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Handbuch der Geisteskrankheiten: Vierter Band: Allgemeiner Teil IV PDF

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ALLGEMEINER, TElL VIERTER TElL BEARBEITET VON K. BIRNBAUM-BERLIN· P. NITSCHE-SONNENSTEIN W. VORKASTNER-FRANKFURT A. M. BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1929 ISBN-13: 978-3-642-88993-6 e-ISBN-13: 978-3-642-90848-4 DOl: 10.1007/978-3-642-90848-4 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER t1BERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHAJ,TEN. COPYRIGHT 1929 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN. Softcover reprint of the hardcover 1s t edition 1929 HANDBUCH DER GEISTESKRANKHEITEN BEARBEITET VON K. BERINGER· K. BIRNBAUM · A. BOSTROEM . E. BRAUN· A. v. BRAUNMUHL O. BUMKE . H. BURGER . J. L. ENTRES . G. EWALD· E. GAMPER . F. GEORGI H.W. GRUHLE· E.GRUNTHAL· J.HALLERVORDEN· A.HAUPTMANN· A.HOM· BURGER· F. JAHNEL . W. JAHRREISS . A. JAKOB· H. JOSEPHY . V. KAFKA E. KAHN· F. KEHRER· B. KlHN . H. KORBSCH . E. KRETSCHMER · E. KUPPERS J.LANGE . W.MAYER-GROSS· F.MEGGENDORFER· K.NEUBURGER· P.NITSCHE B.PFEIFER· F.PLAUT . M . ROSENFELD· W. RUNGE · H. SCHARFETTER K. SCHNEIDER· F. SCHOB . W. SCHOLZ · J. H. SCHULTZ· H. SPATZ· W. SpmL· MEYER· J. STEIN· G. STEINER· F. STERN· G. STERTZ . W. STROHMAYER R. THIELE · W. VORKASTNER . W. WEIMANN· A. WETZEL · K.WILMANNS . O.WUTH HERAUSGEGEBEN VON OSWALD BUMKE M{)NCHEN VIERTER BAND ALLGEMEINER TElL IV BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1929 Inhaltsverzeichnis. Seite Allgemeine Therapie nDd Prophylaxe der Geisteskrankheiten. Von Ober- medizinalrat Dr. P. NITSCHE, Sonnenstein 1 Allgemeine Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1 I. Psychische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3 Richtlinien fur die Unterweisung der Pfleger und Pflegerinnen in der aktiven Psychotherapie der Geisteskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Beschii.ftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Pflege des Gemeinschaftslebens . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Kampf gegen die KrankheitsauBerungen zum W ohIe der Kranken . 39 II. Physikalisch.diatetische Behandlung. . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Hydrotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Die Frage der Absonderung und andere strittige Fragen. . . . . . 52 3. Bettbehandlung. Andere diatetische und physikalische MaBnahmen. . . . . 57 4. Die therapeutische Unterbrechung der Schwangerschaft bei Geisteskrank- heiten. Therapeutische Kastration und Sterilisierung . 60 III. Medikamentose und biologische Behandlungsarten . 64 IV. Die Anstaltsbehandlung. Die Familienpflege. . . 78 V. Die offene Fursorge fur Geisteskranke . . • . . 99 Allgemeine Prophylaxe der Geisteskrankheiten 103 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 ForeDsische BenrteiJung. Von Professor Dr. WILLI VORKASTNER, Frankfurt a. M. 132 I. Stellung des Sachverstandigen im Straf- und ZivilprozeB . 132 1. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . 132 2. Osterreichisches Recht . . . . . . . . . . 150 Anhang: Die Gebuhrendes Sachverstandigen. 154 II. Strafrecht und StrafprozeB . . . . . . 156 A. Das geltende Recht. . . . . . . .. . . . 156 1. Deutsches Recht. . . . . . . . . . . . 156 a) Kinder und Jugendliche im Strafrecht 156 b) Taubstumme. . . . . . . . . . . . 165 c) Zurechnungsfahigkeit . . . . . . . . 166 d) Die Verbrechen an Geisteskranken . . . . 194 e) Verfall in Geisteskrankheit und Siechtum . .. .. . ...... 201 f) Der Geisteskranke als Beschuldigter, Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter (StPO.). . . . . 203 g) Der Geisteskranke als Zeuge . 209 2. Osterreichisches Recht 210 3. Schweizer Recht. . . 218 B. Das kommende Recht. . 223 1. Deutsches Recht. . . 223 2. Osterreichisches Recht 257 3; Schweizer Recht (Entwurf 1918). 257 III. Burgerliches Recht und ZivilprozeBrecht 265 1. Deutsches Recht. . . . . . . . . . . . . . . 265 a) Allgemein-Juristisches uber Rechtsgeschafte . 265 b) Die Rechtsgeschafte der Minderjahrigen. . . . .. . 267 c) Geschii.ftsfahigkeit und Nichtigkeit der Abgabe von Willenserklarungen bei voriibergehenden geistigen Storungen . . . . . . . . . . . . . . . . 269 VI Inhaltsverzeichnill. Selte d) Entmiindigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwache . 278 IX) materiell • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 /1) formell ...........••• 291 y) Rechtswirkungen der Entmiindigung . 302 e) Wiederaufhebung der Entmiindigung .. 303 f) Entmiindigung wegen Trunksucht . . . 306 IX) materiell . . . . • . • . . . . . . 306 /1) formell .•................. 310 g) Aufhebung der Entmiindigung wegen Trunksucht . 312 h) VorIa.ufige Vormundschaft ........... . 313 i) Pflegschaft. . . . . . . . . . 314 IX) Materielles. . . . . . . . . 314 /1) Formelles und Rechtsfolgen. 319 k) Testierfahigkeit. . . . . . . . 320 I) Ehefa.higkeit . . . . . . . . . . . . . . . . • . . 325 IX) Nichtigkeit der Ehe wegen geistiger Storung . . . 327 /1) Anfechtung der Ehe wegen Irrtums und Tii.uschung 328 y) Scheidung auf Grund des Verschuldensprinzips 343 ~) Ehescheidung wegen Geisteskrankheit . . 346 e) Abweisung einer Wiederherstellungsk1age 354 m) Ehereformvorschla.ge .......... . 354 n) Deliktsfli.higkeit. . . . . . • . . • . . . . 355 0) ProzeBfli.higkeit. • • . . . . . . . . . . . 359 2. Osterreichisches Zivilrecht. . . . . . . . . . . 359 3. Schweizer Zivilrecht . • . . . . . . . . . . . 369 IV. Anhang:Die straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Irren- arztes. . . • . . . • . . 376 Literatur ........••........•.... . . . . . . . . . . 379 Abkiirzungsverzeichnis. . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . ~ . . 388 Die Grenzgebiete der Psychiatrie. Von Professor Dr. KARL BIRNBAUM, Berlin 390 1. Die wissenschaftstheoretische Stellung der Psychiatrie und die psychopathologischen Teilgebiete. . . . 390 II. Die psychiatrischen Grenzgebiete . . . . • . . • . • • . 393 1. Allgemeine Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 393 2. Die einzelnen psychiatrischen Grenzgebiete . . . . . . . . . . . . .. 396 a) Das sozialpsychopathologische Grenzgebiet und seine Untergruppen. 397 b) Das kulturpsychopathologische Grenzgebiet und seine Untergruppen. 405 Literatur. . . . . . 413 N amen ver z eichnis 415 Sachverzeichnis • 419 Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten. Von PAUL NITSCHE Sonnenstein. Allgemeine Therapie. Die Voraussetzung fiir eine Heilwirkung therapeutischer MaBnahmen ist, daB sie gegen die Entstehungsbedingungen der Krankheit gerichtet sind, daB sie den eigentlichen KrankheitsprozeB unmittelbar beeinflussen, zum Stillstand und zur Riickbildung bringen. Somit ist das arztliche Bestreben darauf ge- richtet, fiir jede Krankheit eine kausale Therapie zu finden. 1st das nicht moglich - weil die Ursachen oder die Art des die klinischen Symptome bedingendenKrank- heitsvorganges nicht bekannt sind oder weil es keine Mittel gibt, ihnen beizu- kommen, so kann die Behandlung nur Linderung, Milderung der Krankheits- erscheinungen erzielen, nur symptomatisch sein. In diesem FaIle befinden wir uns heute noch gegeniiber der groBen Mehrzahl der Geistesstorungen. Ihre Behandlung ist zur Zeit noch ganz vorwiegend symptomatisch. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daB ganz allgemein in der Medizin manchmal therapeutische MaBnahmen, die zunachst nur gegen ein einzelnes Symptom gerichtet sind, mittelb ar doch den Krankheitsvorgang selbst angreifen und giinstig beeinflussen. So ware es immerhin auch denkbar, daB z. B. bei manischen Erregungszustanden die Dampfung der psychomoto- rischen Erregung auf Umwegen ("Kraft"-Ersparnis, Schonung des Herzens, Milderung der Affekte und dadurch giinstige Beeinflussung der der Krankheit zugrunde liegenden korperlichen Prozesse usw.) auf den unbekannten eigent- lichen Krankheitsvorgang heilsam zuriickwirkt, - ganz abgesehen davon, daB die moderne symptomatische Behandlung z. B. der Erregungszustande bei heilbaren Krankheitsformen viele Kranke am Leben erhalt und also zur Genesung bringt, die in friiheren Zeiten infolge von unzweckmaBigen MaB- nahmen an interkurrenten korperlichen Krankheiten (Pyamie, Infektionskrank- heiten usw.) in der Psychose zugrunde gingen. . Eine kausale Therapie ist in einer Anzahl von psychiatrischen Krankheits- fallen moglich, die aber in der Gesamtheit der verschiedenen Formen psychischer Krankheit, wie schon erwahnt wurde, zahlenmaBig zuriicktreten. Wir konnen bei toxischen Erkrankungen wie manchen Alkoholpsychosen in gewissem Sinne kausal-therapeutisch wirken, wenn es uns gelingt, die Kranken des Giftes zu entwohnen. Wir konnen es da, wo operative Eingriffe bei groben Hirnerkran- kungen, z. B. bei Hirntumoren, Erfolg versprechen. Man hat bei Psychosen, die im ursachlichen Zusammenhang mit Morbus Basedowii stehen, verschiedent- lich durch eine gegen dieses Grundleiden gerichtete Therapie Erfolge erzielt. Handbuch der Gelsteskrankhelten. IV. 1 2 PAUL NITSCHE: Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten. Vielfach sind psychische Storungen bei syphilitischer Hirnerkrankung einer antisyphilitischen Behandlung zuganglich; und auch die neue Therapie der progressiven Paralyse durch kiinstliche Erzeugung fieberhafter Prozesse darf wohl unter die kausalen Behandlungsarten gerechnet werden. Endlich ist ihnen die Psychotherapie reaktiver, psychisch bedingter seelischer Storungen zuzu- zahlen, insofern es durch sie vielfach moglich ist, durch Beseitigung oder Aus- gleich der solche Storungen auslosenden und unterhaltenden seelischen Span- nungen und Traumen heilend oder bessernd zu wirken. Galli allgemein besteht aIle arztliche Krankimbehandlung einmal in der Vornahme therapeutischer Eingriffe irgendwelcher Art - handele es sich nun um mechanische Eingriffe (Operationen' usw.), um Anwendung chemischer oder biologischer Mittel (Arzneien, Schutzstoffe usw.), um physikalische Prozeduren, um psychische Einwirkung oder dergleichen -, zum anderen aber in einer zweck- maBigen Regulierung der Funktionen des erkrankten Organes oder Organ- systems im Sinne der Schonung oder mung. Das gilt im groBen ganzen auch ffir die psychiatrische Therapie. Die Re- gulierung der Funktionen spielt hier eine groBe Rolle. Auf sie laufen z. B. aIle die MaBnahmen hinaus, die die Beziehungen des Kranken zur Umwelt betreffen: die zweckmaBige Art, mit ihm umzugehen, seine Entfernung aus dem Berufs- verhaltnis und aus seiner gewohnlichen Umgebung, seine merfiihrung in eine Anstalt u. a. m. Bei den Geisteskrankheiten kommt ffir die Haltung des Arztes gegeniiber dem Kranken nun aber noch ein Moment in Betracht, das bei den korperlichen Krankheiten nur selten und in eng begrenztem MaBe wirksam ist, - ein Moment, welches mit der eigentlichen Therapie nichts zu tun hat, welches die therapeu- tischen MaBnahmen leider nicht selten erschwert oder durchkreuzt und zu den therapeutischen Gesichtspunkten vielfach als ein mitbestimmender Faktor von praktischer Bedeutung hinzutritt. Durch die Psyche ist der einzelne Mensch ein Glied der Gemeinschaft, der er angehort. Von dieser Gemeinschaft (Familie, Berufskreis, Gemeinde, Staat usw.) ist er nicht nur abhangig, sondern es gehen auch umgekehrt von ihm Wirkungen auf diese Gemeinschaft aus. Diese Wirkungen nehmen durch die geistige Storung nicht selten einen gemeinschaftsschadigenden Charakter an. Dann hat das. arztliche Handeln nicht lediglich die individuellen Interessen des Kranken, sondern auch die der Gesamtheit zu beriicksichtigen. So riickt gegen- iiber dem Geisteskranken sehr oft der Gesichtspunkt des Wohles der Allgemein- heit in den Vordergrund, welcher, wie gesagt, in der somatischen Medizin nur in beschranktem MaBe in Betracht kommt (z. B. gegeniiber Dauerausscheidern pathogener Mikroorganismen, Bazillentragern, gegeniiber Individuen, die an zu epidemischer Ausbreitung neigenden Krankheiten leiden oder einer solchen Krankheit verdachtig sind). . Aus diesem ganzen Sachverhalt ergeben sich Komplikationen ffir das arzt- liche Handeln und Schwierigkeiten, wie sie in diesem l\laBe nur der Irrenheil- kunde eigentiimlich sind. Dazu kommt noch etwas anderes. Die Geisteskranken sind in einer groBen Zahl der FaIle nicht Patienten, welche das Gefiihl der Hilfsbediirftigkeit und die Einsicht ,in die Notwendigkeit arztlichen Beistandes haben. Diese Hilfe muB ihnen vielfach gegen ihren Willen zuteil werden. Dann laBt sich eine Beschran- kung der personlichen Freiheit vielfach nicht umgehen. Damit erhalt das arzt- liche Handeln in den Augen des Patienten den Anschein von gegen ihn, gegen sein Interesse gerichteten MaBnahmen. Aber nicht nur dem Kranken gegeniiber kommt der Arzt auf diese Weise in ein falsches Licht. Die Tatsachen, welche .Allgemeine Therapie. Psychische Behandlung. 3 zu solchen Eingriffen in die personliche Freiheit eines Geisteskranken notigen und berechtigen, liegen vielfach nicht fiir jedermann ohne weiteres erkennbar zutage. Die krankhaften Erscheinungen zeigen sich oft nicht so sehr am Patien- ten, wie er dem Beurteiler in einem gegebenen Zeitpunkte unmittelbar gegeniiber- tritt, sondern in seinen Handlungen im Leben; Wahnideen halten sich inhaltlich nicht selten im Rahmen des Moglichen und konnen dann nur bei genauer Kennt- nis der Lebensbeziehungen des Kranken und auf Grund psychiatrischen Wissens als krankhaft erkannt werden; die Patienten fassen das, was mit ihnen vor- genommen wird, haufig falsch auf oder bewahren daran eine unrichtige Er- innerung, geben dann nicht zutreffende Schilderungen davon u. a. m. Alles das bildet Quellen des MiBverstandnisses und von Irrtiimern. Rechts- fragen spielen in die Praxis des Irrenwesens fortwahrend hinein. So breitet sich um das arztliche Handeln am Geisteskranken eine Sphare der Unsicherheit der Beurteilung und der MiBdeutungsmoglichkeiten aus, die der Stellung der Irren- heilkunde im offentlichen Leben ein besonderes Geprage verleiht. Jedenfalls aber bedeutet die Tatsache, daB der Psychiater bei seinem arztlichen Handeln auBer den rein therapeutischen Zielen oft auch das der Sicherung im Auge haben muB und daB nicht selten die aus diesen beiden Gesichtspunkten sich ergebenden Folgerungen einander in gewissem MaBe widerstreiten, eine besondere Eigentiim- lichkeit und eine besondere Schwierigkeit der praktischen Irrenheilkunde. Da die Behandlung der Geisteskrankheiten, wie gesagt, heute noch vor- wiegend symptomatisch ist, so macht das, was die allgemeine psychiatrische Therapie zu lehren hat, einen sehr wesentlichen Teil des therapeutischen Appa- rates iiberhaupt aus. 1m groBen ganzen ergeben sich fiir die Behandlung der einzelnen psychischen Krankheiten nur Abwandlungen der allgemeinen Be- handlungsgrundsatze. Dem Zwecke eines Handbuches gemaB solI im folgenden das, was seit langem fester Besitz und allgemein anerkannt ist, kurz behandelt werden, wahrend neuere Fragen und Methoden ausfiihrlicher zu erortern sein werden. Dabei sollen auch solche neueren Verfahren und therapeutischen Versuche zur Sprache kommen, iiber die noch keine geniigenden Erfahrungen vorliegen, sofern sie aus dem oder jenem Grunde wichtig und beachtlich erscheinen. Eigentlich organisatorische, anstaltstechnische und bauliche Fragen scheiden als nicht in den Rahmen dieses Abschnittes gehorend aus und werden nur da, wo es un- bedingt notig ist, gestreift. I. Psychische Behandlung.1 Das Gebiet, auf dem die Psychotherapie ihre groBten Erfolge erzielt, ist bekanntlich das der Neurosen. Hier ist sie in allen ihren einzelnen Formen die vornehmste, sich unmittelbar aus der Pathogenese der Krankheiten ergebende Behandlungsart. Es folgt schon aus der ganz andersartigen Entstehungsart der iiberwiegenden Mehrzahl der eigentlichen Geisteskrankheiten, daB diese keinen so dankbaren Gegenstand fiir die psychische .B ehandlung bilden konnen. Zudem fehlen bei ihnen, wie SCHULTZ sagt, meistens die fiir die Anwendung der Psychotherapie so notwendigen Voraussetzungen der Einsicht und Bildsamkeit. Dennoch ware es ein Irrtum, den Wert einer Psychotherapie der Geistes- krankheiten zu unterschatzen. Genau betrachtet, spielte die· psychische. Be- handlung ja schon immer eine Rolle in der Irrenheilkunde; allerdings weniger in der Form der "direkten", aktiven Methoden, die die Neurosenbehandlung 1 Vgl. hierzu auch die Ausfiihrungen S. 71£f. und 82ff. 1* 4 PAUL NITSCHE: Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten. beherrschen, als in Gestalt mittelbaren, indirekten Verfahrens. FaBt man, von einer solchen Betrachtungsweise ausgehend, den Begriff der Psychotherapie weit genug, so weit wie es notig und richtig ist, so muB man ihm sogar eine grund- legende Bedeutung in der Behandlung der Geisteskrankheiten zuerkennen. Neuerdings findet diese Tatsache immer mehr Beachtung. Wir sehen, wie von verschiedenen Seiten her zielbewuBte Versuche eines aktiveren psychotherapeu- tischen Verfahrens aufgenommen worden sind. Unleugbar sind auch selbst bei den endogenen Geistesstorungen beachtliche symptomatische Erfolge festzustellen. Halt man sich die ja eigentlich ganz banale Tatsache vor Augen, daB alles, was wir erleben, auf unsere Psyche zuriickwirkt, unser Seelenleben irgendwie beeinfluBt - Erleben ist eben solche Riickwirkung oder Wechselwirkung -, so muB man feststelIen, daB auch aIle von auBen angeregten Erlebnisse der Geisteskranken, soweit bei diesen noch irgendeine Verbindung mit der AuBen- welt besteht, auf ihren Seelenzustand einwirken miissen, - bald mehr, bald weniger stark, nachhaltig und deutlich. Daher gehort es zu den therapeutischen Aufgaben, die Erlebnisse der Kranken moglichst zweckmaBig zu gestalten, und so hat alles, was der Arzt mit ihnen vornimmt, eine unter psychotherapeutischem Gesichtspunkt beachtliche Seite, nur daB der psychotherapeutische Erfolg nach Art und Grad ganz verschieden sein kann je nach der Art des krank- haften Zustandes und nach der Art des Erlebnisses oder der Einwirkung. Die Hyoscin-Injektion z. B., durch die ich eine psychische Erregung fiir einige Zeit unterdriicke und die diese Wirkung auf rein chemischem Wege erzielt, ist fiir den Kranken zugleich ein psychischer Reiz, den er je nach den in seinem Zustande gegebenen Bedingungen verschieden verarbeiten wird: er kann durch die In- jektion in Angst versetzt werden, er kann ihr zornig widerstreben; er kann durch die Erinnerung an gewisse unangenehme subjektive Nebenwirkungen des Mittels veranlaBt werden, sich hinsichtlich der .xuBerungen seiner Mfekte Hemmungen aufzuerlegen, um eine abermalige Injektion zu vermeiden u. a. m. Die ziel- bewuBte Versetzung eines Geisteskranken in eine bestimmte Umgebung ist ein psychotherapeutischer Akt. Der richtige Umgang mit den Kranken ist Psycho- therapie. Die Behandlung des Patienten in einer Anstalt, in der aIle Einrichtungen dem Zustande geisteskranker Menschen angemessen sind, ist zum groBen Teil, auch ohne daB bestimmte "direkte" psychotherapeutische Methoden angewandt werden, seelische Behandlung; sie ist es schon allein durch die Art der Umwelt- gestaltung in der Anstalt, durch das Verhalten des Arztes und des geschulten Pflegepersonals, durch die Fernhaltung der Reize des taglichen Lebens, durch die Unterbrechung der Berufstatigkeit und vieles andere mehr. Akte seelischer Behandlung sind aber z. B. auch die Entlassung aus der Anstalt zur richtigen Zeit, die Vermittlung einer geeigneten Erwerbstatigkeit, die Versetzung in Familienpflege. Eine so weite Fassung des Begriffes der Psychotherapie richtet die Auf- merksamkeit auf die Wichtigkeit aller auBeren Einfliisse und Erlebnisse fiir das Befinden und das Verhalten der Geisteskranken nachdriicklich hin. Sie hat den Vorteil, das Auge und das Gewissen des Arztes fiir jene, lange Zeit nicht bewuBt genug ins Auge gefaBte Tatsache zu scharfen, daB wir in allen Umwelteinfliissen Reize zu erblicken haben, die auf das Verhalten der Geisteskranken und damit innerhalb gewisser Grenzen auf ihren Zustand einwirken, die, je nachdem wir diese Umwelteinfliisse zweckmaBig gestalten oder zweckwidrig sein lassen, von giinstiger oder ungiinstiger Wirkung sind. Freilich kann seelische Behandlung eigentlich kausal und damit wirklich tiefer greifend oder gar heilend nur bei psychisch bedingten seelischen Anoma- lien wirken. Doch darf ihre lindernde, mildernde und bessernde Bedeutung .Allgemeine Therapie. Psychische Behandlung. 5 auch fiir die endogenen und organischen Psychosen keineswegs unterschatzt werden. Die giinstige Anderung, die der Zustand der Kranken auch bei diesen letzteren Krankheitsformen durch die Vberfiihrung der Patienten in eine gute Anstalt oft bald erfahrt, ist allein schon ein Beweis hierfiir. Handelt es sich bei dieser psychotherapeutischen Beeinflussung der schweren Geistesstorungen im wesentlichen also nur um symptomatische Erfolge, so ist doch die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daB, wenigstens bei zur Heilung neigenden Fallen, eine gewisse Einwirkung auf den KrankheitsprozeB dabei bisweilen statthaben kann. Dieser Meinung ist z. B. KRAEPELIN, wenn er in bezug auf die zweckmaBige Art des Umganges mit den Kranken sagt: "Vielleicht sind alle diese kleinen taglichen Bemiihungen, die psychischen Spannungen auszugleichen, doch bis zu einem gewissen Grade geeignet, den natiirlichen Heilungsvorgang zu unter- stiitzen. Wir diirfen das wenigstens schlieBen aus der Erfahrung, daB verkehrte psychische Behandlung, wie sie bisweilen durch Angehorig~, schlechtes Personal oder andere Kranke geiibt wird, ohne jeden Zweifel die Krankheitszustande nachhaltig verschlimmern kann." Und F. KEHRER sagt geradezu, im Lichte der uralten Beobachtung iiber die Beeinflussung von gewohnlich dem bewuBten Denken und Wollen entzogenen korperlichen Apparaten durch auBere Sinnes- und Gemiitseindriicke gewinne der Gedanke greifbarere Gestalt, "daB durch geschickte systematische Kombinierungen verschiedenartiger, u. U. fortgesetzter Mfekterregungen bei allen moglichen Krankheitszustanden Umstimmungen des neurovegetativen Apparates herbeizufiihren seien, die ihrerseits einen giinstigen Boden fiir andersartige seelische Einwirkungen schaffen." Die psychische Behandlung der Geisteskranken fangt also an mit der rich- tigen Art, mit ihnen umzugehen. Von so groBer Bedeutung diese ist, so kann man doch rein theoretisch allgemeine Regeln dafiir bekanntlich nur in groBen Um- rissen aufstellen; und da ist die grundlegende Forderung die, daB jede getiihl.s- maf3ig zurechnende, moralisierende Stellungnahme unterbleibe. Wenn SIMON mit Recht sagt, man solIe auch den Geisteskranken im Rahmen psychotherapeu- tischer Erziehung nicht als schlechthin unverantwortlich betrachten, so wider- streitet das jener Forderung keineswegs. Denn eben nur das gefiihlsmaBig- instinktive, reaktive, nicht das planmaBig erzieherische Zurechnen in arztlicher Absicht ist verpont. Die Einstellung des Menschen zur AuBenwelt ist grundsatz- lich wertend. Wie wir die Wirkungen, die die "AuBendinge" auf unseren Wahr- nehmungsapparat ausiiben, ihnen als "Eigenschaften" zuschreiben, so verlegen wir auch die Reflexe des Verhaltens unserer Mitmenschen auf unsere personliche Sphare als Wesensqualitaten in sie hinein, wobei besonders unser subjektives "Interesse" richtunggebend ist. Das uns Forderliche und FreundHche am Verhalten des an- dern beantworten wir, indem wir ihm "Giite" zuschreiben und, was das Wesent- liche ist, mit Gefiihlen der Zuneigung und des W ohlwollens ihm gegeniiber reagie- ren, wahrend wir auf beeintrachtigende Einwirkungen des Mitmenschen mit entgegengesetzter Stellungnahme und mit Abwehrtendenzen antworten. Diese instinktive Reaktionsweise, die bei den verschiedenen Menschen in ganz ver- schiedenen Graden tief verankert ist, muB dem Geisteskranken gegeniiber vor alIem auBer Funktion gesetzt werden. Manche Menschen sind dazu nicht fahig, und sie sind daher auch ungeeignet zur Behandlung und Pflege psychisch Kran- ker. Viele konnen diese Ausschaltung primitiver Regungen bis zu einem ge- wissen Grade erlernen, wenigstens insoweit, daB sie den gewohnlichen beruflichen Anforderungen der Irrenbehandlung und -Pflege geniigen. Zu einer souveranen Beherrschung alIer der Krafte aber, die im zweckmaBigen Umgange mit den Geisteskranken wirksam werden konnen, wird nur der gelangen, dem die beson- dere Fahigkeit dazu angeboren ist. Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um

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