HERAUS FORDERUNGEN ANTWORTEN HERAUS FORDE RUNGEN ANTWORTEN Politische Bildung in den neunziger Jahren Wolfgang Hilligen zum 75. Geburtstag Herausgegeben von Bernhard ClauBen Walter Gagel Franz Neumann + Leske Budrich, Opladen 1991 ISBN 978-3-8100-0927-2 ISBN 978-3-322-97240-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97240-8 © 1991 by Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlieBlich aller seiner Thile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Ver wertung au6erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim mung des Verlags unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfaltigun gen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich Vorwort ,Herausforderungen' und ,Antworten' - diese Begriffe sind als di daktische Schliisselkategorien zum Merkmal des didaktischen Den kens von Wolfgang Hilligen geworden. So sehr sie heute Allgemein platz geworden sind, - er seIber hat sie schon 1955 verwendet, um die Moglichkeiten politischen Handelns in einer problematisch geworde nen Welt aufzuzeigen. Eine Schrift, durch welche Freunde und Kolle gen Wolfgang Hilligen zu seinem 75. Geburtstag im Mai 1991 ehren wollen, muJ3 diese Worte im Titel aufweisen, wenn sie seinem Werk ge recht werden solI. ,Herausforderungen' sind die krisenhaften Gefahrdungen der jewei ligen Gegenwart; mit dem Begrift' ,Antworten' wird die Uberzeugung ausgedriickt, daB Menschen die Kraft und die Fiihigkeit besitzen, die sen Gefahrdungen zu begegnen und LOsungen zu finden, die ihnen ein Uberleben und ein sinnvolles Leben ermoglichen. Es ist dies eine ge schichtsphilosophische Grundiiberzeugung, die sich bei Wolfgang Hilli gen gegen Endzeit- und Untergangspessimismus richtet und ein MaO an Zuversicht ausstrahlt, das Jugendliche wie Erwachsene ermutigen kann. Die ,Antworten' sind im Sinne von Wolfgang Hilligen nicht als bloB technokratische zu verstehen. Vielmehr miissen sie nach seiner Uberzeugung von einem Bezug auf normative Grundentscheidungen geleitet sein. Hilligen hat seine normative Uberzeugungen in seinen ,Optionen' formuliert; sie stellen den Wertekern seiner Didaktik dar. Es sind die Optionen - ffir die unbedingte Geltung personaler Menschenrechte, - llir die Uberwindung struktureller sozialer Ungleichheiten, - fUr die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen fUr Alternati- ven zu schaffen und zu verbessern. Der Grundgedanke dieser Festschrift ist es daher, im Sinne von Wolfgang Hilligen politisch-gesellschaftliche Schliisselprobleme von 6 Vorwort existentieller Bedeutsamkeit zu thematisieren, die sich zu Beginn des letzten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert abzuzeichnen begonnen ha ben, und zu zeigen, welche Hilfen Politische Bildung und Politikunter richt bieten konnen, diese Herausforderungen zu bewiiltigen. Entspre chend haben wir die Beitrage in drei Gruppen geordnet: Der erste Teil enthalt die Bearbeitung ausgewahlter Schliisselpro bleme unserer Gegenwart und der iiberschaubaren Zukunft, die eine ,Herausforderung' an die Politik, aber auch an die geistig-moralische Bewiiltigung jedes einzelnen darstellen. 1m zweiten Teil findet man als ,Antworten' didaktische Reflexionen zu den Aufgaben der Politischen Bildung angesichts der Schliisselprobleme, fachdidaktische Analysen zu einzelnen von ihnen und eine grundsatzliche Erorterung der Ver mittlungsproblematik zwischen Herausforderungen und BewuBtsein. 1m dritten Teil folgen dann Beitrage zu den Realisierungsbedingungen in der Praxis der Politischen Bildung. Den drei Teilen geht ein Beitrag voraus, der das Lebenswerk Wolf gang Hilligens wiirdigt. Daher braucht an dieser Stelle darauf nicht eingegangen zu werden. Erwahnt werden solI aber das Schriftenver zeichnis am Ende des Bandes, das eindrucksvoll die Schaffensfiille und den Schaffensreichtum des Jubilars dokumentiert. DaB die Menschenrechte eine Voraussetzung fiir lebenswiirdige De mokratie ist, haben die Ereignisse der jiingsten Zeit in Europa besta tigt. Wolfgang Hilligenjedoch insistiert darauf, daB dariiber die Bedin gungen fiir die Realisierung von Menschenwiirde, die sozialen Voraus setzungen, nicht vergessen werden diirfen. Daher bleibt es eine immerwahrende Aufgabe, Freiheit und Gleichheit in ein Verhaltnis zu einander zu bringen. Daran erinnern zu konnen, moge Wolfgang Hilli gen noch lange vergonnt sein. Dies wiinschen ihm die Autoren und Au torinnen und die Herausgeber der Festschrift und der Verlag. Mai 1991 Bernhard ClaufJen Walter Gagel Franz Neumann Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................. 5 1. Zeitdiagnose und existentieller Bezug. Zur Entstehung und Entwicklung der didaktischen Konzeption Wolfgang Hilligens (Walter Gagel) ....... .... .... ....... .... ........................ ...... .... 11 I. Problemfelder der Polltik als ,Herausforderungen' ..... ... 29 2. Frieden in der Weltgesellschaft? Der schwierige Weg zur Eindiimmung der Gewalt (Hans Nicklas) .......................... 31 3. Adieu Entwicklungshilfe! Kommt eine kalte Apartheid? (Reimer Gronemeyer) ................................................................. 49 4. Deutschland, die neue GroBmacht in Europa. Nationale und europaische Aspekte der Deutschen Einheit (Gottfried Erb).. 59 5. Politik zwischen Allgegenwart und Effizienzverlust. Entwicklungschancen der demokratischen Regelung oft'entlicher Angelegenheiten (Bernhard Claupen) .................. 75 6. Die ,Herausforderungen' des technisch-wirtschaftlichen Wandels und ihre ,kategoriale Bewaltigung' durch Politikwissenschaft und Politische Bildung (Hans-Hermann Hartwich) .............................. ................... ....... 91 7. Okologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft: Notwendigkeit, Konzepte und Realisierungschancen (Dieter Eipel) .............................................................................. 107 8. Solidargemeinschaft versus Zweidrittelgesellschaft? Zur Zukunft der Sozialpolitik (Bernhard Schafers) ................. 125 9. Uber Gewaltverhaltnisse oder Zur politischen Ethik im Schlaraffenland (Franz Neumann) ...................................... 141 8 lnhalt II. ,Antworten' - didaktische Refl.exionen zum Beitrag der :()Olitischen Blldung ......................................................... 161 10. Ziel: politische Rationalitat. Ihre Aktualitat angesichts der Herausforderungen (Manfred Hlittich) ...................................... 163 11. 1st ,Erziehung zur Demokratie' noch zeitgemaB? Politisches Lemen fUr die Zukunft (Kurt Gerhard Fischer) ....................... 177 12. Leitprinzipien eines feministischen Geschichtsunterrichts. Fachdidaktische Uberlegungen zur ,Stadt der Frau' von Christine Pisau (Annette Kuhn) ................................................ 185 13. Grundfragen einer didaktischen Konturierung der europaischen Einigungspolitik (Wolfgang W. Mickel) .............. 205 14. Aspekte der Analyse von Technik und Gesellschaft. Anfragen an die Tradition der Aufklarung (Siegfried George) 221 15. Veranderungen in der Arbeitswelt. Wahrnehmungen von Arbeit, Mikropolitik im Betrieb und die ,Humanisierung der Berufsschule' (Tilman Grammes) ........................................ 237 16. Herausforderungen und Lebenswelt. Probleme der Vermittlung von wissenschaftlichen und lebensweltlichen Erkenntnisweisen (Dagmar Richter) ......................................... 251 III. Realisierungsbedingungen und -moglichkeiten in der Praxis der Politischen Bildung ............................................. 265 17. Die Herausforderungen und die junge Generation. ProblembewuBtsein und Einstellungen der Jugendlichen und Folgerungen fiir das politische Lemen (Siegfried Schiele) ...... 267 18. Neue Medien als Sozialisatoren: Hat der Politikunterricht in der Konkurrenz mit ihnen eine Chance? (Karlheinz Rebel) .. 283 19. Lassen sich Herausforderungen verstehbar und erfahrbar Machen? Zum Stellenwert einer didaktischen Konzeption fiir die Planung von Politikunterricht (Gotthard Breit) ................. 299 20. Tragfahigkeit und Wirksamkeit didaktischer Konzepte im Alltag des Politikunterrichts. (Georg Weipeno) ........................ 313 21. Prinzipielle VermittlungsaufgabenzwischenPolitikwissenschaft Politikdidaktik und Politischer Bildungsarbeit im Spiegel aktueller Verstandigungsschwierigkeiten (Gerd Stein) ............. 327 22. Didaktik der Politikdidaktik? Eine wissenschaftsdidaktische Zuriickweisung des instrumentalistischen Rezeptdenkens fiir die Praxis der Politischen Bildung (Birgit Wellie) .................... 339 lnhalt 9 23. Didaktische Theorie und Unterrichtspraxis: Was bleibt von einem fachdidaktischen Studium (Gerd Bohlen) .............. 353 24. Die Politische Bildung im Bundestag. Debatten und Anhorungen im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft, Politik und Didaktik (Dieter Schmidt-Sinns) ........................... 369 IV. Anhang ..................................................................................... 387 Schriftenverzeichnis von Wolfgang Hilligen (Franz Neumann) ..... 389 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................ 399 1. Zeitdiagose und existentieller Bezug Zur Entstehung und Entwicklung der didaktischen Konzeption Wolfgang Hilligens Walter Gagel 1.1 Vorbemerkung Seiner Sammlung friiherer Schriften (1976) hat Wolfgang Hilligen zwei Mottos vorangesteIlt, einmal die Geschichte des Herrn K. von Ber tolt Brecht: "Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hat, begrii6te ihn mit den Worten: ,Sie haben sich gar nicht verandert.' ,Oh!' sagte Herr K. und erbleichte.", - zum anderen das Wort von Pascal: "Jeder Autor hat einen Sinn, in welchem aIle entgegengesetzte SteIlen sich vertragen, oder er hat iiberhaupt gar keinen Sinn." Zusammengenom men enthalten sie das Selbstverstandnis Hilligens, der in dem Sammel band durch eigene Kommentare zu seinen friiheren Schriften beabsich tigte, ,Kontinuitat und Wandel der eigenen Konzeption' darzulegen. Jedoch scheinen mir die beiden Begriffe noch etwas zu auBerlich auszusagen, daB etwas geblieben ist, anderes sich geandert hat. Zutref fender ist die VorsteIlung von einer Grundstruktur, die sich im Laufe der Zeit ausdifferenzieri hat. Ich will jedenfaIls versuchen, an der er sten Veroffentlichung Wolfgang Hilligens zur Politischen Bildung diese Grundstruktur aufzuzeigen und die Ausdifferenzierung anschlieBend zu skizzieren. 1.2 Der Zusammenhang zwischen Zeitdiagnose und Lernaufgaben: "Plan und Wirklichkeit" 1955 Das Buch "Plan und Wirklichkeit im sozialkundlichen Unterricht" von 1955 stand bisher im Schatten der iibrigen Schriften Wolfgang Hil ligens. Der Grund liegt wohl darin, daB es nach gelaufigen VorsteIlun gen aus zwei heterogenen Teilen besteht. In der Hauptsache enthalt es eine empirische Untersuchung, in welcher durch Lehrplananalysen und Befragungen von Schulen, Lehrern und Schiilern die ~irklichkeit' des Unterrichts im Fach Sozialkunde an den Realschulen des Landes 12 Walter Gagel des Hessen ermittelt wird. Die Ergebnisse seiner Untersuchung liiBt Wolfgang Hilligen dann in den Entwurf eines Lehrplanes fUr Rea1schu len mUnden. Darin ist jedoch durchaus eine Sachlogik enthalten. Der ZUMmmenhang wird von der These geleitet: "Nur die Diagnose der padagogischen Wirkliehkeit kann den Ansatz zur Fortentwieklung ge ben" (1955:2). Dieses Konzept ist spater nirgendwo in der Bundesrepu blik wieder verwendet worden; Lehrpliine waren immer bloB ,Kon struktion', niemals Produkt von ,Diagnose'. 1m Falle dieses Buehes war die Koppelung moglieherweise der Ver breitung naehteilig: Die empirische Untersuehung bezog sieh auf Hes sen, dem Lehrplan war jedoch von Hilligen generelle Geltung zuge daeht. Zudem enthiilt er in nuee die Grundelemente von Hilligens di daktischer Konzeption: Er entwiekelte nieht nur einen Plan, sondern beschrieb aueh die didaktisshen Prinzipien, die im zugrundelagen. Ieh will dies an drei Elementen verdeutliehen: Zeitdiagnose, die Bedeutung fur das Leben und die integrative Funktion von Inhalten. 1.2.1 Zeitdiagrwse Den Teil, in welehem die Folgerungen der Erhebung fiir LehrpHine gezogen werden, leitet Hilligen mit einem Uberbliek iiber "einige Grundziige der gesellschaftliehen und geistigen Situation" ein (1955: 103if.). Er nennt die gewandelte Funktion des Staates, die Teehnisie rung der industriellen Produktion, die Auswirkungen auf ,den Men sehen' in seiner Situation der beginnenden Konsum-und Freizeitgesell sehaft und stellt dabei die ,Gefahren' heraus: "Die Auflosung der ge waehsenen Bindungen, der EinfluB zivilisatorischer Vermassungsmaeh te und die Formen des Arbeitsprozesses arbeiten an der Entpersonli ehung des Mensehen" (1955: 105). Diese Beschreibung konnte man da mals den zeitdiagnostischen Werken, beispielsweise von Karl Jaspers, entnehmen; das Theorem von der Massengesellschaft ist damals weit verbreitet gewesen und unter verschiedenartigem Wertakzent ent wickelt worden (Spengler, Ortega y Gasset, Jaspers mit alten, aber neu aufgelegten oder neuen Werken). An dieser Stelle ist auch nicht die Zeitbedingtheit dieser Analysen wichtig, sondern das Strukturelle, daB namlich diese Diagnose von Hilligen als Gefahrendiagnose aufg enom men wurde: "Die technische Entwicklung ... hat ... Gefahren heraufbe schworen, die den Bestand der gesamten Gesellschaft und die personale Existenz des Einzelnen bedrohen" (1955: 105). Gegeniiber diesem Gefahrenpotential denkt Hilligen nicht an Un tergangsszenarien im Stile von Spengler, aber auch nicht an den Ge-