Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Ulm Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. Dr. med. h. c. M. Georgieff Haben SAPS II-, SAPS 3-, APACHE II- und SOFA-Score, sowie Anzahl der Organdysfunktionen, neben der Zeit bis zur Antibiose und Fokussanierung, eine Aussagekraft bezüglich der Mortalität von Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock? Anästhesiologische Intensivstation des Universitätsklinikums Ulm im Vergleich mit der multizentrischen Studie MEDUSA (Medical Education for Sepsis Source Control and Antibiotics) Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm Vorgelegt von Anja Hinder geboren in Biberach an der Riss 2016 Amtierender Dekan: Prof. Dr. rer. nat. Thomas Wirth 1. Berichterstatter: Prof. Dr. med. Manfred Weiß 2. Berichterstatter: Prof. Dr. med. Thomas Kapapa Tag der Promotion: 09.02.2018 Meinen Eltern gewidmet. Inhaltsverzeichnis ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS III 1. EINLEITUNG 1 1.1. GESCHICHTE UND DEFINITION DER SEPSIS 1 1.1.1. DEFINITION DER SCHWEREN SEPSIS 3 1.1.2. DEFINITION DES SEPTISCHEN SCHOCKS 4 1.1.3.ÜBERBLICK ÜBER DIE PATHOGENESE DER SEPSIS 4 1.2. EPIDEMIOLOGIE UND ÖKONOMISCHE BEDEUTUNG 6 1.3. ALLGEMEINER THERAPIEALGORITHMUS 7 1.4. SSC-GUIDELINES 8 1.5. DIE MEDUSA-STUDIE 9 1.6. SCORING SYSTEME IN DER INTENSIVMEDIZIN 10 1.6.1. SAPS II SCORE 11 1.6.2. SAPS 3 SCORE 12 1.6.3. APACHE II SCORE 13 1.6.4. SOFA SCORE 14 1.7. KRANKENHAUSSTRUKTURDATEN 15 1.8. HYPOTHESE 16 1.9. ZIEL DER ARBEIT 16 2. MATERIAL UND METHODEN 18 2.1.STUDIENDESIGN 18 2.2. STUDIENPHASEN 18 2.3. DURCHFÜHRUNG 21 2.3.1. PATIENTENINFORMATION UND –EINWILLIGUNG 21 2.3.2. EIN- UND AUSSCHLUSSKRITERIEN 21 2.3.3. DATENERFASSUNG 22 2.4. ERHEBUNG DER SCORES 26 2.5. STATISTISCHE ANALYSE 26 3. ERGEBNISSE 28 3.1. AUSWERTUNG DER ANÄSTHESIOLOGISCHEN INTENSIVSTATION 28 3.2 EINFLUSSFAKTOREN AUF DAS GESAMTÜBERLEBEN 29 3.2.1. ZEIT BIS ZUR ANTIBIOSE 29 3.2.2. ZEIT BIS ZUR CHIRURGISCHEN FOKUSSANIERUNG 31 3.2.3. ERGEBNISSE DER SCORES UND ANZAHL DER ORGANDYSFUNKTIONEN 33 3.3 DATENVERGLEICH KONTROLL- UND INTERVENTIONSGRUPPE 39 3.3.1 ANTIMIKROBIELLE THERAPIE UND FOKUSSANIERUNG 40 3.3.2.SCORES UND ANZAHL DER ORGANDYSFUNKTIONEN 41 3.4. DATENVERGLEICH BEI AUFNAHMEDIAGNOSE SCHWERER SEPSIS/SEPTISCHER SCHOCK 42 3.4.1. ANTIMIKROBIELLE THERAPIE UND FOKUSSANIERUNG 43 3.4.2. SCORES UND ANZAHL DER ORGANDYSFUNKTIONEN 45 3.5. MULTIZENTRISCHER DATENVERGLEICH 48 3.5.1. PATIENTENCHARAKTERISTIKA UND ZEIT BIS ZUR ANTIBIOSE BZW. FOKUSSANIERUNG IM MULTIZENTRISCHEN VERGLEICH 49 3.5.2. SAPS II UND SAPS II-VORHERGESAGTE MORTALITÄT IM MULTIZENTRISCHEN VERGLEICH 53 4. DISKUSSION 56 4.1. METHODENKRITIK 56 I 4.2. BASISCHARAKTERISTIKA DER ANÄSTHESIOLOGISCHEN INTENSIVSTATION 57 4.3. EINFLUSSFAKTOREN AUF DAS GESAMTÜBERLEBEN 59 4.3.1. ZEIT BIS ZUR ANTIBIOSE 59 4.3.2. ZEIT BIS ZUR CHIRURGISCHEN FOKUSSANIERUNG 61 4.3.3. AUSWERTUNG DER SCORES UND ANZAHL DER ORGANDYSFUNKTIONEN 62 4.4. VERGLEICH KONTROLL- UND INTERVENTIONSGRUPPE 70 4.4.1. ANTIMIKROBIELLE THERAPIE UND FOKUSSANIERUNG 70 4.4.2. SCORES UND ANZAHL DER ORGANDYSFUNKTIONEN 72 4.5. VERGLEICH AUFNAHMEDIAGNOSE SCHWERER SEPSIS/SEPTISCHER SCHOCK 73 4.6. MULTIZENTRISCHER DATENVERGLEICH 74 4.6.1.PATIENTENCHARAKTERISTIKA UND ZEIT BIS ZUR ANTIBIOSE, BZW. FOKUSSANIERUNG 74 4.6.2. SAPS II UND SAPS II-VORHERGESAGTE MORTALITÄT 75 5. ZUSAMMENFASSUNG 77 6. LITERATURVERZEICHNIS 79 7. ANHANG 89 8. DANKSAGUNG 99 9. LEBENSLAUF 100 II Abkürzungsverzeichnis AB = Antibiose APACHE = Acute Physiology And Chronic Health Evaluation BAL = Bronchoalveoläre Lavage BMI = Body-Mass-Index CPAP = Continuous Positive Airway Pressure CRF = Case Report Form GCS = Glasgow Coma Scale IMC = Intermediate Care (= Wachstation) IQR = Interquartile Rangle (1. Quartile - 3. Quartile) ITS = Intensivstation KI = Konfidenzintervall MEDUSA = Medical Education for Sepsis Source Control and Antibiotics MW = Mittelwert ODF = Organdysfunktion PaO2 = arterieller Sauerstoffpartialdruck SAPS = Simplified Acute Physiology Score SIRS = Systemic Inflammatory Response Syndrom SMR = Standardized Mortality Ratio SOFA = Sequential Organ Failure Assessment SSC = Surviving Sepsis Campaign TISS = Therapeutic Intervention Scoring System ZNS = Zentrales Nervensystem ZVK = Zentraler Venenverweilkatheter III 1. Einleitung 1.1. Geschichte und Definition der Sepsis Die Zunahme von multiresistenten Keimen, der demographische Wandel sowie die zunehmende Anzahl an immunsupprimierten Patienten haben einen großen Anteil daran, dass die Sepsis eine immer häufiger werdende Erkrankung ist (Rosengarten et al. 2014). Über 150 000 Menschen in Deutschland erkranken jährlich an einer Sepsis. Mit 60 000 Todesfällen stellt dieses Krankheitsbild eine der häufigsten Todesursachen dar (Rosengarten et al. 2014). In der Todesursachenstatistik des statistischen Bundesamtes rangiert das Krankheitsbild aber lediglich auf Platz 16 (Leiner 2014). Tatsächlich fordert die Sepsis jedoch fast ebenso viele Todesopfer wie der Herzinfarkt und deutlich mehr als Brustkrebs oder Darmkrebs (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2016). Vermutlich würde man die Sepsis in der Statistik an erster Stelle finden, wenn sie als eigentliche Todesursache korrekt berücksichtigt werden würde (Leiner 2014). Betrachtet man das Krankheitsbild über allen Intensivstationen gemittelt, stellt es dort schon die häufigste Todesursache dar. Trotz technischen Fortschritts und verbesserter Versorgung beträgt die Letalität der Sepsis 30 bis 40 Prozent, die des septischen Schocks sogar 40 bis 70 Prozent (Rosengarten et al. 2014). Der Begriff Sepsis hat seinen Ursprung in dem griechischen Wort σηπω für "faul machen" und wurde von Hippokrates (ca. 460-370 v. Chr.) eingeführt. Bereits Ibn Sina (979-1037) beobachtete, dass im Zuge mit der Fäulnis des Blutes auch Fieber einhergeht. Diese antike Definition der Sepsis wurde bis in das 19. Jahrhundert verwendet, als Louis Pasteur (1822- 1895) Fäulnis mit Bakterien bzw. Mikroben assoziierte und Ignaz Semmelweis (1818-1865) seine Bakterientheorie aufstellte. Als Hugo Schottmüller (1867-1936) Sepsis als eine Erkrankung beschrieb, bei der von einem Herd ausgehend pathogene Bakterien in den Blutkreislauf gelangen und somit Krankheitserscheinungen ausgelöst werden, kam man der Ätiologie und Pathogenese der Sepsis einen großen Schritt näher. Die noch heute gültige Definition wurde erstmals von Roger C. Bone (1941-1997) im Jahre 1989 formuliert: "Sepsis ist definiert als eine Invasion von Mikroorganismen und/oder ihrer Toxine in den Seite | 1 Blutstrom zusammen mit der Reaktion des Organismus auf diese Invasion" (Deutsche Sepsis-Gesellschaft e.V. o. J.). Diesen Denkansatz nahmen die amerikanischen Gesellschaften American College of Chest Physicans und Society of Critical Care Medicine (ACCP/SCCM) als Grundlage, um bei einer Consensus Conference die Sepsis als Krankheitsbild verbindlich zu formulieren. Infektion ist definiert als eine entzündliche Reaktion auf die Anwesenheit von Mikroorganismen oder deren Invasion in sonst steriles Wirtsgewebe. Bakteriämie bedeutet die Anwesenheit von existenzfähigen Bakterien im Blut. SIRS steht für Systemic Inflammatory Response Syndrom und beschreibt eine systemische Entzündungsreaktion des Organismus unterschiedlicher Genese. ≥2 der folgenden Kriterien müssen zutreffen: Temperatur: >38° oder <36°C Herzfrequenz: >90/min Atemfrequenz: >20/min oder paCO <33 mmHg 2 Leukozyten: <4000/mm3 oder >12.000/mm3 Sepsis wird ausgelöst durch eine systemische Immunantwort (SIRS) auf eine Infektion. Sie liegt vor, wenn ≥2 der oben genannten Kriterien durch eine Infektion bzw. durch einen mikrobiologischen Erreger bedingt sind. Schwere Sepsis ist eine Sepsis verbunden mit Organdysfunktion, Hypoperfusion oder Hypotension. Mögliche Symptome dabei: Oligurie, Enzephalopathie, Laktatazidose (siehe Kapitel 1.1.1.). Septischer Schock beschreibt eine Sepsis verbunden mit einer Hypotension trotz adäquater Volumensubstitution (siehe Kapitel 1.1.2.). (Bone et al. 1992) Seite | 2 Im diesem Jahr (2016) wurden die internationalen Sepsisdefinitionen überarbeitet und neu veröffentlicht. Singer und Mitarbeiter beschreiben Sepsis darin als eine lebensbedrohliche Organdysfunktion, verursacht durch eine fehlregulierte Wirtsreaktion auf eine Infektion. Ein septischer Schock liegt vor, wenn zirkulatorische, metabolische und zelluläre Abnormitäten mit einem höheren Mortalitätsrisiko assoziiert sind, als bei einer Sepsis ohne Schock (Opal et al. 2016). 1.1.1. Definition der schweren Sepsis Eine schwere Sepsis wird durch Vorliegen von sämtlichen der folgenden drei Kriterien definiert (Bloos u. Reinhart 2010): 1. Nachweis eines infektiösen Ursprungs der Inflammation (mindestens eins der folgenden Kriterien) a. mikrobiologisch gesicherte Infektion b. klinisch gesicherte Infektion 2. Nachweis einer systemischen inflammatorischen Wirtsreaktion (SIRS) (mindestens zwei der folgenden Kriterien) a. Hypo- (≤36 °C) oder Hyperthermie (≥38 °C) b. Tachykardie (≥90 /min) c. Tachypnoe (≥20 /min) und/oder arterieller pCO ≤4,3 kPa (33 mmHg) und/oder 2 maschinelle Beatmung d. Leukozytose ≥12.000/µl oder Leukopenie ≤4.000/µl und/oder Linksverschiebung ≥10% 3. Infektionsbezogene Organdysfunktion innerhalb der letzten 24 Stunden (mindestens eins der folgenden Kriterien) a. Akute Enzephalopathie (reduzierte Vigilanz, Unruhe, Desorientiertheit, Delir ohne Beeinflussung durch Psychotropika) b. Thrombozytopenie (Thrombozyten ≤100.000/μl oder Thrombozytenabfall >30% innerhalb von 24 Stunden ohne akute Blutung oder immunologische Ursache) c. Arterielle Hypoxämie (Pa0 <10 kPa (≤75 mmHg) unter Raumluft oder PaO /FiO 2 2 2 ≤33 kPa (≤250 mmHg) unter Sauerstoffapplikation ohne manifeste pulmonale oder kardiale Erkrankung als Ursache der Hypoxämie) Seite | 3 d. Arterielle Hypotension (systolischer arterieller Blutdruck ≤90 mmHg oder mittlerer arterieller Blutdruck ≤70 mmHg über mindestens eine Stunde trotz adäquater Volumenzufuhr bei Abwesenheit anderer Schockursachen) e. Renale Dysfunktion (Urinausscheidung ≤0,5 ml/kg/Stunde über mindestens eine Stunde trotz ausreichender Volumensubstitution und/oder Anstieg des Serum- Kreatinins ≥2x über den Referenzbereich des jeweiligen Labors) f. Metabolische Azidose (Basendefizit ≥5,0 mmol/l oder eine Plasma-Laktat- Konzentration ≥1,5x oberhalb des Referenzbereiches des jeweiligen Labors) 1.1.2. Definition des septischen Schocks Ein septischer Schock liegt vor, wenn alle der drei folgenden Kriterien erfüllt sind (Brunkhorst et al. 2010): 1. Nachweis eines infektiösen Ursprungs der Inflammation (siehe Kapitel 1.1.1.) 2. Nachweis einer systemischen inflammatorischen Wirtsreaktion (SIRS, siehe Kapitel 1.1.1.) 3. Nachweis einer arteriellen Hypotonie trotz adäquater Volumentherapie: Systolischer Blutdruck ≤90 mmHg oder mittlerer arterieller Blutdruck ≤70 mmHg für mind. 2 Stunden bzw. Einsatz von Vasopressoren (Dopamin >5µg/kg/min bzw. Noradrenalin, Adrenalin, Phenylephrin oder Vasopressin in jeder Dosierung) erforderlich, um den systolischen Blutdruck >90 mmHg oder den arteriellen Mitteldruck >70 mmHg zu halten. 1.1.3.Überblick über die Pathogenese der Sepsis Die mikrobielle Sepsis kann definiert werden als Reaktion auf pathogene Keime und deren Produkte, die aus dem Infektionsherd in den Blutkreislauf eindringen und dort lebensbedrohliche pathophysiologische Veränderungen auslösen. Der septische Prozess kann vereinfacht in fünf Säulen eingeteilt werden (Werdan et al. 2015): 1.) Infektionsherd oder Infektionsquelle als Ausgangspunkt (Septischer Fokus) 2.) Invasion pathogener Keime und toxischer Keimprodukte (Invasion) 3.) Bildung und Aktivierung von Mediatoren (Mediatorexplosion) Seite | 4
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