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Handbuch Philosophie und Armut PDF

410 Pages·2021·2.79 MB·German
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Gottfried Schweiger / Clemens Sedmak (Hg.) Handbuch Philosophie und Armut XHUB-Print-Workflow | 00_HB_Schweiger_Armut_05739_Titelei__{Druck-PDF} | 12.03.21 Gottfried Schweiger / Clemens Sedmak (Hg.) Handbuch Philosophie und Armut J. B. Metzler Verlag XHUB-Print-Workflow | 00_HB_Schweiger_Armut_05739_Titelei__{Druck-PDF} | 12.03.21 Die Herausgeber Gottfried Schweiger arbeitet seit 2011 am Zentrum für Ethik und Armutsforschung. Er forscht und lehrt hauptsächlich zu Fragen der (globalen) Armut, Gerechtigkeit und Philosophie der Kindheit.  Clemens Sedmak ist Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame (USA) und Gastprofessor an der Universität Salzburg, wo er das Zentrum für Ethik und Armutsforschung leitet. ISBN 978-3-476-05739-6 ISBN 978-3-476-05740-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05740-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheber- aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk rechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vor- sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Heraus- herigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für geber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikro- den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen elektronischen Systemen. und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeich- nungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk Umschlagabbildung: © Linjerry/Getty Images/iStock bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers Die Anschrift der Gesellschaft ist: sind zu beachten. Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Inhalt 1 E inleitung: Philosophie und Armut III A rmut in philosophischen Traditionen Gottfried Schweiger und Clemens Sedmak 1 19 Armut in der analytischen Philosophie Winfried Löffler 139 I Grundlagen und philo sophische Aspekte 20 Postkoloniale Theorie und Armut der Armutsforschung Stefan Skupien 146 21 Utilitarismus und Armut Lukas Tank 152 2 M onetäre Armut Karin Heitzmann und 22 Liberalismus und Armut Amelie Stuart 159 Stefan Angel 13 23 Libertarismus und Armut 3 F ähigkeiten und Armut Gunter Graf 20 Ulrich Steinvorth 166 4 B edürfnisse und Armut Alessandro Pinzani 27 24 Feministische Philosophie und Armut 5 S oziale Exklusion Helmut P. Gaisbauer 34 Brigitte Buchhammer 173 6 G lobale Armut Matthias Hoesch 41 25 Armut und afrikanische Philosophie 7 A rmutsforschung und Armutsbekämpfung Anke Graneß 180 Thomas Böhler 49 26 Armut und chinesische Philosophie 8 E rkenntnis- und Wissenschaftstheorie der Philippe Brunozzi 190 Armutsforschung Clemes Sedmak 56 27 Christliche Ethik und Armut Elke Mack 9 E thik in der Armutsforschung und Andreas Rauhut 197 Daniela Kloss 62 IV E thische Grundbegriffe und Armut II A rmut in der Geschichte der Philosophie 28 Verantwortung und Armut Valentin Beck 207 10 A rmut in der griechisch-römischen antiken 29 Pflichten und Armut Valentin Beck 214 Philosophie Anna Schriefl 71 30 Effektiver Altruismus und Armut Jonathan 11 Armut in der frühmittelalterlichen Erhardt und Dominic Roser 221 Philosophie Peter Schallenberg 78 31 Würde und Armut Sebastian Muders 229 12 Armut in der hochmittelalterlichen 32 Das gute Leben und Armut Michael Reder 237 Philosophie Christian Rode 86 33 Menschenbilder und Armut Michael Zichy 244 13 A rmut in der Philosophie der Neuzeit I 34 Vulnerabilität und Armut Hildegund Keul 251 (Rationalismus) Antonino Falduto 94 35 Anerkennung und Armut 14 A rmut in der Philosophie der Neuzeit II Gottfried Schweiger 258 (Empirismus) Eraldo Souza dos Santos 101 36 Autonomie und Armut 15 A rmut in der Philosophie der Neuzeit III Alessandro Pinzani 264 (französischsprachige Aufklärung) 37 Empowerment und Armut Jean-Christophe Merle 108 Rebecca Gutwald 270 16 Armut bei Hegel Ina Schildbach 115 38 Menschenrechte und Armut 17 Armut bei Kant Reza Mosayebi 121 Marie-Luisa Frick 276 18 Marxismus und Armut Christoph Henning 128 XXHHUUBB--PPrriinntt--WWoorrkkflflooww || 0000__HHBB__SScchhwweeiiggeerr__AArrmmuutt__0055773399__TTiitteelleeii____{{DDrruucckk--PPDDFF}} || 1122..0033..2211 VI Inhalt V Anwendungsfelder und Kontexte 47 D ie Sustainable Development Goals und Armut Elias Moser 340 39 Globale Gerechtigkeit und Armut 48 Klima und Armut Ivo Wallimann-Helmer 347 Henning Hahn 285 49 Migration und Armut Frodo Podschwadek 354 40 Soziale Gerechtigkeit und Armut 50 Recht und Armut Eva Maria Maier 363 Michael Hartlieb 291 51 Bildung und Armut Annekatrin Meißner 370 41 Wohlfahrtsstaat und Armut 52 Soziale Arbeit und Armut Sonja Hug 377 Jens Peter Brune 298 53 Geschlecht und Armut Claudia Paganini 385 42 Chancengleichheit und Armut 54 Unternehmensethik und Armut Marcel Twele 305 Jens Schnitker-v. Wedelstaedt 392 43 Intergenerationelle Gerechtigkeit und Armut 55 Kinderarmut Gottfried Schweiger 399 Jörg Tremmel 312 44 Strukturelle Ungerechtigkeit und Armut Tamara Jugov 320 Anhang 45 Kollektive Verantwortung und Armut Anne Schwenkenbecher 326 Autorinnen und Autoren 409 46 Entwicklungspolitik und Armut Sachregister 412 Thomas Kesselring 333 1 Einleitung: Philosophie und Armut cher Armutsbegriff verwendet wird oder werden soll- te und welche Vor- und Nachteile mit dieser Wahl Die philosophische Forschung zu Fragen der Armut verbunden sind. Die meisten philosophischen Arbei- hat seit den 1970er Jahren stark an Quantität und ten sind dahingehend an der begrifflichen und kon- Qualität gewonnen. Dieser Trend ist auch im deutsch- zeptionellen Arbeit, die hinter empirischen For- sprachigen Raum spürbar. Im Fokus der Beschäfti- schungen zur Armut steckt, nicht sehr interessiert, gung stehen dabei zumeist Fragen der Ethik und poli- sondern übernehmen schlicht Zahlen und Statisti- tischen Philosophie, etwa jene nach der individuellen, ken, etwa der Weltbank oder nationaler Behörden, als kollektiven oder institutionellen Verantwortung ge- Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Es macht jedoch genüber Menschen in (extremer) Armut oder die Fra- einen erheblichen Unterschied, wie Armut definiert ge, worin das moralische Übel der Armut besteht. Die und gemessen wird, da schon kleinere Verschiebun- Aktualität der Armutsfrage ist dabei sicherlich be- gen auf dieser Ebene dazu führen können, das Aus- dingt durch deren globales Ausmaß und die teils ver- maß der Armut, also die Anzahl der betroffenen Per- heerenden Folgen für die betroffenen Personen. Ar- sonen und die Tiefe ihrer Deprivation, zu reduzieren mut ist und bleibt ein Politikum aber auch in den ent- oder zu vergrößern. Eine Chance ist diese Offenheit wickelten Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland, Öster- des Armutsbegriffs für die Philosophie deshalb, weil reich oder der Schweiz und auch hier stellen sich eine diese es ihr erlaubt, ihr eigenes Rüstzeug der Begriffs- ganze Reihe ethisch-philosophischer Fragen. analyse und der kritischen Reflexion in diese Debatte Das Ziel des Handbuchs Philosophie und Armut ist einzubringen – zumal im Armutsbegriff selbst phi- es, die philosophische Forschung auf ihrem aktuellen losophisch interessante Fragen stecken. Stand und in ihrer inhaltlichen Breite und Tiefe ab- Armut ist ein beschreibender und wertender Begriff zubilden. Das Handbuch will dabei nicht nur die klas- (Schweiger 2012). Wer als arm bezeichnet wird, ver- sischen Fragestellungen (Gerechtigkeit, Pflichten, Ver- fügt über bestimmte soziale Eigenschaften, die durch antwortung etc.) behandeln, sondern auch jene auf- diese Bezeichnung selbst schon als schlecht oder als greifen, die bislang weniger intensiv diskutiert wurden. Übel ausgewiesen werden. Der Begriff der Armut zeigt Das betrifft etwa ethische Fragen der Armutsforschung also an, dass hier ein moralisches Problem vorliegt oder den Ort der Armut in der antiken und mittelalter- (Linke 2007). Natürlich teilen dann nicht alle Men- lichen Philosophie. Dennoch wird auch dieses Hand- schen die Einschätzung, dass alles, was als Armut be- buch nur eine bestimmte Auswahl an Themen auf- zeichnet wird, auch ein moralisches Problem darstellt, bereiten können, wobei sich diese vornehmlich an sys- also zum Beispiel unfair oder ungerecht ist, wobei es tematischen Gesichtspunkten orientiert. Im Rahmen eine diskursive Strategie ist, in solchen Fällen darauf dieser Einleitung soll kurz ein Überblick über einige hinzuweisen, dass es sich eben nicht um Armut oder Forschungsfragen skizziert werden. ›echte‹ Armut handeln würde. Das ist eine beliebte Fi- gur bei der Gegenüberstellung von sogenannter relati- ver Armut in Wohlfahrtsstaaten und sogenannter ab- 1.1 W as ist Armut? soluter Armut in Entwicklungsländern, wo darauf hin- gewiesen wird, man sollte den Armutsbegriff für Letz- Armut ist ein vielschichtiges und komplexes Phäno- teres reservieren. Man kann solche Ablenkungen, die men und es hat sich keine verbindliche Definition durchaus einen wissenschaftlichen Kern haben, da Ar- etabliert. Vielmehr ist Armut weiterhin ein umstritte- mutsdefinitionen immer auch wissenschaftlich um- ner Begriff, der je nach wissenschaftlichem Kontext, stritten sein können, so interpretieren, dass sie implizit Anwendungsgebiet und Forschungsziel unterschied- anerkennen, dass Armut beschreibend und wertend ist lich definiert wird (Huster/Boeckh/Mogge-Grotjahn und eben für ›unechte‹ Armut im Wohlfahrtsstaat die- 2008). Das ist Problem und Chance zugleich für die se Wertung nicht angewendet werden sollte. Armut in Philosophie. Ein Problem ist das deshalb, weil in der Wohlfahrtsstaaten ist entweder gar keine ›echte‹ Ar- Philosophie oft nicht darüber reflektiert wird, wel- mut, weil sie jedenfalls weniger schlimm ist als die J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_1 XHUB-Print-Workflow | 01_HB_Schweiger_Armut_05739__{Druck-PDF} | 12.03.21 2 1 Einleitung: Philosophie und Armut ›echte‹ Armut in den Entwicklungsländern, schließ- Geldsumme je nach Preisniveau in einem Gebiet ande- lich haben die ›unechten‹ Armen oft eine Wohnung, re Dinge leistbar. All diese Unterschiede sind auch für genügend zu Essen oder gar Fernseher oder Mobiltele- die Bestimmung absoluter Armut, die sich auf Min- fone, während die ›echten‹ Armen als ausgemergelte destniveaus und Grundbedürfnisse beziehen will, re- Körper in Hütten vorgestellt werden, deren Leiden un- levant. Dabei darf nicht übersehen werden, dass in die- übersehbar ist. In die Bestimmung von Armut fließen ser Relativität auch Entscheidungen und Werturteile also immer auch normative Überlegungen mit ein, stecken. Wie viel Nahrung ein Mensch zum Überleben moralische Urteile darüber, was Menschen benötigen benötigt, ist eine biologisch-medizinische Frage, aber und was ihnen zusteht. eben nicht nur. Zum einen sind solche biostatistischen Armut ist ein relativer Begriff. Auch wenn die Un- Aussagen ungenau, da sie sich auf Populationen und terscheidung zwischen relativer und absoluter Armut Gruppen beziehen. Zum anderen ist wohl unbestrit- suggeriert, dass es anders wäre, ist Armut immer nur ten, dass die Wertung und Reihung von Grundbedürf- im Hinblick auf einen bestimmten Bezugspunkt ver- nissen sich nicht aus naturwissenschaftlicher Beschrei- ständlich zu machen (Neuhäuser 2010). In der Litera- bung alleine ergeben kann. Schon bei der Frage der tur wird das Konzept der relativen Armut so verstan- Nahrung geht es nicht nur um Kalorien, Vitamine und den, dass es vor allem in Wohlfahrtsstaaten angewen- Mineralien, sondern darum, wie diese bereitgestellt det wird und Armut in Relation zum Wohlfahrts- werden, ob Menschen frei unter Nahrungsoptionen niveau bestimmt. Ein Beispiel wäre die Armutsmessung wählen können, ob sie ihr Essen mit den Händen oder in der EU. Dort gilt eine Person dann als armutsgefähr- mit Messer und Gabel verzehren können oder auch ob det, wenn sie in einem Haushalt lebt, dessen Einkom- sie (religiöse oder kulturelle) Nahrungstabus einhalten men weniger als 60 % des nationalen Medianeinkom- können. Viele Grundbedürfnisse wie Bildung, soziale mens beträgt. Hier liegen also nationale Armutsgren- Interaktion, Hygiene und Privatheit sind nicht einfach zen vor, die je nach nationalem Einkommensniveau bestimm- und messbar, sondern verweisen auf mora- variieren. Daneben verwendet die EU das Konzept der lische oder kulturelle Werte. materiellen Deprivation, welches sich daran orientiert, Armut ist ein politischer und ein wissenschaftlicher welche Konsumgüter und Dienstleistungen sich ein Begriff. Beide Aspekte sind für den philosophischen Haushalt nicht leisten kann. Diese Liste an Konsumgü- Zugriff und die philosophische Reflexion auf Armut tern (z. B. Auto, Waschmaschine oder Urlaub) werden wichtig. Als politischer Begriff ist Armut eingebunden für die gesamte EU auf Basis von Expert*innenmei- in Macht- und Gewaltverhältnisse. Er wird genutzt, nungen und Befragungen der Bevölkerung aus- um Politik zu machen und zwar nicht nur Politik für gewählt. arme Menschen, sondern auch gegen sie und ins- Im Unterschied zu solch relativer Armut, bezieht besondere auch Politik, die nicht-arme Menschen be- sich das Konzept der absoluten Armut auf Grundgüter, trifft (Chassé u. a. 2011). Das lässt sich bereits daran die alle Menschen zum Überleben oder für einen mi- gut ablesen, wer die Adressat*innen vieler politischer nimalen Lebensstandard benötigen. Die wohl bekann- Armutsdiskurse sind, etwa wenn es um die Kürzungen teste Armutsgrenze in diesem Zusammenhang sind von Sozialhilfe oder die Verschärfung der Bedingun- die 1,9$ pro Tag pro Person, die von der Weltbank als gen für Arbeitssuchende geht. Diese richten sich gegen Mindestkonsum festgelegt wurden. Als absolut arm die betroffenen Personen, haben aber immer auch Sig- gilt gemäß dieser Grenze also jede Person auf dieser nalwirkung für alle, die (noch) nicht betroffen sind, Welt, die Güter für weniger als 1,9$ pro Tag kon- entweder in der Form, dass der Bevölkerung vermittelt sumiert. Warum auch solche Mindestmaße der Armut wird, dass der Staat sich für sie und ihr Geld einsetzt, relativ sind, ergibt sich aus zwei Gründen. Erstens sind welches nicht an ›Sozialschmarotzer*innen‹ ver- auch Grundgüter, die Menschen zum Überleben benö- schwendet wird oder in der Form, dass der Bevölke- tigen, individuell und kontextbedingt verschieden. Ei- rung vermittelt wird, was all jenen droht, die selbst ein- ne schwangere Frau benötigt andere Grundgüter (z. B. mal in diese Lage kommen sollten. Deshalb ist Armut Nahrung) als ein Mann und eine Familie in einem hei- auch in diesen politischen Diskursen kein neutraler ßen Klima benötigt andere Kleidung als eine Familie, Begriff, sondern, wie schon eingangs erwähnt, einer, die in der Polarregion lebt. Menschen, die chronisch der beschreibend und wertend zugleich funktioniert. krank oder behindert sind, haben andere Bedürfnisse In manchen Fällen eben abwertend, indem suggeriert als gesunde; Kinder andere als Erwachsene; Frauen an- wird, dass Armut die Schuld der betroffenen Personen dere als Männer etc. Zweitens sind mit der gleichen selbst sei, die dadurch auch noch andere, nämlich die 1 Einleitung: Philosophie und Armut 3 Steuerzahler*innen und den Staat oder die eigenen Position. Sie können eine Zeit lang auf der Straße le- Kinder, schädigen. ben, sie können lange Gespräche mit den armuts- Armut ist ein wissenschaftlicher Begriff, der noto- betroffenen Menschen führen, sie können mitfühlen risch umstritten ist. In der Wissenschaft haben sich und mitleiden, aber sie können diese Situation immer zahlreiche unterschiedliche Armutsdefinitionen aus- wieder verlassen, zurückkehren an ihren Schreibtisch, gebildet, die teils überlappend, teils sich widerspre- in ihr Zuhause, in ihr Leben ohne Armut (Cloke u. a. chend sind (Wisor 2012; Anand/Segal/Stiglitz 2010). 2000). Sehr oft sind Armutsforscher*innen Menschen Einige Aspekte wissenschaftlicher Armutskonzepte aus dem globalen Norden, Angestellte von Universitä- wurden schon erwähnt: Armut hat oft mit Geld zu tun, ten oder größeren Organisationen oder staatlichen In- wobei zumeist das Einkommen im Vordergrund steht, stitutionen, die nur kurz in die Welt der Armut eintau- nicht das Vermögen. Armut hat mit Gütern und Dienst- chen, vielleicht sogar in einem anderen Land, und sie leistungen zu tun, die sich Menschen in einer bestimm- dann wieder verlassen. In diese Hierarchien und ten Gesellschaft leisten können sollen bzw. zu denen Machtgefälle ist Armutsforschung immer eingebun- sie Zugang haben sollen. Armut hat mit Grundbedürf- den. Forschungsethische Herausforderungen sind je nissen zu tun, also damit, was Menschen als Menschen nach Forschungsmethode unterschiedlich gelagert: in zum Leben und Überleben brauchen. Armut kann aber einem ethnographischen Setting, in dem es zu einem auch eng an soziale Teilhabe gebunden werden, etwa engen Kontakt und zum Aufbau eines Vertrauensver- die Teilhabe an ökonomischen, sozialen und kulturel- hältnis kommt, stellen sich andere Herausforderungen len Praktiken wie Erwerbsarbeit. Armut kann über den als im Setting großer quantitativer Studien, in denen Begriff der Freiheit definiert werden, etwa anhand der mittels standardisierter Erhebungsmittel gearbeitet Frage, was Menschen eigentlich wirklich tun können wird. Dennoch geht es immer darum, dass hier arme und welche Fähigkeiten sie besitzen. Alle diese Alterna- Menschen befragt und erforscht werden. Armutsfor- tiven sind bis in kleine Details durchdiskutiert und em- scher*innen werden (oft) für ihre Arbeit bezahlt, sie pirisch angewendet worden. Auch darin spiegeln sich können ihre Forschungen im Rahmen einer akademi- moralische oder kulturelle Werte und Urteile darüber, schen oder außerakademischen Karriere monetarisie- was ein gutes Leben (in einer bestimmten Gesellschaft) ren und davon profitieren, dass ihnen armutsbetroffe- ausmacht und was Menschen besitzen oder tun können ne Personen unentgeltlich Informationen und Wissen sollen. Daher sind diese Diskussionen auch für die Phi- zur Verfügung gestellt haben. Hier ergeben sich Fragen losophie interessant und wichtig – aus wissenschafts- der Teilhabe und auch der Ko-Autor*innenschaft. philosophischer und aus ethischer Perspektive. Da Armutsforschung aber auch in politische Kon- texte eingebunden sein kann, sind auch weitreichen- dere Implikationen zu bedenken (O’Connor 2001). 1.2 W ie wird Armut erforscht? Statistiken über Armut werden ja auch erstellt um Po- litik für oder gegen arme Menschen zu machen. Evi- Armut wird nicht nur definiert und es wird über Ar- denzen darüber, ob eine Intervention oder ein Ent- mut auch nicht nur wissenschaftlich, politisch oder ge- wicklungshilfeprojekt funktioniert (nach ausgesuch- sellschaftlich diskutiert, sondern sie wird auch empi- ten Erfolgsparametern), werden zur Entscheidung risch erforscht. Die Philosophie ist mit ihren Debatten über die Finanzierung oder Fortführung herangezo- über Armut und Gerechtigkeit auf der nicht-empiri- gen. Und diese Entscheidungen haben mitunter mas- schen, theoretischen Ebene angesiedelt – oft aber ver- sive Auswirkungen auf die armutsbetroffenen Per- bunden mit dem Ziel, in die Praxis zu wirken. In der sonen, da es einen erheblichen Unterschied macht, ob empirischen Armutsforschung wiederum stellen sich eine Stadt sich dafür entscheidet, Geld für ein Ob- viele philosophisch interessante Fragen. Ein paar da- dachlosenprojekt in die Hand zu nehmen oder für ei- von seien hier genannt. Erstens gibt es eine ganze Rei- ne Wiedereingliederungsmaßnahme in den Arbeits- he forschungsethischer Fragen. Armutsforschung ist markt. Die letzte Entscheidung liegt hier auf politi- Forschung mit einer besonders vulnerablen Gruppe, scher Ebene und fast nie bei den Forscher*innen, aber mit Menschen, die sozial schwächer sind und deren Si- ihre Studien, Evaluationen und Erkenntnisse können tuation ihr Wohlbefinden beeinträchtigt, ja sogar ihr darauf Einfluss nehmen, Entscheidungen zu legiti- Leben oder das Leben ihre Familie und Freunde be- mieren. Die Legitimationskraft der Sozialwissenschaf- drohen kann. Armutsforscher*innen sind demgegen- ten mag nicht allzu stark sein, aber es wirkt doch im- über (fast) immer in einer wesentlich privilegierteren mer besser, wenn auf Studien verwiesen werden kann. XHUB-Print-Workflow | 01_HB_Schweiger_Armut_05739__{Druck-PDF} | 12.03.21 4 1 Einleitung: Philosophie und Armut Auf der politischen Ebene, der Gestaltung von Ar- tigkeit wird zumeist als die Frage nach dem Verhältnis mutsmaßnahmen, aber auch schon auf Ebene der For- der reichen Länder und ihrer Bevölkerung zu den ar- schung ist die Rolle von armutsbetroffenen Personen men Ländern und ihrer Bevölkerung verstanden meist sehr gering. Sie werden eher als Auskunftsper- (Hahn 2009; Hahn/Broszies 2010). Ein Ansatz, der sonen, aber nicht als Expert*innen angesehen. Sie sol- vom Phänomen der Ungerechtigkeit ausgeht, kann in len über ihr Leid berichten, aber nicht wirklich mit- Anspruch nehmen, dass Armut global verbreitet ist entscheiden, was als Leid zu gelten hat oder was über und es zu ihrer Abschaffung der Koordination mehre- sie eigentlich erforscht wird. Armutsforschung ist also rer Staaten oder globaler Institutionen bedarf. Ansätze wie jede andere Forschung ein Expert*innengeschäft, der sozialen Gerechtigkeit sind im Unterschied zu die vorgibt, was, warum und wie erforscht werden soll. solchen, die auf die globale Ebene abzielen, eher da- Es gibt Versuche, dies mittels feministischer, dekolo- mit befasst, zu klären, welche Gerechtigkeitsansprüche nialer und partizipativer Methoden zu durchbrechen innerhalb bestimmter Gesellschaften bestehen und und armutsbetroffene Personen als Expert*innen durch Armut bedroht oder verletzt werden. Die nor- wahrzunehmen und anzuerkennen (Bergold/Thomas mativen Bezugspunkte von globaler und sozialer Ge- 2012; Chambers 2007), sie als Ko-Forscher*innen in rechtigkeit wie auch menschenrechtsbasierter Ansätze den Prozess einzubeziehen. Dies ist natürlich auch ein können dabei ähnlich sein: Sie können sich auf Grund- moralisch und politisch motiviertes Programm, wel- bedürfnisse, Grundgüter, Würde, Anerkennung oder ches somit eng an ethische Reflexion gebunden ist. Fähigkeiten stützen, auf die Menschen Anspruch ha- Welchen Wert hat Mitbestimmung und offene Delibe- ben und die durch Armut verletzt werden. Armut ist ration? Wer darf was wie erforschen? dann deshalb moralisch falsch oder ungerecht, weil ein Leben in Armut bedeutet, zu wenig von diesen Gütern oder Fähigkeiten oder Anerkennung zu haben, nicht 1.3 Ist Armut ein moralisches Problem? in der Lage zu sein, seine Grundbedürfnisse zu stillen oder in seinen Rechten verletzt zu werden bzw. diese Es scheint Konsens in der philosophischen Literatur vorenthalten zu bekommen. Je nach normativer Theo- zu sein, dass Armut ein moralisches Problem darstellt, rie wird die Messlatte hier unterschiedlich angelegt. also ein moralisches Übel ist. Zumindest globale Ar- Theorien der Gleichheit fordern gleiche Verteilung be- mut verstanden als die Armut, die in den Entwick- stimmter Güter, Fähigkeiten oder Rechte, und Armut lungsländern herrscht und mittels solcher Methoden ist dann ungerecht, wenn sie dieser gleichen Vertei- und Konzepte wie den 1,9$ pro Tag der Weltbank er- lung im Wege steht, die armutsbetroffenen Menschen hoben wird (Bleisch/Schaber 2007; Beck 2016). Zur also weniger davon haben als andere. Theorien der Suf- Frage, was an Armut nun moralisch falsch oder unge- fizienz wiederum sind nicht an strikter Gleichheit ori- recht ist, gibt es unterschiedliche Zugänge, die alle entiert, sondern daran, dass jeder Mensch genügend darzustellen, diese Einleitung sprengen würde. Dazu von bestimmten Gütern, Fähigkeiten oder Rechten finden sich unterschiedliche Kapitel auch in diesem hat, und Armut ist dann ungerecht oder moralisch Handbuch. Deshalb wollen wir uns hier auch auf eini- falsch, wenn ein Leben in Armut bedeutet, zu wenig ge wenige Bemerkungen beschränken. davon zu haben. Ungleichheit ist für Theorien der Suf- Klar ist, dass Armut aus unterschiedlichen normati- fizienz nicht zwingend moralisch problematisch, son- ven Perspektiven analysiert und kritisiert werden dern nur das Unterschreiten von Niveaus, die jeder er- kann. Armut kann als eine Verletzung der (mora- reichen können sollte. Man kann Armut natürlich lischen) Menschenrechte der armutsbetroffenen Per- auch dafür kritisieren, dass sie mit einem schlechten sonen interpretiert werden. Ein solcher menschen- Leben und fehlendem Wohlergehen einhergeht und rechtsbasierter Ansatz kann sich auch auf die Men- Menschen unglücklich macht. schenrechtskonvention direkt beziehen, etwa in dem Wichtig ist hier zu sehen, dass philosophische Kri- Armut als unvereinbar mit dem Anspruch auf Würde, tik an Armut eng damit verbunden ist, wie Armut dem Recht auf Leben, dem Recht auf Gesundheit oder selbst konzipiert und gemessen wird. Es wurde darauf andere soziale Menschenrechte ausgewiesen wird. Ar- hingewiesen, dass sich viele Armutsbegriffe auf Be- mut kann aber auch ohne Bezug auf Menschenrechte dürfnisse oder Güter stützen, also Dinge, die in der als Verletzung anderer moralischer Ansprüche ver- normativen Kritik wiederum auftauchen. Eindeutig standen werden. Etwa Ansprüche, die sich aus globaler wird das so etwa im Fähigkeitenansatz gehandhabt, in oder sozialer Gerechtigkeit ergeben. Globale Gerech- dem Konzeption von Armut und normative Kritik der

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