründen ab ca. 1435 in den nationalen Vulgärhumanis- dungsmodelle gerichtet - aus der Rhetorik einen zentra- mus führt; d) der auf klassische Philologie und Moraler- len Bereich menschlicher Erfahrung macht, wodurch ziehung ausgerichtete <europäische> H. 1430—1530 <eloquentia> nicht mehr als Technik, sondern im Sinne (GUARINO DA VERONA, L. VALLA, C. CELTIS, ERASMUS), Ciceros [23] als copiose loquens sapientia (wortreich der durch den <Wanderhumanismus> (P. LUD ER, PETRUS redende Weisheit) angestrebt wird. [24] Petrarca rekla- ANTONIUS DE CLAPIS) noch vor der Konstituierung von miert daher für sich die von Cato überlieferte Definition geeigneten Rhetorik- und Poetik-Lehrstühlen an den des Redners als vir bonus dicendi peritus (aufrechter, europäischen Artistenfakultäten [18] von italienischen redegewandter Mann). [25] g) Konstitutiv für den H. Ausbildungszentren (Rom, Padua, Pavia, Perugia) lang- Petrarcas ist auch der Konflikt zwischen vita contempla- sam nach Norden vordringt; e) der die Volkssprachen tiva und vita activa, d.h. zwischen dem intellektuellen reformierende Nationalhumanismus (L.B. ALBERTI, Interesse (<Secretum>, <De vita solitaria>) und der politi- LORENZO DE' MEDICI, Α. DE NEBRIJA, G. BUDÉ), der in schen Verantwortung (z.B. die Interventionen für Cola den romanischen Ländern die nationalen Sprachakade- di Rienzo, der Fürstenspiegel für Francesco da Carrara). mien vorbereitet, sich im deutschen Sprachraum hinge- 3 4 Humanismus Humanismus Dieser Konflikt steht ebenfalls im Zentrum der humani- menarbeiten). Die pädagogische Grundhaltung des H. stischen Ausbildungsmodelle des 15. Jh. bei GUARINO DA fördert sowohl die zunehmend positive Einschätzung der VERONA oder VITTORINO DA FELTRE. [26] h) Zentral ist <curiositas> als auch das Interesse an 'persuasiveren' weiter Petrarcas Wahl der später vom H. wegen ihrer Techniken der Wissensvermittlung (z. B. die Einführung persuasiven Kraft bevorzugten Ausdrucksmittel des der wissenschaftlichen Zeichnung ab Leonardo). Briefes (die Sammlungen <Familiares> und <Seniles>) und des Dialogs (z.B. <De remediis>, <Secretum>), die eine Anmerkungen: Argumentation der rhetorischen Überzeugung und nicht lvgl. vor allem G. Voigt: Die Wiederbelebung des classischen des logischen Beweises vorführen sollen, i) Wichtig ist Altertums oder das erste Jh. des H. (1859); J. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien (1860; ND 1930). - 2zuletzt P. auch die Gattung der Autobiographie, die eine ideale Burke: Il Rinascimento (Bologna 1990). - 3M. Viroli: From Verschmelzung von doctrina, virtus und eloquentia Politics to Reason of State. The acquisition and transformation demonstriert und damit Zeugnis vom Ergebnis des Stu- of the language of politics 1250-1600 (Cambridge 1992) 2. - dium und der Kraft der litterae ablegt. [27] j) Schließlich 4D. Cantimori: Rhet. and Politics in Italian Humanism, in: J. of gehört die zweisprachige Funktionalstilistik dazu, die the Warburg Institute 1,2 (1937) 83-102, hier 99. - 5E. Loos: eine klare Trennung zwischen den Ausdrucksebenen Die Hauptsünde der «acedía» in Dantes <Commedia> und in vorsieht: nur dem emotionalen Bereich der Liebeslyrik Petrarcas <Secretum>. Zum Problem der ital. Renaissance, in: (<Canzoniere>) wird das <volgare> gerecht, prestige- F. Schalk (Hg.): Petrarca. Beitr. zu Werk und Wirkung (1975) reichere Genres haben sich der aemulatio in Latein zu 156—183. - 6G. Böhme: Bildungsgesch. des europäischen H. (1986). - 7 A. Buck: <Arma et litterae> - <Waffen und Bildung). stellen. Wie sehr Petrarca diesem Modell verhaftet Zur Gesch. eines Topos (1992). - 8vgl. F.-H. Robling: Art. bleibt, zeigt die in einen religiösen Sendbrief (<De insigni <Ars: III. H. bis 18.Jh.>, in: HWRh I, Sp. 1025 -30. - 9Lat. obedientia et fide uxoria>) umgewandelte Decameron- Gedichte dt. Humanisten. Lat. u. dt. Ausg., übers, und eri. von Novelle X, 10 <Griseldis> [28], deren <vulgäre> Expressi- H. C. Schnur (1966) 40f. - 10vgl. Curtius. -11 P. O. Kristeller: vität nicht der Forderung des aptum entsprach. Renaissance Thought and Its Sources (New York 1979). -12 R. Sabbadini : Storia del Ciceronianismo e di altre questioni lette- Aus dem letzten Punkt entspringt die in Italien als rarie nell'età della Rinascenza (Turin 1885); ders.: Le scoperte <Questione della lingua> (Frage der Sprache) bezeich- dei codici latini e greci nei secoli XIV e XV (Florenz 1905); nete Diskussion über die Angemessenheit literarischer ders.: Le scoperte dei codici latini e greci nei secoli XIV e XV. Ausdrucksmittel: der nationale H. des 16. Jh. wird sich Nuove scoperte (Florenz 1914). - 13E. Garin: L'umanesimo letzten Endes für die von DANTE (<De vulgari eloquen- italiano (Bari 1952). - 14vgl. H.J. Gawoll: Art. <Dialektik: tia>) angeregte Ausformung einer literarischen Volks- BIV. Von F. Bacon bis zur Gegenwart), in: HWRh II, sprache entscheiden, deren Fixierung Ziel der neuen, in Sp.580—591. - 15J. Gadol: Die Einheit der Renaissance: Η., Naturwiss. und Kunst, in: A. Buck (Hg.): Zu Begriff und Pro- Akademien institutionalisierten Sprachpolitik sein wird. blem der Renaissance (1969) 395-426, hier 396. - 16Plett Vf. - Die wechselseitige Affirmation von regelgerechter Lite- 17R. Schmitz, G. Keil (Hg.): H. und Medizin (1984). -18vgl. ratur und durch sie geadelter Volkssprache trägt in der <Querelle des Anciens et des Modernes> einen gemäßig- A. Scaglione: Art. <Artistenfakultät), in: HWRh I, Sp. 109-14. - 19vor allem in Petrarca: Invectivae contra medicum, in: ten Sieg über das Konzept der vergangenheitsorientier- Opere latine, hg. von A. Bufano (Turin 1975), Bd. 2, 817-981; ten Imitation davon. Dazu tragen im Laufe des H. per- De sui ipsius et multorum ignorantia, ebd. 1025 — 1151. - fektionierte Formen (z.B. die in ihrer Praxis revolutio- 20Petrarca: Heilmittel gegen Glück und Unglück. De remediis nierte Dramatik oder die Predigliteratur) und neu defi- utriusque fortunae, lat.-dt. Ausg. in Auswahl übers, und nierte Gattungen (z.B. die in Italien aus den Predigt- komm, von R. Schottlaender (1988) 50f. -21 Petrarca: Seniles Exempla hervorgegangene Novelle) bei. Als wesentliche XVI, 5. - 22 zu den terminologischen Leistungen auf diesem technische Leistung des H. kann die in ihrer Klarheit Gebiet vgl. S. Rizzo: Il lessico filologico degli umanisti (Rom bestechende und damit die sprachlichen Mittel unter- 1973). - 23Cicero: Partitiones oratoriae 79. - 24J.E. Seigel: stützende Schriftart der <Humanistica> gelten, die von Rhet. and Philosophy in Renaissance Humanism. The Union of Eloquence and Wisdom, from Petrarch to Valla (Princeton POGGIO BRACCIOLINI explizit als Rhetorik des Buchsta- 1968). - 25Petrarca: De sui ipsius et multorum ignorantia, in: bens propagiert wird. Der Buchdruck vermag die Wir- Opere latine Bd. 2 [19] 1042. - 26G. Müller: Mensch und Bil- kung des H. sicher zu verstärken, aber nicht entschei- dung im ital. Renaissance-H. (1984). - 27Petrarca: Seniles dend zu modifizieren: nach anfänglicher Skepsis werden XVIII, 1: Posteritati; vgl. J. Ijsewijn: Humanistic Autobiogra- hauptsächlich die auch schon als Handschriften zirkulie- phy, in: E. Hora, E. Keßler (Hg.): Studia Humanitatis (1973) renden philologischen Werke gedruckt. Als Korrekto- 209—220. - 28Petrarca: De insigni oboedientia et fide uxoria, ren und Herausgeber im Dienst bedeutender Drucker in: Opere latine, Bd. 2 [19] 1311-39. -29vgl. B. Richardson: für klassische (MANUZIO, FROBEN) und vulgärsprachliche Print Culture in Renaissance Italy. The Editor and the Vernacu- Texte (Manuzio, GIUNTI [29]) brechen die Humanisten lar Text, 147-160 (Cambridge 1994). schließlich auch aus dem Mäzenatentum aus, um als professionelle <letterati> die Wirkung ihrer Rhetorik auf Literaturhinweise : dem freieren Buchmarkt zu erfahren. Murphy RE. - H. F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik, Renais- sance Poetics (Berlin/New York 1994). Diese Emanzipation des intellektuellen und künstleri- A. Noe schen Anspruchs wirkt sich auch gegen Ende des H. entscheidend auf die Säkularisierung der Musik aus, die B.I. Nationalliteraturen. 1. Italien. Der Einschnitt in sich als rhetorische Ausdrucksform zielstrebig an der der italienischen Entwicklung zwischen der mittelalterli- Affektenlehre als Notwendigkeit der Vokalmusik orien- chen und der humanistischen Rhetorik kann an zwei tieren wird. Der Beitrag des H. zu den Naturwissen- bedeutenden Ve tretern exemplifiziert werden: FRA GUI- schaften (besonders zur Medizin) liegt ebenso wie jener DOTTO DA BOLOGNA (1. Hälfte des 13. Jh.), Lehrer der ars zu den Bildenden Künsten vor allem auf dem Gebiet der dictaminis an der wichtigsten Rechtsschule des Landes, Erschließung und Bearbeitung der antiken Texte bzw. konzipiert 1254—66 in seinem Traktat <Fiore di rettorica> deren Umsetzung in die darstellende Praxis des 16. Jh. das umfassendste System der praxisorientierten Formu- (z. B. die Tätigkeit der <Accademia Vitruviana> in Rom, lar- bzw. Stillehre. Β. LATINI (um 1220-1294/5), nach in der Philologen, Archäologen und Architekten zusam- der Rückkehr aus dem französischen Exil Kanzler der 5 6

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