Barker Fairley Heinrich Heine Eine Interpretation HEINRICHHEINE BARKERFAIRLEY HEINRICH HEINE EINE INTERPRETATION - VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART DieOriginalausgahe- HeinrichHeine.An Interpretation erschien 1954beiOxfordUniversity Press DeutscheUhersetzungvonLauraHofrichter ISBN 978-3-476-98824-9 ISBN 978-3-476-98823-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-98823-2 © 1965 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung undCarlErnstPoeschel VerlagGmbHinStuttgart1965 INHALT I LIEDER1MLIED 1 II MUSIKUND TANZ 26 III CHORUNDPROZESSION 49 IV THEATERUNDZEREMONIELL 70 V KARNEVALUNDKOSTUM 90 VI TIERE 116 VII HIMMELUNDHOLLE 140 VIII SCHLUSSFOLGERUNGEN 164 ANMERKUNGEN 175 REGISTER 181 ·.. auf dieser groiler:WeZtbiihne geht es auch auperdem ganz wie auf unseren Lumpenbrettern . .. "Das Buch Le Grand«,Kap.11 I LIEDERIMLIED 1M ERSTEN TRAUMBILD, das heiBt, in den Strophen, die das »Bucli der Lieder'< eroffnen, erzahlt Heine einiges von den Traumen seiner Jugend. Sie handeln zum groBten Teil von dem, was wirohnedies erwarten wilrden, von Liebe und Leiden schaft, Streit und Kiissen, Myrthen und Resede; aber doch nicht nur davon, denn er sagtauch, daB ihm von Liederntraumte: Mirtraurnteeinstvon wildemLiebesgliihn, VonhiibschenLocken,MyrtenundResede, VonsullenLippenundvon bittrerRede, Von diistrerLiederdiisternMelodien.! Und das »Fresko-Sonett« 4, das wahrscheinlich im Jahr 1821 entstand, sagt das gleiche - mit Variationen - noch einmal. Diesmal traumt er von einemMarchen und im Marchen kommt ein Lied vor und imLied ein Madchen. Doch das Lied fallt ihm zuerst ein und dann erst denkt er an das Madchen - im Lied. Und das ist kein Zufall, denn die Reihenfolge wird im folgen den wiederholt; wieder hat das Lied den Vortritt und offenbar kommtimLieddas Madchenvor: 1mHirnspuktmirein Marchenwunderfein, Undin dem Marchenklingtein feines Lied, Undin dem Liedelebtundwebtundhliiht Einwunderschones,zartesMagdelein, Horstdu, wie mirim KopfdasMarchenklinget? UndwiedasLiedchensummeternstundschaurig? Undwie dasMagdleinkichert,leise, leise?2 1 LIEDER1MLIED Heines dichterisches Konnen wuchs sehr schnell iiber diese unreifen Anfange hinaus, aber der von uns vermerkte Wesens zug blieb bestehen und entwickelte sich weiter. Dem Lied, so sehen wir stets von neuem, wandte sich sein Sinnen und Trach ten zu, wann immer er ans Schreiben dachte. An der Idee, am Thema des Lieds entziindete sich seine Dichtung nicht minder als am Thema der Liebe, mit der er es in Gedanken oft, aber nicht immer, verband.Wenn man erst einmal beginnt sich um zuschauen, findet man iiberall Anzeichen dafiir. So erweist sich auch das wohlbekannte Lied in »Neuer Friihling« vom alten Konig, der jungen Frau und dem Pagen als ein Lied vom Lied undnichtals einfachesLied: Eswarein alterKonig, Sein Herzwarschwer, seinHauptwargrau; Derarmealte Konig, Ernahmeine junge Frau. Eswarein schoner Page, BlondwarseinHaupt,leicht warseinSinn; Ertrugdieseidne Schleppe DerjungenKonigin, Kennstdu dasalteLiedchen? EsklingtsosiiB,esklingtsotriib! SiemuBtenbeide sterben, SiehattensichvielzuIieb," Auf diese Weise, indem sein Lied vom Lied handelt, erzielt Heine seine Wirkung. Wenn er in der letzten Strophe fragt: "Kennstdu das alteLiedchen?", sosindwirversucht,das "Lied chen" mit dem Gedicht, das wir lesen, gleichzusetzen, und es mag sein, daB er gerade das wollte, aber er bezaubert uns nicht dadurch, daf er die beiden gleichsetzt, sondern im Gegenteil dadurch, daB er sich die Freiheit erwirbt, die Einzelheiten der Geschichte zu vernachlassigen, er uberlaflt es uns, in die Ver gangenheit zuriickzugehen und sie aus ihr hervorzuholen. Jonas Frankel stellt in einer Anmerkung als Herausgeber die Frage, 2 LIEDER1M LIED ob Heine wohl an ein bestimmtes Lied gedacht habe", und Karl Hessel verweist auf Biirgers »Lenardo und Blandinee", Haben wir aber erst einmal Heines Idiosynkrasie erkannt, so ist es un notig, soleh eine Frage zu stellen. Es ist vielleicht weiser, nicht weiter nachzuforschen. Wertvoll ist lediglich zu erkennen, daB Heine keinen Vorganger brauchte; sein Geist schuf Lieder im LiedalseineArtdesDichtens. Wohl das vertrauteste Beispiel und fraglos eins der offen sichtlichsten ist das Gedicht "Leise zieht durch mein Gemiit" ausdemselbenZyklus: LeiseziehtdurchmeinGernut LiehlichesGeliiute. Klinge,kleinesFriihlingslied, KlinghinausinsWeite. Klinghinaushisan dasHaus, Wo dieBlumensprieBen. Wenndu eine Roseschaust, Sag,ichlaBsiegriiBen.6 Wieder sind wir, wenn wir Heines Gedicht lesen, versucht zu glauben, daB wir das ,Friihlingslied' vor uns haben und nur nach einigem Nachdenken erkennen wir, daB dem nicht so ist. Das Gedicht, das wir lesen, ist ein Gedicht tiber das ,Friihlings lied' oder vielmehr, es ist in diesem FaIle ans ,Friihlingslied' gerichtet. Das ,Friihlingslied', das wir niemals kennenlernen werden oder richtiger, das esniemals gegeben hat, wird als Lie besboteausgesandt, undHeines Lied gibt diesem Boten Anwei sungen. Das Gedicht eines unbekannten Verfassers »An einen Boten« im »W underhorn« mag Heine eine Anregung gegeben haben,abersobald man die beiden Gedichte nebeneinandersteIlt, siehtman, wie verschieden sie sind. Es ist ein Ding, einen Men schen auf eine Besorgung auszuschicken, und ein anderes, statt seinereinGedichtzu senden: Wenndu zumeim Schatzelkommst, Sag:ichliefsiegriiDen; 3 LIEDER1MLIED Wennsiefraget, wie mir'sgeht, Sag:auf heidenFiif3en. Wennsiefraget, ohichkrank, Sag: ichseigestorhen; Wennsiean zuweinenfangt, Sag:ichkame morgen.? Riner der Griinde, warum die »Lorelei« uns so anspricht, ist der, daB sie demselben Gesetz vorn Lied im Lied folgt. Brentano hatte gefragt: "Wer hat dies Lied gesungen?"8.Aber er fragte nursonebenbei und das Gedichtkann auch ohne diese Zeile be stehen. So mancher Dichter hatte das Gleiche getan, wenn er eine alte Geschichte nacherzahlte oder vorgab, es zu tun. Aber Heine geht weiter. Er beginntmit der Frage oder vielmehr mit der Stimmung, die der Frage zugrundeliegt. Das alte Lied oder die alte Mar - so empfand Heine es- war ihm eingefallen und stimmteihntraurig: IchweiBnicht, was solleshedeuten, DaBichsotraurighin; EinMarchenausaltenZeiten, DaskommtmirnichtausdemSinn. Er beriihrt die wichtigsten Punkte, fast so wie in "Es war ein alter Konig", und kehrt dann zur Anfangsstimmung zuriick, oder vielmehr, da er sie ja nie ganzlich verlassen hat, betont sie nunmehr und bekennt, daB er sich nicht genau erinnern kann. Nur so halb erinnert er sich, daB die Geschichte mit einem Un gliickendete: Ichglaube,dieWellenverschlingen AmEndeSchifferund Kahn;9 Das ganze Gedicht oder im wesentlichen das ganze Gedicht ist in dem Erinnerungsrahmen enthalten. Die beriihmte »Lorelei« ist ein Lied iiber ein Lied oder iiber das Thema eines Liedes, so wiedie anderen,die wirangefiihrthaben. Wenn iiberdies noch die Lorelei selbst ein Lied singt, umso 4