Bulletin 5/2004 »Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher« Hannah Arendt Antisemitismus und Antiamerikanismus in Deutschland Zentrum Demokratische Kultur Ernst Klett Schulbuchverlag Leipzig Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 Antisemitismus als Herausforderung für die Demokratie Anetta Kahane Zur Genese von Antisemitismus und Antiamerikanismus Moderner Antisemitismus in Deutschland 7 Entstehungsgeschichte, Motive und Strukturen Frank Gutermuth Antiamerikanismus in Deutschland 15 Historische und aktuelle Feindbildkonstruktionen Herbert Weber Islamistischer Antisemitismus 24 Claudia Dantschke Aspekte von Antisemitismus und Antiamerikanismus Entwicklungen des Antisemitismus in der BRD nach 1945 35 Horst Peter Gerlich © Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule e.V., Berlin, und Ernst Klett Schulbuchverlag Leipzig GmbH, Leipzig, 2004 Alle Rechte vorbehalten Internetadressen: http://www.raa-berlin.de, http://www.klett-verlag.de Herausgeber: Zentrum Demokratische Kultur in Kooperation mit der Amadeu Antonio Stiftung Bildauswahl und Bildunterschriften: Herbert Weber Redaktion: Susanna Harms, Heike Radvan, Simone Rafael, Timo Reinfrank (alle Amadeu Antonio Stiftung), Herbert Weber (Zentrum Demokratische Kultur) Layout und Satz: Design, Berlin Fotos und Abbildungen: version-foto, Weber, Dantschke, Meyer, Galerie Bilderwelt, Archiv ZDK, Sammlung Wolfgang Haney Titelbild: Handgemachtes Plakat in Berlin-Mitte, Sommer 2003, Foto Torsten Lange Druck: Gutmann + Co. GmbH, Talheim Buchbinderische Verarbeitung: IBB Industriebuchbinderei GmbH, Heilbronn (Neckargartach) ISBN: 3-12-060202- Die Broschüre entstand mit freundlicher Unterstützung und Förderung des Ernst Klett Schulbuchverlag Leipzig GmbH und der Freudenberg Stiftung Weinheim. 2 Inhalt Impressum Antisemitismus, Antizionismus und »verordneter Antifaschismus« in der DDR 39 Heike Radvan Antisemitismus im 21. Jahrhundert 44 Über die neuen (alten) Formen des deutschen Antisemitismus Timo Reinfrank undTobias Ebbrecht Chronik antisemitischer Vorfälle im Jahr 2003 52 Cordula Mäbert Aktueller Antisemitismus in Zahlen 52 Zur Verbreitung antisemitischer Straftaten und Einstellungen Susanna Harms Kulturelle Codes des Antisemitismus in der Jugendkultur 65 Interview mit Anke Zeuner und Ralf Fischer Simone Rafael Europa hat eine tolle Kultur, wir aber auch! 68 Interview mit Jeff Gedmin, Aspen Institute Berlin Simone Rafael undHerbert Weber Antiamerikanismus in der Linken und der »neuen Friedensbewegung« 71 Andrea Woeldike Funktionen des Antiamerikanismus in der rechtsextremen und neurechten Szene 77 Ralph Kummer Umgang mit Antisemitismus in der Bildungs- und Projektarbeit Antisemitismus als Thema der außerschulischen Bildungsarbeit?! 85 Interview mit Kirsten Döhring, Tanja Kinzel und Barbara Schäuble Susanna Harms undHeike Radvan Umgang mit Antisemitismus in Schule und Unterricht 92 Simone Rafael Große Politik im Klassenzimmer 95 Zur pädagogischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus unter Jugendlichen in multikulturellen Lerngruppen Sabine Diederich, Bernd Fechler undHolger Oppenhäuser Mit Shoah education gegen aktuellen Antisemitismus? 101 Interview mit Gottfried Kößler Susanna Harms Was tun gegen Antisemitismus in der Schule, im Sportverein oder in der Stadt? 103 »Projekte gegen Antisemitismus« – ein Modellprojekt der Amadeu Antonio Stiftung Ein Netzwerk für die Bildungsarbeit 107 Die Task Force: Education on anti-semitism beim American Jewish Committee Anhang Autorinnen und Autoren 109 Ausgewählte Literatur 110 Adressen 111 Inhalt 3 Vorwort ihn nicht auch anzuwenden. Wann immer Dinge kom- plex werden, wann immer sie mit Abstraktion, mit Rationalität, mit Modernisierung, mit Transforma- Antisemitismus als Herausfor- tion, Internationalität – oder wie man heute sagt – mit Globalisierung zu tun haben, taucht der Antisemi- derung für die Demokratie tismus irgendwann als Mittel der Abwehr auf. Anetta Kahane Er ist eine Theorie mit langer Tradition, sowohl in den christlichen als auch in den muslimisch geprägten Es gibt wohl im Moment kaum ein umstritteneres Gesellschaften, die schon lange vor der Existenz Thema als Antisemitismus und Antiamerikanismus. Israels bestand. Er ist die geniale Erfindung, um für Der Umgang damit ist von vielen Unsicherheiten be- alles Böse, Dunkle, Mächtige, Feige, Unsittliche, Raf- gleitet. Häufig auftauchende Fragen sind zum Bei- finierte, Diabolische und Undurchschaubare eine spiel: Was ist berechtigte Kritik an der Politik der USA Gruppe von Menschen zu haben, der das alles zuge- und Israels, was ist Antiamerikanismus oder gar Anti- schrieben werden kann – damit man selbst im Gegen- semitismus? Wo sind Überschneidungsmengen zwi- satz dazu als licht, hell, edel, gut, rein, heldenhaft und schen Antisemitismus und Antiamerikanismus? Wel- klar dastehen kann. Genial ist diese Phantasie im zyni- che Funktionen hat der Antiamerikanismus heute und schen Sinne deshalb zu nennen, weil sie keiner Erklä- in welchen Phänomenen zeigt er sich? Was bedeutet rungen bedarf; es war schon immer so, es hat sich es, wenn Menschen, die für Frieden demonstrieren, eingeschliffen, und die Bilder sind tief eingegraben in George W. Bush mit Hitler gleichsetzen oder wenn sie das kulturelle Gedächtnis vieler Generationen und mit der Kritik am Krieg im Irak Erinnerungen an das darin fest verwurzelt. Diese Bilder erfuhren zwischen eigene Leiden im Zweiten Weltkrieg verbinden, als die religiösen und säkularen Phasen gewisse Veränderun- Alliierten deutsche Städte bombardierten? Was heißt gen, Abwandlungen, Zuspitzungen und biologistische es, wenn vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrun- Schärfen, in deren Folge schließlich Auschwitz mög- gen grundsätzlich daran gezweifelt wird, dass Ameri- lich wurde. Doch mit dem singulären Ereignis des ka die Demokratie »exportieren« kann? In welcher industriellen Massenmordes trat keineswegs eine Rolle wollen sich die Deutschen in ihrer Abgrenzung grundsätzliche Kehrtwende ein. Es gibt ihn, den Anti- gegenüber den USA heute stattdessen in der Welt se- semitismus wegen Auschwitz und es gibt ihn auch in hen? Warum ist die Idee des Antiimperialismus gerade neuem Gewand, in dem er nun Israel, den Staat ge- jetzt so populär geworden? Welche Traditionen im wordenen Juden, zum Ziel der aggressiven Projek- Denken und Handeln drücken sich hier aus? tionen macht. Diese Denkfigur zieht sich auch durch den modernen Antisemitismus, der an einigen Stellen Im vorliegenden Bulletin sollen diese Fragen aufgegrif- deutliche Überschneidungen mit dem Antiamerika- fen werden. Mit Hintergrundinformationen über die nismus zeigt. Entstehungsgeschichte, die Theorie, die Wirkung und die Funktionen von Antisemitismus und Antiamerika- Das Problem beginnt oft schon mit dem Begriff des nismus wird deutlich gemacht, wie sich Kritik und Antisemitismus. Die ewige Definitionshuberei mit all Vorurteil voneinander unterscheiden. Das Heft ent- ihren vermeintlichen Einschränkungen stellt be- hält darüber hinaus einige Artikel, die sich mit aktuel- sonders heute ein Schlachtfeld dar, auf dem, anstatt len Formen des Antisemitismus und Antiamerika- sich der eindeutigen Bekämpfung des Antisemitismus nismus beschäftigen. Dort, wo sich Antisemitismus zu widmen, die Relativierung tobt. Wann immer sich und Antiamerikanismus jedoch zeigen, gibt es auch das Begriffskarussell koppelt an das Wort »Jude«, ist die dringende Notwendigkeit, dagegen etwas zu tun. es schon Teil des Problems. Denn es gibt keine reale Auch für Möglichkeiten der Intervention wird es in Grundlage für Antisemitismus. Das anzunehmen wäre diesem Heft Anregungen geben. antisemitisch, denn nichts, was Juden tun oder lassen, hat Einfluss auf antisemitische Einstellungen. Wenn Fangen wir doch mit einer Frage an: Was ist der also z. B. eine Definition anfängt mit dem Satz: »Ob- Unterschied zwischen einem Rad und dem Antisemi- wohl es nur so und so viel Juden gibt, ist der Antise- tismus? Die Antwort: Beide sind Erfindungen. Und - mitismus so und so«, oder wenn gesagt wird: »Antise- beide sind als solche genial und außerordentlich nütz- mitismus ist die Feinschaft gegenüber Jüdinnen und lich. Ihre Formen sind so vielfältig wie der jeweilige Juden« – wird diese Verbindung hergestellt. Man kop- Fortschritt des gesellschaftlichen und technischen pelt das eine mit dem anderen, und die Denkfigur, der Vorankommens. Der Unterschied liegt allein in ihrem Jude sei selbst schuld, rollt bereits mit, egal wie gut zivilisatorischen Wert. Wenn jemand dringend nach das darauf Folgende gemeint wird. Denn eines steht der Lösung eines Problems sucht, sagt man oft, er sol- fest: Die Erfindung existiert vollkommen unabhängig le doch nicht versuchen, das Rad neu zu erfinden und davon, ob es Juden gibt oder nicht, sie ist kein Pro- meint damit, dass es für viele gesuchte Funktionen blem der Juden, sondern derer, die Antisemitismus längst eine auf der Hand liegende Lösung gibt. Das produzieren. Es ist wichtig, hier klar zu unterschei- gilt auch für gesellschaftliche Probleme: Gäbe es den den: Zwar trifft Antisemitismus die Juden, sie sind das Antisemitismus nicht, man müsste ihn erfinden. Aber Ziel, doch nicht sie sind die Ursache dafür, nicht sie es gibt ihn und somit keinen nennenswerten Grund, sind dafür verantwortlich. Und ebenso wenig ist es 4 Vorwort Sache der Juden, den Antisemitismus zu messen, dafür den Welt können auch politische Konzepte oder Staa- quasi öffentlich als Zeugen gerade zu stehen. Wann ten mit Antisemitismus in Verbindung gebracht wer- immer jemand lieber den Vorsitzenden des Zentralrats den. Israel und die USA eigenen sich beispielsweise der Juden zitiert, als selbst zum Antisemitismus Stel- hervorragend für die Verkörperung von Verschwör- lung zu nehmen und sich so offen und klar zu soli- ung und Macht und Geld. Schon in der sozialistischen darisieren, reiht er sich dadurch in diese problemati- Tradition hatte dieses Bild einen festen Platz. Sowohl sche Tradition ein. Die jüdischen Organisationen als in der linken Bewegung als auch im real existierenden Teil der Zivilgesellschaft sollen selbstverständlich ihre Sozialismus wurde diese Idee immer gepflegt und Stimme erheben, doch die Frage ist, inwieweit die Ge- durchaus weiterentwickelt. So nannte man abfällig sellschaft diese Themen mit gleicher Selbstverständ- auch »Kosmopolitismus« oder »Zionismus«, was lichkeit aufgreift und eben nicht zulässt, dass es die jü- schlussendlich weitere Synonyme für Antisemitismus dischen Repräsentanten oder Einzelpersonen allein waren. sind, die sich zum Thema äußern. Mit dem komplizierteren Verhältnis der Menschen zu- einander durch die Einführung des Geldes und der Antisemitismus, ob als individuelle oder gesellschaftli- Geldwirtschaft stieg auch der Gebrauchswert des che Realität, ist vor allem eines: Er ist Gewalt. Physi- Antisemitismus. Besonders in Ideologien, in denen es sche und psychische Gewalt, Gewalt durch Worte, nur gute und nur schlechte Subjekte gibt, nistet sich durch Gesten, durch noch viel subtilere Dinge wie leicht auch Antisemitisches ein – vor allem, wenn die- Interpretationen, indirekte Aggressionen und Andeu- se Ideologien nach Symbolen für »das Geld« suchen. tungen. Er ist kein schlichtes Vorurteil, das mehr oder Die »Wall Street« ist so ein Symbol, oder auch Begrif- weniger leicht auszuräumen ist, sondern ein komple- fe wie »raffendes Kapital«. Heute kommt – auch in xes und verzweigtes Denkmodell, dessen Wurzeln in der Tradition des Schwarz-Weiß-Denkens im Sozia- alle Gesellschaftsschichten reichen und viele Lebens- lismus – zudem wieder der Begriff des Imperialismus bereiche mit der immer gleichen Nahrung versorgen. zum Zuge. Während er früher nur in linken Kreisen Er ist eben eine Gesellschaftstheorie oder, betrachtet zu hören war, hält er nun Einzug in die Medien und man ihn auf der individuellen Ebene, eine Psychopa- die Alltagssprache. Er wird auf die USA und Israel an- thologie. Der Antisemitismus, so sagte Theodor Ador- gewandt und ist längst kein Begriff der politischen no, ist das Gerücht über die Juden. Gerüchte aus der oder historischen Wissenschaft mehr, sondern ein Welt zu schaffen, das weiß jeder aus persönlicher Er- emotionaler Ausdruck von Urteilen und Ängsten, in- fahrung, ist eine schwierige Sache. Wenn ein Gerücht dem diejenigen, die ihn so benutzen, sich beherrscht, zu einer Stimmung anschwillt, dann wird es gefähr- dominiert und von dunklen Verschwörungen umzin- lich. Es kann anschwellen zu einem Wahn, der alles in gelt fühlen. Gut und Böse teilt, einem topologischen Wahn. Wer sich beispielsweise einem schwarzen Deutschen gegen- Unter dem Banner des Antizionismus und Antiimpe- über aufgrund seiner Hautfarbe aggressiv oder herab- rialismus können Allianzen entstehen, von denen man lassend verhält, ist ein Rassist; denn er tut gleiches vor Jahren nicht zu träumen wagte: Rechtsextreme nicht bei einem Weißen. Er beleidigt sein Gegenüber, benutzen solche Slogans schon lange, ein Teil der weil er unterstellt, dass die Hautfarbe den Menschen Linken sowieso, dazu kommen nun Islamisten, Glo- definieren kann – in diesem Fall, weil er meint, dass balisierungskritiker und Friedensbewegte aus allen Weiße mehr wert wären als Schwarze. Es ist die Haut- Schichten, die auch offene Formen von Antisemi- farbe, auf das sich dieses Vorurteil bezieht, etwas tismus in ihren Reihen als eine Art Nebenwiderspruch Sichtbares also. Bei Juden aber beruhen die Ressenti- durchaus in Kauf nehmen. Wer Zweifel äußert ob der ments auf etwas Unsichtbarem, das sich auf unter- plötzlichen Anschlussfähigkeit zwischen beispiels- stellte Eigenschaften bezieht und deshalb so gewalttä- weise Rechtsextremen und linken Gruppen, oder wer tig, gefährlich, verletzend und unberechenbar ist. Da nach der Verhältnismäßigkeit der Israelkritik fragt, der Antisemitismus von Anbeginn mit dem Konspira- dem wird entschlossen entgegengehalten, dass man tiven und Dunklen handelt, ist er selbst konspirativ doch wohl Israel und die USA kritisieren dürfe, ohne und dunkel: Er braucht nur Vermutungen, Indirektes, gleich als antisemitisch und antiamerikanisch ge- heimliche Annahmen, Stimmungen, Gefühle und As- brandmarkt zu werden. Dabei hat bisher noch nie je- soziationen. Reagiert aber jemand auf diese Form der mand verboten, die Politik anderer Staaten zu kritisie- Gewalt, wie einst Ignatz Bubis bei der Rede von Mar- ren, und so enthält die Entgegnung selbst bereits ein tin Walser, kann derjenige jederzeit ausgelacht, bemit- antisemitisches Klischee: nämlich, dass jemand tat- leidet und damit wieder zum eigentlichen Problem er- sächlich einen Druck oder eine Macht ausüben kann, klärt werden. Doch tritt der Antisemitismus offen und um solche Kritik mit Vorwürfen zu unterbinden. Wer brutal zutage, dann gibt es oft eine heuchlerische Ver- das sein kann, wird gern mit dem Begriff der »ameri- wunderung darüber, woher das wohl plötzlich kommt kanischen Ostküste« beschrieben, oder es sind die von und, wenn man es nicht mehr herunterspielen kann, ihr »gesteuerten« Medien oder »jüdische Organisatio- die These des Einzelfalls. nen«. Die Objekte des Antisemitismus können auch ab- Die Unsicherheit vieler Menschen ist groß, sich bei strakter sein und sich scheinbar gar nicht so direkt auf großen politischen Themen wie Irak, Nahost, Terro- Juden beziehen. In Zeiten einer immer kleiner werden- rismus, Islamismus und den damit verbundenen Kon- Vorwort 5 flikten zu orientieren. Gerade deshalb besteht die Ge- des Holocaust, eliminatorischer Hass auf Juden durch fahr, bei der Einschätzung der Situation auf eigene islamistische Gruppierungen, Stereotype über Juden oder vertraute Denk- und Weltbilder zurückzugreifen, und deren vermutete Macht oder eine vollkommen die mit der wirklichen Situation, der Realität, meist unangemessene Fixierung auf Israel als größte Gefahr wenig zu tun haben. Die Frage beispielsweise, ob sol- für den Weltfrieden – dies alles stellt eine Bedrohung che Kritik an Israel antisemitisch sei, lässt sich, un- dar, die nicht nur Juden betrifft. Wenn die entstehen- abhängig von der darin enthaltenen Unterstellung, re- de, wahnhafte Gefährlichkeit angeheizt wird, weil lativ leicht beantworten. Im Spannungsfeld der schwie- sich Probleme nicht einfach lösen lassen, wenn die rigen Situation und Lage Israels mitten in einer Probleme stattdessen an etwas anderem abreagiert Region autokratisch geführter und meist heftig anti- werden sollen, dann kann es zu Pogrom und Vernich- semitisch agierender Länder muss Israel zwischen tung kommen. Doch die historische Erfahrung sagt, demokratischen Standards und Sicherheitsinteressen dass einmal in Schwung gekommen, das Rad viel wei- eingezwängt handeln. In diesem Spannungsfeld soll es ter rollt. Besonders der muslimische Antisemitismus Kritik und Selbstkritik geben. richtet seinen Hass auf die Ideale der Französischen Das Dilemma scheint im Moment darin zu liegen, Revolution – unabhängig vom Verhalten und der dass Israel ohne eine rechte Regierung kaum Chancen Existenz Israels. Der Antisemitismus, ob nun aus der zum Überleben hat, mit dieser Regierung aber auch muslimischen oder christlichen Tradition, richtet sich nicht. Dies zu sehen und zu beschreiben ist nicht de- immer gegen die Werte der Gleichheit vor dem Recht, struktiv. Antisemitisch hingegen sind Urteile, die von Liberalität, Aufklärung, Emanzipation und Freiheit. keinerlei Interesse an der Situation der Menschen zeu- Deshalb bedeutet der Kampf gegen den Antisemi- gen, sondern nur einseitigen Hass vermitteln und tismus die Grundwerte der Demokratie zu verteidi- dabei mit antisemitischen Stereotypen operieren. Das gen. betrifft, und das gilt natürlich ebenso für Antiameri- Hannah Arendt sagte einmal voll ironischem Pessi- kanismus, alle Vergleiche mit Nazis, KZ, Hitler, Ver- mismus: »Vor Antisemitismus ist man nur noch auf nichtungskrieg, mit Holocaust, also mit allem, was dem Mond sicher«. Die Gefährdung der demokrati- die Verbrechen des NS relativiert und nun den Juden schen Kultur durch das Gift von Antisemitismus und ähnliches zuschreiben will. Antisemitisch ist es auch, Antiamerikanismus fordert eine genaue Auseinander- direkt oder indirekt das Existenzrecht Israels zu be- setzung mit diesen Themen heraus. Gerade weil sie streiten. Die Forderung, anstelle einer möglichen heute so heikel sind. Zweistaatlichkeit solle es einen einzigen palästinensi- schen Staat geben, in dem die israelischen Juden sich Bisher gibt es kaum Konzepte, wie man wirkungsvoll unterzuordnen oder freundlicher gesagt zu integrieren Antisemitismus und Antiamerikanismus bekämpft. Ge- hätten, gehört ebenso dazu wie die Forderung, die Ju- rade in Deutschland sollte man annehmen, dass Ent- den sollten doch Israel aufgeben und nach Europa zu- wicklungsarbeit zu diesen Themen geleistet worden rückkehren. Sondergesetze für Juden, ihre Jahrhun- sei. Doch die politische Bildung hat sich mit der Ver- derte währende Ausgrenzung, haben auch in Bezug gangenheit auseinander gesetzt, wo es um Fragen des auf Israel Spuren hinterlassen. Wird hier mit doppel- Antisemitismus ging. Das ist keinesfalls das Gleiche. tem Maßstab gemessen, also Israel z.B. in der Frage Erst seit wenigen Jahren versucht die Bildungsarbeit, der Einhaltung der Menschenrechte vollkommen an- sich auch mit aktuellen Formen des Antisemitismus deren Kriterien unterworfen, als dies bei anderen auseinander zu setzen. Ein neuer, weiter gehender Staaten der Fall ist, und das ständig und immerzu, so Anfang ist in einem Projekt des Bundesprogramms Ci- ist das antisemitisch. Und schließlich ist es antisemi- vitas gemacht. Hier werden innovative Formen ent- tisch, wenn Juden irgendwo in der Welt mit Israel wickelt, die sich nicht nur auf einen einzigen Lebens- gleichgesetzt werden, wenn man sie verantwortlich bereich beziehen, die also komplexer in den Kommu- macht, sie zur Rede stellt, sie angreift mit dem Ver- nen wirken sollen und die nicht allein auf Bildung weis auf Israels Politik. Immer häufiger geschieht setzen. Die Amadeu Antonio Stiftung vermittelt hier genau das. Damit sind die Juden längst nicht mehr, ihre Erfahrungen, die sie bei der Bekämpfung von wie immer angestrebt, normale Bürger ihrer Länder, Rechtsextremismus sammeln konnte, führt Praxis- sie werden durch die Identifikation mit Israel zu ergebnisse verschiedener engagierter Projekte zusam- »Fremdkörpern«, also emotional ausgebürgert. Paart men und entwickelt mit allen Beteiligten gemeinsam sich solches Agieren mit dem Bestreiten des Existenz- neue Ansätze. Allen, die sich an dieser wichtigen, rechts Israels, wird so gleichzeitig das Existenzrecht schwierigen und sehr innovativen Arbeit mit ihren Ar- des Judentums mit bestritten. Es ist eine Rückkehr zu tikeln, ihren Projekten und ihren Ideen beteiligen, sei den klassischen Formen des primären Antisemitismus, an dieser Stelle gedankt, insbesondere den KollegIn- der Juden direkt als solche identifiziert, aussondert nen der Task Force des American Jewish Committee und angreift, unabhängig von ihrer persönlichen Hal- und des DGB Bildungswerks Thüringen. Manchmal tung zu außenpolitischen Fragen. braucht man auch dafür das Rad nicht neu zu erfin- den. Das Wissen und die Erfahrung aller an diesem Antisemitismus ist kein Nebenwiderspruch. Wer ihn Heft Beteiligten werden helfen, ein wirkungsvolles in seinen verschiedenen Formen und Ausprägungen Transportmittel guter, nützlicher und hilfreicher Pra- duldet, nimmt sein Fortbestehen in Kauf. Ob nun Ver- xis gegen den Antisemitismus, die neue totalitäreHer- schwörungstheorien, rechtsextreme Relativierungen ausforderung der Gegenwart zu machen. 6 Vorwort Zur Genese von Anti- Arbeit und ihrem Alltag dem historischen und aktuel- len Antisemitismus stellen wollen. Dafür ist eine Aus- semitismus und einandersetzung mit deutscher Vergangenheit unab- dingbar. Antiamerikanismus Traditionelle Judenfeindschaft Moderner Antisemitismus in Bereits in den ersten drei Jahrhunderten entstand im Deutschland Christentum die Ideologie des Antijudaismus. Bezug nehmend auf die Schriften der Apostel fungierte in der christlichen Theologie das Judentum frühzeitig als Entstehungsgeschichte,Motive und Antithese zum christlichen Selbstbild. Der Historiker Strukturen Christhard Hoffmann zeigt dabei die besonders wir- kungsmächtige Tatsache auf, »dass das Christentum Frank Gutermuth viele dogmatische Grundanschauungen im Hinblick auf und in polemischer Abgrenzung zum Judentum Aufklärung über Antisemitismus setzt eine grundsätz- bestimmte« und der Antijudaismus damit »zu einem liche Verständigung darüber voraus, was unter dem essentiellen Bestandteil des christlichen Selbstver- Begriff Antisemitismus zu verstehen ist. Die histori- ständnisses« wurde.(1) Eingebettet in einen dualen sche Entwicklung des modernen Antisemitismus muss Schematismus, der nur zwischen »gut« und »böse« dabei ebenso berücksichtigt werden wie die Analyse unterscheidet, wurde das Judentum grundlegend mit der zentralen Inhalte, Motive und Grundstrukturen dem »Bösen« gleichgesetzt: Paradigmatisch stand es dieser Ideologie. für »Sünde«, »Ketzerei« und »Abfall«, »Verderben« Der Begriff Antisemitismus wurde 1879 in Deutsch- und »Heilsverlust« – alles, wovon ein Christ sich be- land durch den judenfeindlichen Journalisten Wilhelm droht fühlen musste. Für die Erklärung kirchlicher Marr geprägt. Er bezeichnet einen Welterklärungsver- Missstände wurde fortan auch »das Judentum« ver- such, der nichts mit realen Juden und Jüdinnen zu tun antwortlich gemacht. In der Reformation wird dies hat, sondern sich allein auf eine Konstruktion dessen am deutlichsten: Für Luther hatten »die Juden« die bezieht, wer oder was »der Jude« sein soll – eine Kon- Funktion, »die Einbruchstelle des Teufels in die zeitge- struktion, die sich im historischen Kontext verändert. nössische Kirche«(2)kenntlich zu machen – sie wurden Im Folgenden soll in einem ideengeschichtlichen Ab- als Werkzeug des Teufels gesehen. Entsprechend wird riss gezeigt werden, wie in Deutschland an Stereotype in den schriftlichen Quellen des Christentums, in den und Zuschreibungen der traditionellen christlichen Evangelien und in den Werken der Kirchenväter der Judenfeindschaft angeknüpft wurde und wie mit der Ort der Synagoge »in der Regel negativ bewertet und Entstehung moderner bürgerlich-kapitalistischer Na- als Ort das Satans, des Teuflischen geschildert«.(3) tionalstaaten zunehmend »die Juden« für alle als ne- Der theologische Konflikt zwischen den beiden Reli- gativ empfundenen Erscheinungen verantwortlich ge- gionen fußt auf der Frage, ob Jesus der Messias, also macht, als »Hort alles Bösen« phantasiert wurden. Mit dem Antisemitismus hatten Gegner der bürger- lichen Gleichstellung und Emanzipation der europäi- schen Juden einen politischen Kampfbegriff für die antijüdische Bewegung gefunden, der der zeitgenössi- schen antisemitischen Welle in Mitteleuropa einen programmatischen, ideologischen und »wissenschaft- lichen« Anstrich geben sollte. Dieser Artikel beschränkt sich auf Antisemitismus in Deutschland; denn zum einen war in keinem anderen Land der Antisemitismus so vehement in alle Lebens- bereiche eingedrungen. Deutschland, das »Land der Dichter und Denker«, und kein anderes Land hat, in Auschwitz kulminierend, den industrialisierten Mas- senmord an den europäischen Juden und Jüdinnen hervorgebracht – »es geschah in Deutschland«, so der Schriftsteller Jean Améry. Den Voraussetzungen dieser Der Ritualmord-Mythos wurde auch noch 1900 auf unbestreitbaren historischen Tatsache ist nachzuge- Postkarten behauptet. Hier soll ein jüdischer Metzger hen, wobei von monokausalen Erklärungsansätzen einen deutschen Studenten zu rituellen Zwecken ge- ebenso Abstand zu nehmen ist wie von einem Begrei- schächtet haben. fen der Geschichte als Kontinuum ohne Brüche. Zum Quelle: Gold, Helmut/Heuberger, Georg; Abgestem- anderen richtet sich dieser Beitrag an PädagogInnen pelt – judenfeindliche Postkarten, Frankfurt/Main und DemokratInnen in Deutschland, die sich in ihrer 1999, Seite 163 Zur Genese von Antisemitismus und Antiamerikanismus 7 der Erlöser und Sohn Gottes, war. Die christliche Kir- che schrieb »den Juden« die Schuld an der Ermordung Jesu zu. Im Christentum galt diese Kollektivschuld nicht nur für die zur Zeit der Kreuzigung lebenden Ju- den, sondern auch für alle Nachkommen. Darüber wurde das Bild des »Juden« als Verkörperung des »Bösen« in weiten Teilen der Bevölkerung tradiert. Sie galten als mit dämonischen Fähigkeiten ausgestatte Planer und Träger von Leid und Katastrophen.(4)Diese Sicht verband sich ab dem 12. Jahrhundert mit weite- ren antijüdischen Mythen wie der des »Ritualmor- des«, des »Brunnenvergiftens« und des »Wucherers« und ging als Bestandteil in den kulturellen Hinter- grund der deutschen Gesellschaft ein. Neujahrskarte aus der Sammlung Haney mit dem ty- Die Ritualmordbeschuldigungen warfen Juden vor, pischen Klischeebild des wuchernden Juden. christliche Kinder zu rauben oder zu kaufen, um sie zu Quelle: Gold, Helmut/Heuberger, Georg; Seite 141 quälen und schließlich zu ermorden. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts kam das Motiv der Blutentnahme hinzu. Das christliche Blut sollte in der Einbildung der wurde, er lasse sich von den Juden »schinden und aus- Anklagenden verschiedenen religiösen und magisch- saugen« und zu Bettlern machen. Luther verdammt medizinischen Zwecken dienen. Somit konnten Mor- den »diebischen Geist« der Juden und ihren ange- de oder unaufgeklärte Selbsttötungen zu einem jüdi- blichen Willen, die Städte und das Land »auszuwu- schen Religionsverbrechen stilisiert und zur antisemi- chern«, zu ruinieren. tischen Agitation genützt werden. Der Vorwurf des Brunnenvergiftens erreichte seinen Mit dem Einsetzen der Kreuzzüge Ende des 11. Jahr- Höhepunkt, als die Pest 1348 über Europa herein- hunderts änderte sich auch die Situation der jüdischen brach, in deren Folge etwa 25 Millionen Menschen Bevölkerung in den deutschen Gebieten drastisch: starben. Der Graf von Savoyen ließ in der Nähe von Zum zu bekämpfenden Feind stilisiert, kam es zu anti- Genf Juden so lange foltern, bis sie gestanden, Brun- jüdischen Pogromen – bei Überfällen der Kreuzfahrer nen vergiftet und damit die Pest verursacht zu haben. wurden tausende Juden umgebracht – und zur sozia- Schnell sprach sich dies auch in Deutschland herum: len Ausgrenzung, die alle Lebensbereiche umfasste. In über zweihundert Dörfern und Städten wurden Die jüdische Bevölkerung wurde auf einen minderen gläubige, aber auch zum Christentum übergetretene rechtlichen Status herabgedrückt, lebte räumlich ab- Juden als »Schuldige« für die Pest verbrannt. Der geschieden, war aus den meisten Berufen verdrängt Glaube an diese Erklärung war derart verinnerlicht, und somit umfassend aus der christlich definierten dass auch in den folgenden Jahrhunderten beim Aus- Gesellschaft ausgeschlossen.(5) Bis im 19. Jahrhundert brechen neuer Krankheiten und Epidemien Juden so- sollten sich, territorial verschieden, Phasen rechtlicher fort dem Verdacht des Brunnenvergiftens ausgesetzt Gleichstellung und religiös begründeter Entrechtung wurden. der jüdischen Bevölkerung in unterschiedlichen Spiel- Das Stereotyp des »Wucherers« entstand vor dem arten mehrfach wiederholen.(6) Hintergrund, dass sich Geld als zentrales Medium zur Organisation des Warentausches ab dem 12. Jahrhun- dert immer mehr durchsetzte. Das Aufblühen des Völkische Bewegung in Deutschland Handels und der Städte sowie die Entstehung des kaufmännischen Berufs sind Indizien dieses Prozesses. Weltlicher Besitz war gemäß der christlichen Lehre Schon vor 1933 war der Nationalsozialismus zu einer abzulehnen, weshalb Geld zunehmend verteufelt und politischen Massenbewegung geworden. Die Wahlen als satanisches Gut verstanden wurde. Vor allem das von 1930 bis 1933 bescherten der NSDAP beträchtli- Unverständnis über den Zinsmechanismus, der aus che Erfolge – bei der Reichstagswahl 1932 votierten Geld ohne »ehrliche« Arbeit mehr Geld macht, wurde 13,8 Millionen und damit 37,4 Prozent der WählerIn- als Durchbrechung der göttlichen Ordnung interpre- nen für die nationalsozialistische Partei und machten tiert. Aus diesem Gebot des Christentums heraus war sie zur stärksten im Deutschen Reich. Geldhandel im Kontext der Berufsverbote – die Ausü- Die Frage ist, welche ideologischen Anknüpfungs- bung eines traditionellen Handwerks war ebenso we- punkte vorlagen, um eine solche Mobilisierung zu er- nig gestattet wie Landerwerb für landwirtschaftliche reichen; denn »keine noch so bedeutsame politische Zwecke – für Juden eines der wenigen verbliebenen Massenbewegung springt plötzlich und ohne jede Tra- Betätigungsfelder. Das führte zu dem Ergebnis, dass dition wie eine ›Venus aus der Muschel‹« (Georg L. abstrakte, nicht verstandene Vorgänge als »Wucher« Mosse). Der Historiker Mosse kommt daher zu fol- bezeichnet und mit »den Juden« identifiziert wurden. gendem Schluss: »Der Nationalsozialismus hätte nicht 1543 erschien Martin Luthers Pamphlet »Von den Ju- zünden können, wenn er sich nicht vertraute Mythen den und ihren Lügen«, in dem dem Adel vorgeworfen und Symbole dienstbar gemacht hätte.«(7)Diese waren 8 Zur Genese von Antisemitismus und Antiamerikanismus im traditionellen völkischen Gedankengut angelegt, dann die Lebenskraft des »Volkes«. In der Überbeto- dessen irrationale Weltanschauungen zunehmend nung der deutschen Landschaft findet sich das völki- vom politischen Rand ins Zentrum rückten. Voraus- sche Wunschdenken, »die Bedeutung der zunehmen- setzungen für diesen Prozess waren das Eindringen den industriellen und städtischen Werte des Jahrhun- völkischen Denkens in »so genannte ehrbare gesell- derts zu negieren und vor ihnen zu fliehen«(8) In der schaftliche Kreise« (Mosse) sowie historische Ereig- völkischen Literatur weit verbreitet ist z. B. das Sym- nisse, die diese Ideologie in Deutschland beförderten: bol des Baumes, tief verwurzelt im deutschen Heimat- eine als unzureichend empfundene nationale Einheit, boden, dessen weit in den Himmel ragende Krone die ein verlorener Krieg, Revolution und Gegenrevolu- Verbindung mit dem Universum herstellt. In diesem tion, Inflation und ökonomische Krise. Bild erscheint »der Jude« als Schlange, die sich um die Besonders zu berücksichtigen ist, dass sich der Wurzeln des Baumes windet, die Kronen zum Abwel- deutsch-völkische Nationalismus von Beginn an gegen ken bringt und somit die kosmische Verbindung des Juden richtete und den Judenhass zum zentralen Be- »deutschen Volkes« zerstört, aus der sich alle Lebens- standteil seiner Ideologie machte. Im Völkischen ma- kraft speist. Vor allem in Romanen, deren Auflagen in nifestierte sich die grundlegende Ablehnung der Mo- die Millionen gingen, wurden Juden immer häufiger derne mit allen ihren Erscheinungsformen: Industria- mit in diese Richtung gehenden negativen Stereotypen lisierung, Fortschritt, Verstädterung, Liberalismus dargestellt. Am bedeutsamsten ist hier »Der Büttner- und Rationalismus, Veränderung der politischen bauer« (1895) von Wilhelm von Polenz, der auch Herrschaft in Form von Parteien und Parlamenten, Adolf Hitler beeinflusste. In der Handlung des Ro- Naturwissenschaft und Vernunft. Die als negativ em- mans steht ein Jude für die moderne Industriegesell- pfundenen Auswirkungen der Moderne wurden von schaft, welche den Bauern entwurzelt, sein Land raubt völkischen Theoretikern frühzeitig »den Juden« zuge- und seinen Tod verschuldet. Der reinste Teil des schrieben, die als vermeintliche Verursacher dieser »deutschen Volkes« wurde zerstört, »der Jude« wurde Entwicklungen ausgemacht wurden. Massenmord zum Feind des Bauern und damit zur Unglücksursa- propagierten dabei die wenigsten offen; gemeinsam che des »deutschen Volkes« verklärt. war jedoch fast allen das Ziel eines »judenfreien Deutschlands«. Diese – gegen Juden gerichtete – völkische Denkform des »Deutsch-Seins« paarte sich in Deutschland zu Der völkische Nationenbegriff definierte sich in strik- Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer »militanten ter Abgrenzung zur französischen Nationenidee: Das Germanomanie« (Thomas Haury). Der Sozialhistori- Selbstverständnis der französischen Revolution von ker León Poliakov konstatiert, dass »der Kult der ger- 1789 zielte auf die Aufhebung einer Gesellschaft, in manischen Rasse (...) eine Erscheinung (ist), die in an- welcher der Status des Individuums über Herkunft, deren Ländern keine Entsprechung hat. Unter den Stand und Familie festgeschrieben wurde. Vielmehr verschiedenen Arten des europäischen Nationalismus sollten alle unter der Nation zusammengefassten Indi- (...) nimmt keine diese von der Biologie bestimmte viduen Zugang zu allen gesellschaftlichen Bereichen Form an.«(9)Die völkischen Theoretiker betrieben Ge- erhalten können. Die deutsch-völkische Nationalbe- schichtsmetaphysik, die die gesamte Bandbreite ger- wegung hingegen, in der die Vorstellung eines sich or- manischer Mystik und Legenden zu nutzen wusste ganisch entwickelnden »deutschen Volkes« eine zen- und große Wirkung entfaltete. Im völkischen Denken trale Rolle einnahm, war maßgeblich von der Roman- stand Geschichte für einen ständigen Kampf, in dem tik und Neuromantik beeinflusst. Geschaffen werden sich das »Volk« als historische Einheit aus der Ver- sollte ein völkischer Staat in Form einer naturhaften gangenheit bis zur heutigen Form entwickelt hatte. Aristokratie, der sich aus Adel und Bauern zu- Die Kraft für diesen Kampf bezog das »Volk« gemäß sammensetzt. Die Vollkommenheit der deutschen diesem Mythos aus der Reinheit der »Rasse«. Wichti- »Rasse« wurde gleichgesetzt mit der Vollkommenheit ge Verfechter dieses völkischen Kultes waren der der Bauern, womit der Bauernstand zur Grundlage ei- Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der Schriftsteller ner völkischen Nation gemacht wurde. Ernst Moritz Arndt und »Turnvater« Friedrich Lud- Tragende Säule dieses Konzepts war die Bezugnahme wig Jahn. Arndt beispielsweise forderte, Juden von auf deutsche Natur und Tradition, die – positiv über- Deutschland fernzuhalten, damit sich der »germani- höht – als Gegenpol zu den durch die Moderne be- sche Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Be- dingten gesellschaftlichen Transformationsprozessen standteilen rein«(10)erhalte. gesetzt wurden. Idealisert wurden die deutsche – Damit war der Grundstein für einen rassisch begrün- durch die Industrialisierung bedrohte – Bauernschaft deten Antisemitismus gelegt, der das Konstrukt des und die deutsche Landschaft, was sich auch in dem »Juden« und seine Funktion des »Anti-Volkes« fest- Begriff der »Verwurzelung« niederschlägt: Es gebe, so schrieb. Als dessen Gegenbild und -mittel entstand zur die Behauptung, eine enge innere Verbindung zwi- Herstellung einer deutschen Identität »der Deutsche« schen dem Einzelnen, dem »Heimatboden«, dem und in der Folge »der Arier«. Dadurch, dass »man »Volk« und dem Universum. Natur besitzt im völki- hier den deutschen Typus des subjektiv nicht antisemi- schen Denken eine Seele, die in Übereinstimmung mit tischen Patrioten in Erscheinung treten (sieht), der den der menschlichen gebracht werden muss. Diese innere Juden aber deshalb feindselig gesinnt ist, weil er sich Übereinstimmung kann der Einzelne mit dem »Volk« zum Mythos der Rasse bekennt«(11), steht bereits zu- teilen. Aus dieser kosmischen Verbindung entspringt mindest die Möglichkeit einer gewaltsamen »Lösung Zur Genese von Antisemitismus und Antiamerikanismus 9 Verbindungen in Deutschland und Österreich als »ju- denrein«, und 1921 hatten fast alle Burschenschaften den »Arierparagraphen«(13) in ihren Satzungen einge- führt, um jüdischen Studierenden endgültig den Zu- gang zu verwehren. Der Philosoph Herbert Marcuse urteilte 1941 rückblickend: »Dort (in den Program- men der Burschenschaften, d. Verf.) wurde viel von Freiheit und Gleichheit gesprochen, aber es war eine Freiheit, die das althergebrachte Vorrecht einzig der germanischen Rasse sein sollte. (…) Franzosenhass ging mit dem Hass gegenüber Juden, Katholiken und ›Adeligen‹ einher.«(14) Selbst die Minderheit liberaler Studenten, die bei allzu offenem antisemitischem Agieren zur Mäßigung rief, hielt am rassischen Unter- schied zwischen Deutschen und Juden fest. Analog verhält es sich mit der Professorenschaft, für die der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke beispielhaft steht. Sich der germanischen Tugendhaf- tigkeit verpflichtet fühlend, griff Treitschke 1879 die »Judenfrage« als »nationales Problem der Deutschen« (Christhard Hoffmann) auf. Er kam zu der Schlussfol- gerung, dass, wenn die jüdische Assimilation misslin- ge, eine deutsch-jüdische Mischkultur entstünde, die die Reinheit des tausendjährigen germanischen Erbes zerstöre. Darüber hinaus drehte er die jüdische Lei- dens- und Verfolgungsgeschichte um und verstieg sich Mit großen Nasen und Ohren gezeichnete Stereotype zu der Losung »Die Juden sind unser Unglück«. Libe- »der Juden« tummeln sich als Läuse in Germanias rale wie der Historiker Theodor Mommsen – er ver- Haar (aus der Münchner Zeitschrift Grobian, 1907). trat einen »gemäßigten« Antisemitismus – intervenier- Dies zeigt nicht nur die Entmenschlichung von Juden ten zwar, blieben jedoch in der Minderheit. Im ausge- und die antisemitische Schädlingsmetapher, die den henden 19. Jahrhundert wurden schätzungsweise Wunsch nach einer »judenreinen« deutschen Gesell- rund 1200 meist offen antisemitische Schriften veröf- schaft impliziert, sondern hier offenbart sich auch ei- fentlicht, die sich mit der »Judenfrage« befassten.(15) ne sexuelle Anspielung, die Juden ein triebhaftes Be- Zurückgewiesen werden sollte die Emanzipation der dürfnis nachsagt, blonde arische Frauen zu schänden. deutschen Juden, deren bürgerlich-rechtliche Gleich- Quelle: Gold, Helmut/Heuberger, Georg; Seite 56 stellung. Mit dem Einzug völkischen Denkens in die Literatur, die in enormen Auflagen Verbreitung fand(16), verall- gemeinerte sich dieses Denken auch in gebildeten der Judenfrage« im Raum. Zunehmend wurden Juden Kreisen. Mosse kommt zu dem Schluss, dass es »das in der völkischen Literatur als Parasiten, Bazillen etc. bezeichnet und ihnen damit der menschliche Status abgesprochen. Auf fruchtbaren Boden fiel diese Ideologie im mittel- ständischen Bürgertum, den Einzelhändlern, Klein- unternehmern und Handwerkern sowie den Landbe- sitzern. Diese Gruppen sahen durch die industrielle Revolution ihren bürgerlichen und sozialen Status be- droht. Sie trieb eine Sehnsucht nach vormodernen Zeiten um, in denen ihr Besitzstand noch nicht durch die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gefährdet war. Als deren Urheber galten »die Juden«. Auch die von Friedrich Ludwig Jahn initiierte deut- sche Burschenschaft trug deutliche antisemitische Zü- ge. Im Statutenentwurf von 1815 heißt es unter §18 »Vaterland und Volk über alles: Über alles hoch muss Ein germanischer Recke treibt die Juden Richtung Pa- ihm (dem Burschen, d. Verf.) das Deutsche Vaterland lästina unter dem Slogan »Deutschland den Deut- gelten, und er muss deutsch sein in Wort, Werken und schen«. Postkarte von 1900. Leben.«(12) In der Konsequenz hatte dies zur Folge, Quelle: Gold, Helmut/Heuberger, Georg; Abgestem- dass Juden aus den Burschenschaften ausgeschlossen pelt – judenfeindliche Postkarten, Frankfurt/Main wurden. Bis 1890 bezeichneten sich alle studentischen 1999, Seite 150 10 Zur Genese von Antisemitismus und Antiamerikanismus
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