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Historische Epistemologie der Strukturwissenschaften PDF

358 Pages·2010·19.286 MB·German
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Stefan Artmann Historische Epistemologie der Strukturwissenschaften Wilhelm Fink Die vorliegende Arbeit wurde ausgezeichnet mit dem Dalberg-Preis 2008 für transdisziplinäre Nachwuchsforschung der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt in Verbindung mit den Thüringer Hochschulen Umschlagabbildung: Karl Steinbuch und Werner Rupprecht: Nachrichtentechnik. Eine einführende Darstellung, Berlin/Heidelberg/New York 1967, S. 212, Abb. 4.44: Prinzipschaltung eines Flipflop © Springer Verlag OHG, Berlin/Heidelberg 1967 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4932-0 Für Verena Inhalt Einleitung.................................................................................................................. 9 I Naturwissenschaft oder Mathematik? Zwei Positionen zur systematischen Einordnung der Strukturwissenschaft .... 17 1 Strukturwissenschaft als gegenständlich erweiterte Naturwissenschaft und der ontologische Status der Struktur......................................................... 18 1.1 Naturwissenschaft versus Geschichte (Wilhelm Windelband).............. 18 1.2 Naturwissenschaft versus Kulturwissenschaft (Heinrich Rickert)......... 20 1.3 Strukturwissenschaft versus Kulturwissenschaft (Aloys Müller)............ 23 2 Strukturwissenschaft als universell anwendbare Formalwissenschaft und der epistemologische Status des Strukturalismus........................................30 2.1 Analyse und Synthese (Max Frischeisen-Köhler).......................................30 2.2 Form und Inhalt (Rudolf Carnap)................................................................35 2.3 Möglichkeit und Wirklichkeit (Carl Friedrich von Weizsäcker).............46 II Die kybernetische Synthese. Zwei Schritte zur strukturellen Umordnung der Wissenschaftssystematik......... 63 1 Die Verschränkung von Philosophie und Kybernetik (Georg Klaus)......... 67 1.1 Kybernetik — eine strukturwissenschaftliche Pseudophilosophie?......... 70 1.2 Philosophie als technologische Reflexion der Kybernetik...................... 80 1.2.1 Grade technischer Reflexion.................................................................81 1.2.2 Ein Beispiel für die Technologisierung der Philosophie.................87 1.2.3 Die Form kybernetischer Analogien...................................................91 1.2.4 Die technische Ressource ,Struktur ..................................................97 2 Die anthropologische Interpretation der Kybernetik (Karl Steinbuch)...... 103 2.1 Kybernetik - eine Sozialtechnologie?........................................................ 107 2.2 Anthropologie als kybernetische Reflexion des Subjekts..................... 116 2.2.1 Die nachrichtentechnische Einheit der Welt..................................117 2.2.2 Von der konstatierten Analogie zur konstruierten Identität.......126 2.2.3 Die technologische Form des Menschen........................................136 2.2.4 Das Grundproblem der praktischen Kybernetik............................150 8 INHALT III Strukturw issenschaftliche Risikoverbünde. Grundlegung einer strukturalen Pragmatik TRANSDISZIPLINÄRER FORSCHUNGSPROGRAMME...................................... 165 1. Vertrauensbildende Maßnahmen. Zur struktural-pragmatischen Perspektive auf die Strukturwissenschaften....................................................165 1.1 Die Idee einer strukturalen Pragmatik der Strukturwissenschaften.....170 1.2 Strukturwissenschaften als transdisziplinäre Forschungsprogramme... 182 1.3 Forschungsprogramme der prozeduralen Rationalität...........................194 2 Die Möglichkeit der Einheit und die Einheit der Möglichkeit. Zwei Hauptprobleme einer Philosophie der Strukturwissenschaften......... 226 2.1 Die Möglichkeit der Einheit: Wie werden Forschungsprogramme in strukturwissenschaftliche Risikoverbünde einbezogen?.................... 233 2.1.1 Das oberste Zweckprogramm der Strukturwissenschaft: Rekursive Integration...................................................................... 233 2.1.2 Das wichtigste Schema strukturwissenschaftlicher Konditionalprogramme: Modellminimierung............................ 251 2.2 Die Einheit der Möglichkeit: Wie werden Objekte in struktur­ wissenschaftlichen Forschungsprogrammen modalisiert?..................... 273 2.2.1 Die abstrakte Operationsweise der Strukturwissenschaft: Modulare Kontextualisierung........................................................ 275 2.2.2 Ein Fallbeispiel für eine strukturwissenschaftliche Operation: Kodierung......................................................................................... 290 RESUME ................................................................................................................ 307 Literaturverzeichnis 315 Einleitung Die Geschichte der Naturwissenschaften im zwanzigsten Jahrhundert ist reich an Entdeckungen, Hypothesen und Theorien, die klassische Vorstellungen über den Aufbau und die Bewegung materieller Systeme revolutioniert haben. Großes all­ gemeines Interesse erregten vor allem die Quantenmechanik und die Vielfalt ihrer physikalischen Deutungsmöglichkeiten, die Relativitätstheorie und ihre kosmolo- gischen Konsequenzen sowie die Molekularbiologie und die auf ihr basierenden gentechnischen Verfahren. In weitaus geringerem Maße wurde von der wissen­ schaftsinteressierten Öffentlichkeit die kaum zu überschätzende Bedeutung der Mathematik für den Fortschritt der modernen Naturforschung gewürdigt. Sie stellte den Erfahrungswissenschaften ein immer umfassenderes Arsenal formaler Konzepte zur Verfügung, die bei der Erklärung empirischer Sachverhalte einge­ setzt werden konnten. Die durchgreifende Reorganisation der traditionellen ma­ thematischen Wissensgebiete zu einer Architektur miteinander kombinierbarer Strukturtheorien war darüber hinaus eine notwendige Voraussetzung für die Ent­ stehung der Strukturwissenschaften: einer Gruppe von Wissenschaften zwischen Mathematik und empirischer Forschung, zu der — um nur einige wichtige Bei­ spiele zu nennen - die Kybernetik und die Informationstheorie, die Semiotik und die Spieltheorie, das Operations Research und die Komplexitätstheorie gehören. All diese Wissenschaften beschreiben wie die Mathematik auf eine abstrakte Wei­ se relationale Ordnungen: also Strukturen. Aber im Unterschied zur Mathematik motiviert die konkrete Anwendbarkeit solcher Strukturbeschreibungen auf eine möglichst große Vielfalt von Erfahrungsgegenständen - und damit ihr Beitrag für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den empirischen Wissenschaften — die strukturwissenschaftliche Forschung. So strebt beispielsweise die Kybernetik nach einer natürliche, soziale und technische Phänomene umfassenden Erklärung für die Verhaltensweisen sich selbst regulierender Systeme. Organismen, Unter­ nehmen und Kraftwerke gelten ihr als unterschiedlich komplexe Realisierungen des Rückkopplungsprinzips, so daß Biologie, Wirtschafts- und Ingenieurwissen­ schaften dank transdisziplinärer kybernetischer Modelle voneinander lernen kön­ nen. Damit wird auch die Grenze zwischen Wissenschaft und Technik verwischt: Strukturwissenschaftliche Forschung ist zumeist aufs engste mit der praktischen Auswertung abstrakter Strukturmodelle zum Zwecke der Entwicklung von Tech­ niken verknüpft, welche diese Modelle kontrollierbar realisieren. Nicht nur im Falle der Kybernetik, der Informationstheorie und des Operations Research ist es einfach, diese Nähe der Strukturwissenschaften zum Ingenieurwesen zu belegen — grundlegende Ideen dieser drei Disziplinen formierten sich während des zweiten Weltkriegs auch infolge der starken militärischen Nachfrage nach kriegsrelevan­ 10 EINLEITUNG ten neuen Geräten (wie Radaranlagen oder Chiffriermaschinen) und Prozeßop­ timierungen (z. B. bei der Gefechtsplanung oder für Waffentests). Vor allem in der theoretischen Biologie hat der Einsatz von Strukturtheorien an Stärke und Umfang solchermaßen zugenommen, daß seine wissenschaftliche und technische Tragweite sogar heute nur unvollkommen abzusehen ist.1 Die überaus wichtige Rolle dieser Disziplin bei der sich gegenwärtig intensivierenden Zusam­ menarbeit zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften beruht nicht nur dar­ auf, daß ihr Forschungsgebiet die naturale Basis der kognitiven Fähigkeiten des Menschen einbegreift, sondern vor allem auch darauf, daß zur wissenschaftlichen Analyse evolutionärer Prozesse und komplexer materieller Systeme solche Kon­ zepte wie ,Selbstorganisation‘ und ,Information‘ unabdingbar benötigt werden. Die Strukturwissenschaften, denen diese Begriffe entstammen, tragen entschei­ dend dazu bei, die phylo- und ontogenetische Entstehung der hohen funktiona­ len Komplexität von Organismen zu erklären. Darüber hinaus ermöglichen sie es, evolutionäre und Entwicklungsprozesse überhaupt - also sowohl solche, die in der Natur ablaufen, als auch solche, die in der Kultur vonstatten gehen - sowie komplexe Systeme welcher Provenienz auch immer zu erforschen und damit tra­ ditionell ihrem Typus nach den Geisteswissenschaften zugewiesene Fragestellun­ gen mit formalen Mitteln in Angriff zu nehmen. „Die Strukturwissenschaften haben für die Einheit der Wissenschaften insofern eine große Bedeutung, weil sie eine Brücke zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften schlagen und die Wirklichkeit nur unter dem Aspekt abstrakter Strukturen betrachten, zwischen Natur- und Kulturgegenständen also gar nicht mehr unterscheiden.“2 Dieser Ein­ heit der Wissenschaften liegt ein ,Baukastensystem‘ von rekombinierbaren strukturwissenschaftlichen Begriffen zugrunde, die jeweils eine relationale Ord­ nung zwischen empirisch nicht näher bestimmten Entitäten mathematisch be­ schreiben, auf Grund ihres abstrakten Denotats potentiell auf alle Bereiche der Wirklichkeit anwendbar und gemäß den Anforderungen des besonderen Anwen­ dungskontextes sowohl formal weiterentwickelbar als auch material spezifizierbar sind. Die Philosophie hat auf die vehemente Entwicklung der Strukturwissenschaften sowie auf ihre grundlegende Bedeutung für das sich gegenwärtig entwickelnde wissenschaftliche Weltbild bisher nur unzureichend reagiert und weder eine sy­ stematisch umfassende noch eine geschichtlich profilierte Wissenschaftstheorie dieser Disziplinengruppe in Angriff genommen. Ziel der vorliegenden Schrift ist 1 Siehe Bernd-Olaf Küppers: Der semantische Aspekt von Information und seine evolutionsbiologische Bedeutung, in: Nova Acta Leopoldina NF 72 (1996) 294, S. 195-219, Ders.: The World of Biolo­ gical Complexity. Origin and Evolution ofLife, in: Steven J. Dick (Hrsg,): Many Worlds. The New Universe, Extraterrestrial Life, and the Theological Implications, Radnor/PA: Templeton Foun­ dation Press 2000, S. 31-43, Stefan Artmann: Artificial Life as a Structural Science, in: Philoso- phia naturalis 40 (2003), S. 183-205 und Ders.: Biosemiotics as a Structural Science. Between the Forms ofLife and the Life ofForms, in: Journal of Biosemiotics 1 (2005), S. 183-209 2 Bernd-Olaf Küppers: Information und Kommunikation als Organisationsprinzipien des Lebendigen, in: Erhard Busek (Hrsg.): Kommunikation und Netzwerke. Europäisches Forum Alpbach 2002, Wien: Verlag Österreich 2003, S. 12-25, hier: S. 24 EINLEITUNG 11 es daher, Grundlagen einer historischen Epistemologie der Strukturwissenschaften zu erarbeiten. Darunter soll eine Theorie der Bedingungen, Mittel und Ziele strukturwissenschaftlicher Forschung verstanden werden, welche die Problemge­ schichte der unterschiedlichen Strukturwissenschaften rekonstruiert, um deren methodologischen, erkenntnistheoretischen und ontologischen Gehalt systema­ tisch zu analysieren. Weil das Konzept der Strukturwissenschaft noch nicht zum etablierten wissenschaftstheoretischen Begriffsapparat gehört, ist eine historisch- epistemologische Vorgehensweise, welche die systematische und geschichtliche Relevanz dieses Konzepts nachweisen kann, besonders geboten. Zum Zweck der Analyse des hierfür heranzuziehenden disparaten Materials aus Philosophie-, Wis- senschafts- und Technikgeschichte soll sich diese Arbeit an einem prägnanten sy­ stematischen Aspekt der strukturwissenschaftlichen Forschung orientieren - wo­ bei ausdrücklich noch keine auf Vollständigkeit zielende Geschichte des Begriffs­ feldes ,Struktur — Strukturalismus - Strukturphilosophie — Strukturwissenschaft' angestrebt wird.3 3 Daher werden sporadische Verwendungen des Ausdrucks ,Strukturwissenschaft1 (beispielsweise Ernst Topitschs Qualifikation seiner Weltanschauungslehre als Strukturwissenschaft — siehe To- pitsch: Weltanschauungsanalyse als Strukturivissenschafi, in: Thomas Binder, Reinhard Fabian, Ulf Höfer und Jutta Valent (Hrsg.): Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz, Amsterdam und New York: Rodopi 2001 (Studien zur österreichischen Philosophie Bd. 33), S. 547-574) hier nicht dokumentiert. Ebenfalls muß es zukünftigen Arbeiten Vorbehalten bleiben, wichtige philosophische, wissenschaftliche und technologische Theorien, die in enger thematischer Beziehung zur Wissenschaftsphilosophie der Strukturwissenschaften stehen, hier aber aus textökonomischen Gründen nicht erörtert werden können, systematisch zu untersuchen. Beispielsweise wäre in der Ontologie die Strukturphilosophie Heinrich Rombachs zu behandeln (siehe insb. Rombach: Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, zweite Auflage, Frei­ burg und München: Alber 1988), in der allgemeinen Wissenschaftstheorie der neuere Struktura­ lismus seit Joseph D. Sneed (siehe einführend Werner Diederich: Structuralism as Developed mithin the Model-Theoretical Approach in the Philosophy of Science, in: Wolfgang Balzer und C. Ulises Moulines (Hrsg.): Structuralist Theory of Science. Focal Issues, New Results, Berlin: de Gruyter 1996 (Perspektiven der Analytischen Philosophie Bd. 6), S. 15-21 - zum älteren Struk­ turalismus bei Patrick Suppes siehe Kapitel III. 1.1 und Kapitel III.2.1.2 dieser Arbeit), in der Philosophie der Mathematik die u.a. an Nicolas Bourbaki anschließende, gegenwärtig intensiv diskutierte strukturalistische Strömung (siehe einführend Erich H. Reck und Michael P. Price: Structures and Structuralism in Contemporary Philosophy of Mathematics, in: Synthese 125 (2000), S. 341-383 - zur Mathematikergruppe Bourbaki siehe Kapitel III.2.1.2 dieser Arbeit) und in der Philosophie der Physik der sogenannte Strukturenrealismus (siehe übersichtsgebend Holger Lyre: Lokale Symmetrien und Wirklichkeit. Eine naturphilosophische Studie über Eichtheorien und Struk­ turenrealismus, Paderborn: Mentis 2004). Im Falle des - gerade für das Projekt einer strukturwis: senschaftlich herbeigeführten Einheit der Wissenschaften bedeutsamen - kulturwissenschaftli­ chen Strukturalismus sei auf die Dissertation Theorie des strukturalistischen Subjekts (Essen: Die Blaue Eule 2000 (Genealogica Bd. 28)) des Verfassers dieser Arbeit verwiesen. Dort finden sich allerdings ebensowenig wie in dieser Arbeit Ausführungen zur kunsttheoretischen Strukturanalyse in der Tradition Alois Riegls, Guido von Kaschnitz-Weinbergs und Hans Sedlmayrs (siehe ein­ führend Sheldon Nodelman: Structural Analysis in Art and Anthropologe, in: Yale French Studies 36/37 (1966), S. 89-103). Die Verbindung der Philosophie der Strukturwissenschaften zur So­ ziologie der Informations- oder Wissensgesellschaft kann hier gleichfalls nicht explizit behandelt werden. Die Auseinandersetzung mit der in Japan schon Anfang der 1960er Jahre entstandenen Konzeption der Informationsgesellschaft (siehe zur begriffsgeschichtlichen Orientierung Youichi Ito: Birth ofjoho Shakai and Johoka Concepts in Japan and Their Diffusion outside Japan, in: Keio

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