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Günther Anders PDF

104 Pages·2002·0.73 MB·German
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Konrad Paul Liessmann Günther Anders C.H.Beck Inhalt Vorwort: Der störrische Philosoph 7 Ein Leben - ein Jahrhundert 14 Von der Weltfremdheit des Menschen 30 Der beschämte Prometheus 53 Die virtuelle Realität 79 Das Monströse 103 Die Frist 118 Die verdampfte Moral 139 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Der andere Anders 163 Liessmann, Konrad Paul: Günther Anders: Philosophieren im Zeitalter der technologischen Nachwort: Die Antiquiertheit der «Antiquiertheit» 184 Revolutionen/ Konrad Paul Liessmann. München: Beck, 2002 ISBN 3-406-48720-3 Anmerkungen 194 Zeittafel 200 © Verlag C. H. Beck oHG, München 2002 Bibliographie 203 Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 3-406-48720-3 www.beck.de Vorwort Der störrische Philosoph Hundert Jahre nach seiner Geburt, zehn Jahre nach seinem Tod ist es still geworden um Günther Anders. Der scharfsinnige Philosoph, streitbare Publizist und unbeugsame Moralist, der sich einmal gewünscht hatte, «nicht als Verfasser von unver bindlichen, mehr oder minder unüblichen Betrachtungen von mehr oder minder genau geschliffenen Glossen klassifiziert zu werden, vielmehr als Vertreter von Kampfthesen, der es minde stens verdienen würde, attackiert zu werden» (Ketzereien, S. 5), scheint seine Zeit gehabt zu haben und nur noch bei jenen Interesse zu erregen, die sich an einer Geschichte des politi schen Denkens im 20. Jahrhundert oder an den Frühformen der Technik- und Medienphilosophie abarbeiten. Historisie rung und Akademisierung wären allerdings das letzte gewesen, was sich Anders für sein Werk erwartet hätte. Und dies aus guten Gründen. Als ich Günther Anders im Sommer des Jahres 1982 anläßlich seines bevorstehenden 80. Geburtstages zum ersten Mal besuchte, beschloß er unser langes Gespräch mit ei nem Seufzer: «Wer zu früh kommt, kommt auch nicht zur rech ten Zeit.» Daß er Zeit seines Lebens ein Unzeitgemäßer gewe sen war, war ihm wohl stets bewußt gewesen. Und wer ihn kannte, wußte, daß er darunter auch litt. Allerdings: er empfand sich als unzeitgemäß, weil er sich seiner Zeit voraus wähnte. Der prognostischen Kraft seiner Analysen und Deutungen der technischen Lebenswelt des modernen Menschen traute er zu, Phänomene und Tendenzen, Gefahren und Abgründe erfaßt zu haben, die den Zeitgenossen verborgen waren und vielleicht noch lange verborgen blieben. Traute man dieser Selbstein schätzung, müßte man sagen: Allmählich wird es Zeit, daß die Zeit von Günther Anders kommt. 7 Günther Anders war, auf eigentümliche Weise, an diesen ver lichen Bereich umfassenden moralischen Ansprüchen verband, zögerten Rezeptionsformen nicht unschuldig. Unter der Vor daß er im Umgang mit Menschen ebenso kompromißlos war aussetzung, daß seine Reflexionen und Beobachtungen in der wie im Umgang mit Theorien, machte seine Philosophie, aber Tat den Nerv eines Zeitalters trafen, waren sie nämlich inakzep auch seine Person für viele nur schwer erträglich. tabel - und sind es vielleicht noch immer. Die Philosophie von Vielleicht war Günther Anders einer der wenigen Philo Günther Anders stellte die Lebensform jedes Lesers radikal in sophen, die deshalb zu den wichtigen Denkern des 20. Jahr Frage. Sie ließ sich deshalb auch nicht - oder nur sehr schwer - hunderts gezählt werden können, weil sie tatsächlich versuch zu einem kulturkritischen Emblem verkürzen, das man sich we ten, nach dem Wort von Hegel, ihre Zeit in Gedanken zu nigstens eine Zeitlang, als Mode, hätte anstecken können. Die fassen. Wenn irgendwo seit Jahrzehnten nachzulesen ist, wie es Unerbittlichkeit seines Denkens, das mit einer in ihrer Direkt um uns bestellt ist, dann bei Günther Anders. Dabei war heit unvergleichlichen Sprache einhergeht, bedurfte letztlich Günther Anders, obwohl verschiedenen philosophischen Schu weder raffinierter Interpretationen, noch stellte sich damit ein len und Strömungen auf unterschiedlichste Weise nahestehend, Jargon ein, mit dem man in Feuilletons je hätte reüssieren kön keiner derselben schlicht beizuordnen. Phänomenologie und nen. Damit sprengt sein Denken aber das Reservat, das man Marxismus, auch Existentialontologie waren für ihn von großer Philosophie in der Regel zugedacht hat. Seine Texte und seine Bedeutung, ebenso wie die Tradition des deutschen Idealismus, politischen Interventionen stellten scharfe, rücksichtslose, vor allem Hegel und Kant; Georg Simmel war für ihn vielleicht manchmal vielleicht sogar ungehobelte Eingriffe in das gesamt wichtiger als lange vermutet, und manch eine stilistische Spur gesellschaftliche Geflige dar. Seine Kritik der technologischen führt auch zu dem selten genannten Nietzsche. Dennoch muß Zivilisation traf tatsächlich den Nerv einer Entwicklung, die ge seine Philosophie des letzten Zeitalters, sein «Philosophieren in genwärtig einem neuen Höhepunkt zusteuert. Und dazu der Endzeit»1 sowohl was die Methode als auch was die Ergeb kommt noch etwas, was nicht nur die Zeitgenossen, sondern nisse betrifft, als durchaus eigenständig, nahezu als exterritorial auch und gerade den heutigen Leser verstören muß: Anders bezeichnet werden. Diese Exterritorialität verdankte sich aller verachtete den Optimismus, in welcher Form auch immer. dings in hohem Maße einem Begriff von Philosophie, der ganz Seine Philosophie kannte keinen Ort und keine Instanz, die bewußt unakademisch sein wollte. Anders ging es nicht um Ge eine bessere Welt versprach: das Proletariat nicht und nicht die lehrsamkeit, sondern um den Versuch, Wirklichkeit, Lebensver Intellektuellen, die Frauenbewegung nicht und nicht die hältnisse, gesellschaftliche Entwicklungen, technologische In Friedensbewegung, die Natur nicht und nicht die Dritte Welt; novationen in ihrer Bedeutsamkeit zu begreifen. Das allerdings auch kein Utopia; und ein technisches Paradies schon gar nicht. bedeutete für ihn vorerst, nichts zu akzeptieren, was als angeb Die prinzipielle Heimatlosigkeit, die Anders' Leben und seine liche Notwendigkeit oder als Unausweichlichkeit den Men Philosophie, namentlich seine Anthropologie, kennzeichnet, schen eingeredet wurde. Nichts war ihm fragwürdiger als das hatte und hat etwas Anstößiges an sich. Was Anders vielleicht vermeintlich Plausible, das Selbstverständliche. zu einem Ketzer der Moderne schlechthin machte, war seine Über die Grundlagen seines Philosophierens geben einige Mißachtung deren innersten Prinzips, dem sich bislang noch seiner Philosophischen Stenogramme eine verblüffende Auskunft. ihre größten Kritiker verpflichtet fühlten: des Glaubens an den Ein Aphorismus ist überschrieben mit «Fähigkeit zur Unfähig Fortschritt, der Hoffnung auf die Zukunft. Und daß er seine keit» und lautet: «Die Chance des Philosophen besteht in seiner Hoffnungslosigkeit dennoch mit rigiden, auch den persön- Unfähigkeit, das Wort <selbstverständlich> zu verstehen. Seine 8 9 Tugend in der Fähigkeit, diese Unfähigkeit allen Anfechtungen logie und einer Ausdrucksweise, die es ihm gestattete, die Pro des Alltags zum Trotz durchzuhalten.» (Philosophische Steno bleme, um die es ihm ging, präzise, aber verständlich zu for gramme, S. 124) Die alte sokratische Maxime der Philosophie, mulieren. Daß dies nicht immer einfach ist, wußte Anders. Das nichts ungeprüft zu lassen, galt für Günther Anders in hohem Problem des Philosophen, so formulierte er einmal, bestehe darin, Maße. Es gibt nichts, das sich von selbst versteht. Alles Verste daß er, weil ihm keine eigene Sprache zur Verfügung stehe, auf hen ist Resultat von Denken, Handeln, Geschichte, Einflüssen, die unzulängliche, mißverständliche, ungenaue und oft miß Suggestionen, Einbildungen, Informationen, aber nichts ist von brauchte Alltagssprache angewiesen sei: «[Die Alltagssprache] ist, selbst verständlich. Daß alle Philosophie - nach einem berühm obwohl unser Erzfeind, doch auch unser einziges und unentrinn ten Wort des Aristoteles - mit dem Staunen beginne, gewinnt bei bares Medium. Die Aufgabe, der wir täglich gerecht zu werden Anders einen provozierenden Unterton. Denn dieses Staunen ist versuchen müssen, gleicht also wirklich der des Münchhausen. nicht eines aus Verwunderung, sondern zunehmend eines, das Denn wie dieser haben wir uns am eigenen Zopf aus dem Graben aus dem Entsetzen erwächst über das, was alltäglich und doch zu ziehen. Aber eine andere Methode ist nicht vorrätig. - Tech zutiefst befremdlich ist. Diese Verweigerung des Selbstverständ nisch bedeutet das: wir haben zu erlernen, die Sprache in einem lichen macht den Philosophen grundsätzlich zu einer störrischen solchen Maße zu beherrschen, daß wir in ihr über sie hinaus Figur: «An seinen Defekten sollt ihr ihn erkennen: nicht durch gehen können. Das ist leicht gesagt, aber wirklich gelingen kann das, was er versteht, unterscheidet sich der Philosophierende das niemals.» (Philosophische Stenogramme, S. 126) Anders vom Nichtphilosophierenden, sondern durch das, was er abso bemühte sich, eine «Direktheit des Tons zu finden, der sich von lut nicht verstehen kann.» (Philosophische Stenogramme, S. der verdorbenen Alltagssprache ebenso fernhält wie von der er 123) Gerade seine Philosophie der Technik hat, wie Anders höhten Fachsprache». (Über philosophische Diktion, S.13f.) nicht ohne Selbstironie betonte, eine spezifische technisch- Seine Position skizzierte er einmal mit folgenden, martialisch naturwissenschaftliche Unbildung zur Voraussetzung - eine klingenden Worten: «Ich befinde mich in der Schußlinie der Kri Unbildung allerdings, die aus diesem Nichtverstehen einen un tik beider Fronten: Zwischen dem Feuer der Menschen, die verstellten, kritischen Blick auf die Phänomene gewinnt, der nicht Philosophen, und dem der Philosophen, die in gewissem dem betriebsblinden Fachmann in der Regel ebenso verwehrt Sinne nicht mehr <Menschen> sind. Die Einen schießen auf mich, bleibt wie dem Freak, der das Technische kultisch verehrt. wenn die Problemstellung unglaubwürdig klingt; die Anderen, Anders schrieb nicht für gelehrte Kollegen, sondern für die wenn ich den Präzisionsmaßstäben, die sie in ihrer esoterischen Menschen, die er bedroht wähnte. Seine Philosophie wollte un Arbeit ausgebildet haben, nicht entspreche. Zwischen diesen mittelbar eingreifen. In einer seiner ersten Veröffentlichungen beiden Linien stehe ich also, von beiden treffbar. - Ob das wohl aus dem Jahre 1924 findet sich der erstaunliche Satz: «Wir wollen als Chance formuliert werden darf? Also bedeuten könnte, beide gleichzeitig theoretisch, das heißt sehend, und in actu, d.h. im Linien kann auch ich treffen?» (Über philosophische Diktion, S. Schwunge, gleichzeitig philosophisch und aktuell sein.»2 20) Günther Anders hat diese Chance durchaus genutzt, und er Günther Anders ist im Grunde dieser Maxime stets treu geblie wird einmal wohl auch als einer der letzten großen individuellen ben. Immer wieder reflektierte er deshalb die Frage, in welcher Stilisten der Philosophie des 20. Jahrhunderts gelten - nicht weil Sprache er sich an die Menschen wenden könne. Zwischen der es ihm um Stil als Selbstzweck, um die Ästhetisierung der philo Skylla des esoterischen akademischen Jargons und der Charybdis sophischen Terminologie ging, sondern um einen Ton, der ohne populärer Verflachung suchte er nach einem Stil, einer Termino- falsche Kompromisse einer Sache und dem Leser angemessen ist. 10 11 Ich habe Günther Anders in den letzten zehn Jahren seines In Summe kann Günther Anders wohl als einer der bedeu Lebens immer wieder getroffen, mit ihm diskutiert und dabei tendsten Philosophen der modernen technischen Zivilisation auch die Gelegenheit gehabt, seinen scharfen Intellekt, seine gelten - gerade weil er sich, ohne in einen vormodernen Ro präzise Sprache und seine bis zuletzt unbeugsame Haltung aus mantizismus zu verfallen, deren Diktat nicht beugen wollte. der Nähe kennenzulernen. Aus dieser Begegnung und der da Früher als andere Zunftgenossen versuchte er, sich dem Phäno mit verbundenen Beschäftigung mit seinem Werk entstand eine men einer vollständig technisierten Welt zu stellen, wobei ihn Einführung in seine Philosophie, die 1988 in erster und 1993 vor allem das Verhältnis des Menschen zur von ihm selbst ge in einer erweiterten Auflage erschien.3 Was die Darstellung der schaffenen Technik interessierte. Anders diagnostizierte ein Grundzüge des Denkens von Günther Anders betrifft, konnte fundamentales «prometheisches» Gefälle zwischen dem unvoll ich mich bei der Abfassung des vorliegenden Buches auf die kommenen Menschen und seiner immer perfekter werdenden zentralen Kapitel dieser mittlerweile vergriffenen Einführung Technik, das ihn zu seiner vieldiskutierten These von der «An stützen. Nicht nur aus der Distanz der Jahre, die manches doch tiquiertheit des Menschen» führte, die wenig von ihrer Brisanz in einem anderen Licht erscheinen läßt, sondern vor allem auch eingebüßt hat. Seine Analysen des Fernsehens etwa erweisen erst in Hinblick auf die ungebrochene Aktualität der Philosophie im Zeitalter von Reality-TV und CNN-Nachrichten ihre eigent von Günther Anders im Lichte der gegenwärtigen technologi liche Relevanz und verblüffende Erklärungskraft, sein uner schen Revolutionen wurden diese Kapitel allerdings an vielen schütterlicher Kampf gegen totalitäre Systeme und die atomare Stellen umgearbeitet, neu akzentuiert und erweitert. Um die Bedrohung ist gerade in einer Zeit hochaktuell, die offenbar Lesbarkeit des Buches nicht über Gebühr zu erschweren, wur gerne vergißt, daß noch immer Tausende Atomsprengköpfe ne den die Hinweise auf die Sekundärliteratur zu Günther Anders ben unzähligen B- und C-Waffen lagern, seine radikalen Re und auf die Debatten, die Anders mit seinen Thesen seinerzeit flexionen zu Auschwitz und Hiroshima können heute schon ausgelöst hatte, auf das notwendige Minimum beschränkt. Im wieder als provozierender Kommentar zur gegenwärtigen Erin Zentrum sollte die Darstellung eines Denkens stehen, das stets nerungskultur gelesen werden und seine Überlegungen zum unmittelbar ernst genommen werden wollte. Verhältnis von Moral und Technik könnten der bio- und gen ethischen Diskussion der Gegenwart einige entscheidende Im Ich danke dem Verlag C.H. Beck, der mit dem Werk von pulse geben. Günther Anders ist aber auch als Tagebuchschrei Günther Anders untrennbar verbunden ist, und seinem gedul ber, Kulturkritiker und Essayist wiederzuentdecken, als Verfasser digen Lektor Raimund Bezold für die Bereitschaft, die nun vor von scharfzüngigen Kommentaren, die kaum etwas von ihrer liegende Neufassung meiner Monographie über Günther An diagnostischen Schärfe eingebüßt haben, als unduldsamer Au ders anläßlich des 100. Geburtstages und 10. Todestages des tor von Polemiken, an deren stilistischer Brillanz man sich auch großen Philosophen und Moralisten zu veröffentlichen. Gün dann delektieren kann, wenn man ihre Auffassungen nicht teilt. ther Anders zu gedenken kann nicht nur bedeuten, sich der Er Und erst in letzter Zeit wird - durch die sukzessive Herausgabe gebnisse oder Methoden einer Philosophie zu vergewissern. Es seines philosophischen Frühwerkes - deutlich, daß schon der muß auch bedeuten, seine Philosophie an unserer Zeit und un junge Günther Anders nicht nur eine bestürzend zeitgemäße sere Zeit an seiner Philosophie zu messen. Dazu einen Beitrag und originelle negative Anthropologie skizziert hatte, sondern zu leisten war die Intention dieser Arbeit. auch einer der ersten und hellsichtigsten Kritiker der Philoso phie Martin Heideggers und ihrer Implikationen gewesen war. Wien, im Januar 2002 Konrad Paul Liessmann 12 des bekannten Psychologenehepaars Clara und William Stern geboren. Sein Vater hatte eine Philosophie des Personalismus entworfen, er gilt als Begründer der differentiellen Psychologie Ein Leben - ein Jahrhundert und hat den Begriff Intelligenzquotient geprägt- Die Psychologie der frühen Kindheit von William und Clara Stern gilt bis heute Das Leben des Philosophen Günther Anders deckt sich nahezu als Standardwerk. Das darin verarbeitete Material beruhte fast mit dem vielleicht bislang grausamsten Jahrhundert der ausschließlich auf Beobachtung der eigenen Kinder - Hilde, Menschheitsgeschichte. Am Beginn des von dem englischen Günther und Eva: «Jede Bewegung, jede neu gesprochene Silbe Historiker Eric Hobsbawm sogenannten «kurzen» 20. Jahr wurde in einem der für jedes Kind angelegten schwarzen Bücher hunderts,1 bei Ausbruch der Russischen Revolution, war festgehalten. Das geschah meistens vor den Kindern verborgen, Günther Anders fünfzehn Jahre alt und Mitglied einer parami manchmal aber saß die Mutter unauffällig vor den Kindern um litärischen Einheit an der Westfront; und das Ende dieses Jahr mitzustenographieren ... Die Kinder wurden mithin in allen hunderts, den Zusammenbruch des Kommunismus in Ost Lebenslagen beobachtet, nichts sollte den Eltern entgehen. Die europa im Jahre 1989, kommentierte der Philosoph, wenn Kinder waren nicht nur Kinder, sie waren Studienobjekte, Ge auch von schwerer Krankheit gezeichnet, mit wachem Ver genstände, durch die zahlreichen Publikationen der Eltern frei stand. In doppeltem Sinn sind die Vita von Günther Anders von gegeben für die wissenschaftliche Auswertung.»3 den Ereignissen dieser Epoche nicht zu trennen: sie prägen sein Günther dürfte erst im Laufe der Pubertät erfahren haben, Leben, und indem sie sein Leben prägen, werden sie zum Aus daß seine Eltern über seine Entwicklung peinlich genau Buch gangspunkt und Gegenstand seines Denkens. Die Konturen geführt und diese Aufzeichnungen auch veröffentlicht hatten. des Lebens von Günther Anders wenn auch nur flüchtig nachzu Auch wenn sich William und Clara Stern strikt gegen eine psy zeichnen - eine umfassende Biographie steht immer noch aus2 - choanalytische, an der sexuellen Entwicklung orientierte Deu bedeutet deshalb, jene Impulse zu vermerken, ohne die seine tung der frühen Kindheit wehrten, enthält die Psychologie der Philosophie nicht denkbar gewesen wäre. Anders hat sich selbst frühen Kindheit natürlich genug intime Details, die Günther immer als «Gelegenheitsphilosoph» bezeichnet - und das be und seinen Schwestern später unangenehm gewesen sein könn deutete, daß er dann philosophierte, wenn sich eine Gelegen ten. Möglich, daß das Bestreben von Günther, sich von seinem heit bot oder aufdrängte. Seine Reflexionen entzündeten sich Vaternamen zu distanzieren und sich einen «eigenen Namen» zu nicht an den Texten der Tradition oder an den Debatten der machen, in dieser wissenschaftlichen Instrumentalisierung sei philosophischen Sekundärliteratur, sondern an den Erfahrun ner Kindheit durch den Vater eine ihrer Wurzeln hat,4 auch gen eines von Verfolgung, Krieg, Emigration, sozialen Um wenn Günther Anders selbst zumindest offiziell seine Eltern in brüchen und technologischen Innovationen gekennzeichneten Ehren gehalten hat und im 1952 geschriebenen und mit Stern- Alltags. Zahlreiche in Tagebüchern festgehaltene Aufzeichnun Anders unterzeichneten «Geleitwort» zu den späteren Aufla gen sind deshalb bei ihm auch kaum von seinem philosophischen gen der Psychologie der frühen Kindheit ausdrücklich betonte, Werk zu trennen, das selbst wiederum kein Hehl aus den unmit daß die Beobachtungen des Wissenschaftlerehepaars an den telbaren Anlässen der philosophischen Arbeit macht, ohne damit eigenen Kindern «niemals etwas anderes (gewesen waren) als den Anspruch auf Verbindlichkeit und Gültigkeit aufzugeben. ein Teil der <Achtung>, die die Eltern (ihren) Kindern entge Günther Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau als Sohn genbrachten».5 Immer, so Anders, seien den Eltern die Kinder 14 15 und die Beziehung zu diesen wichtiger gewesen als das psycho Blindheit, die nicht ohne Auswirkungen auf die Erziehung des logische Resultat. Kindes blieb: «Nicht im Traume wäre es ihm eingefallen, mich, Obwohl als Kind also selbst Objekt der forschenden Neugier den er sonst ja zu einem Menschen zu bilden versuchte, gegen des Vaters, bleibt Anders diesem dennoch ein Leben lang ver die militaristische Atmosphäre der Schule oder gegen die kriegs bunden - auch wenn dieses Verhältnis alles andere als konflikt lüsterne Jahrhundertausstellung argwöhnisch zu machen.» (Be frei gewesen ist. In einer später anläßlich eines Besuches von such im Hades, S. 166) 1942, anläßlich seines 40. Geburtstages, Breslau im Jahre 1966 erinnerten Kindheitsszene, deren Ein schrieb Günther Anders das Gedicht «Vor dem Spiegel», das dringlichkeit man sich kaum entziehen kann, wird dem Kind, sein Verhältnis zu dem Vater reflektierte: das unter dem Klavier sitzt, der Vater, der Schuberts Erlkönig singt, zur Antizipation und zum Inbegriff von Hilflosigkeit, So ähnlich, Vater, sahst du aus. Schrecken, Tod, damit aber auch von Menschlichkeit: «Und Man trug dich mit Musik heraus. dort oben im zweiten Stock muß sie hängen, die Szene, als er, Ist gar nicht solange her. Vater, mit rauher Stimme [...] mein Vater, mein Vatter! rief, Dein Lebenstisch war gut gedeckt panische Hilferufe, mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich mit Arbeit, Freude und Respekt. an!, man stelle es sich vor: Vater, der voller Angst nach Vater Ja, Vater, du warst schon wer. ruft...» (Besuch im Hades, S. 127). Für das entsetzte Kind bricht in dieser Szene mehr als das Vaterbild zusammen: «da Jawohl, mein Vater, du warst klug. mals nämlich, da er selbst nach einem Vater schrie, [hat er] mein An einer Frau hattst du genug, Vertrauen in ihn als den Gottvater zerstört», und «von Stund an die hattst Au täglich lieb. [ist er] für mich nur noch auch ein Mensch gewesen». (Besuch Und jedes zweite Jahr lag frisch im Hades, S. 128) ein neues Buch auf deinem Fisch. Es ist der Vater, der ihm dann auch zum Paradigma des assi Du warst kein Fagedieb. milierten Juden wird, der für diese Anpassungsleistung mit dem Verlust politischer Reflexionsfähigkeit bitter zu bezahlen hatte: «Vaters Kritiklosigkeit», schrieb Günther Anders später, «na der Liebe hast du zwar genügt, mentlich sein naiver Patriotismus, geht mir durch den Kopf. Wie jedoch der Wahrheit kaum. ist dieser Mangel an Urteil mit seiner Intelligenz, und wie seine politische Ängstlichkeit mit seiner sonstigen Integrität zu ver Du trautest blindlings der Kultur. einbaren?» Und spätestens zu diesem Zeitpunkt schob sich wohl Im Übel sahst du Irrtum nur. ein Moment der Fremdheit zwischen Vater und Sohn: «nach Der Fortschritt war gewiß. den Erfahrungen, die wir gemacht haben, ist er als Typ kaum Fern lag dir jede Schlechtigkeit. mehr verstehbar». (Besuch im Hades, S.165) Daß William Doch war für dich Gerechtigkeit Stern, der sich zwar nie hatte taufen lassen, aber auch keine Ver stets gleich mit Kompromiß. bindungen zur jüdischen Tradition pflegte, seine Karriere an deutschen Universitäten dem liberalen Staat zu verdanken glaubte, schlug ihn, in den Augen des Sohnes, mit politischer Als schließlich das Gewitter brach, 16 17 zerschlug der erste Schlag dein Dach, «wohlfeil erworbenes Alibi» jener Kirche interpretieren kön hätt' beinah dich gefällt. nen, die den Tod von Millionen Juden «ohne Protest» hinge Hättst du doch damals dich ermannt, nommen hatte (Besuch im Hades, S. 22ff). Und sich selbst und ohne falsche Scheu bekannt: hatte Anders als einen der «Letzten in einer Reihe von deut ich diente der falschen Welt. schen Juden» bezeichnet, die «Deutschland als ihre Heimat, die Heimat, die deutsche Sprache als die Sprache, die deutsche [...] Musik als die Musik» angesehen hatten - bis die Nazis dieser Ja, Vater, das ist ausgeträumt. deutsch-jüdischen Symbiose ein Ende machten: «Nach uns Solch Leben hab ich nun versäumt. kommt keiner mehr, der sich als deutscher Jude bezeichnen Mein Vierzigstes begann. und fühlen oder gar in die deutsche Geschichte eingehen Doch denke nicht, daß ich bereu. wird.» (Mein Judentum, S. 240) Nicht durch eine religiöse Auch ich blieb meiner Sache treu: Tradition, sondern als Verfolgter, als Heimatloser, als Gerade - und die fängt morgen erst an. noch-Davongekommener hat Anders dann auch sein Judentum (Tagebücher und Gedichte, S. 282 f.) erfahren und bestimmt (Mein Judentum, S. 249). Doch zurück zur Chronologie. Nach dem Ersten Weltkrieg Der Heranwachsende beschäftigt sich fast ausschließlich mit studierte Anders bei Cassirer und Panofsky Philosophie und Musik und Malerei. 1915 übersiedelt die Familie nach Ham Kunstgeschichte, später in Freiburg Philosophie bei Husserl burg, zwei Jahre später muß der 15jährige Schüler mit einem und Heidegger. Bei Husserl promovierte er dann auch 1923 paramilitärischen Verband nach Frankreich und wird zu einer über Die Rolle der Situationskategorie bei den <Logischen Sät entscheidenden Erfahrung gezwungen: «Dort wurde ich bereits zen >, eine Arbeit, mit der er sich allerdings schon vorsichtig von von meinen Klassenkameraden, ich war der einzige Jude in der der Phänomenologie Husserls zu distanzieren beginnt. Ein Klasse, ich kann beinahe sagen, gefoltert».6 Daß es nicht auf die Angebot Husserls zur Zusammenarbeit lehnte Anders ab, er Religion ankommt, damit einem sein Jude-Sein schmerzhaft wechselt nach Marburg zu Heidegger. In Heideggers Marbur bewußt gemacht wird - diese Einsicht bestimmte dann auch das ger Seminar lernte Anders 1925 auch Hannah Arendt kennen, spezifische Judentum des Atheisten Anders: eine Solidarität mit die er vier Jahre später in Berlin wiedersehen und bald darauf den Verfolgten, die noch spürbar ist in seinen Reflexionen über heiraten wird. Während Anders wohl aufrichtig an der brillan das Schicksal der Edith Stein, jener Edith Stein, die ebenso ten jungen Philosophin interessiert gewesen war, hatte Arendt Schülerin seines Vaters gewesen war wie seines späteren Lehrers in dieser Ehe wohl vor allem die Enttäuschungen ihrer Liebe zu Husserl, und der es nichts genutzt hatte, Thomistin, Katholi Martin Heidegger zu vergessen versucht. Ausgerechnet gegen kin, sogar Karmeliterin zu werden: «Denn nicht anders als die über Heideggers Frau Elfriede hatte Arendt später bekannt, niemals Getauften ist auch sie [...] in Rauch aufgegangen.» daß sie damals aus Marburg fortgegangen sei, «fest entschlos Daß man dieses «anachronistische», «bejammernswerte und sen, nie mehr einen Mann zu lieben», und sie habe dann gehei überspannte Judenmädchen», das gerade in demjenigen Au ratet, «irgendwie ganz gleich wen, ohne zu lieben». 7 genblick sich «restlos zu assimilieren hoffte, in dem das Zeital Anders arbeitete als Kulturjournalist in Berlin und Paris, wur ter der Assimilation sein Ende gefunden hatte», dann zu kano de dann kurzzeitig Assistent von Max Scheler und publizierte nisieren gedachte, hatte Anders schon damals, 1966, nur als 1928 seine erste philosophische Schrift: Über das Haben. Eine 18 19 akademische Karriere schien denkbar, und er faßte eine Habili kritisch gedeutet worden, vor allem, weil Recherchen ergeben tation zu Fragen der Musikphilosophie ins Auge. Die bis heute haben, daß Anders beileibe nicht so viele Artikel für den Börsen- unveröffentlichten Philosophischen Untersuchungen über musi Courier geschrieben hat, wie diese Anekdote vermuten läßt.9 kalische Situationen versuchten eine Philosophie der Musik zu Auszuschließen ist sicher die These, daß Anders durch seine entwerfen, die weder von der objektivierten Formensprache Namensänderung seine jüdische Herkunft verbergen und sich der Musik noch von ihrer subjektiven Emotionalität ausgehen, «aufnorden» wollte. (Mein Judentum, S. 234) Die Vermutung, sondern an der musikalischen «Situation» phänomenologisch daß sich hinter der Namensänderung, wie oben angemerkt, der ansetzen wollte, also an dem Moment, in dem Musik erklingt Versuch verbergen könnte, sich aus dem Bann des Vaters zu be und gehört wird. Diese Habilitationspläne konnten jedoch freien, kann dagegen einige Plausibilität für sich beanspruchen. nicht realisiert werden - nach Anders' eigener Darstellung, weil Noch in Texten der Exilzeit spielt der Gedanke, sich einen eige «die politische Atmosphäre bereits scharf zu werden begann» nen Namen machen zu müssen, für Anders eine große Rolle.10 und Paul Tillich ihm geraten hatte, abzuwarten, bis der Nazi- In einem Gedicht aus dieser Zeit heißt es, fast überdeutlich: Spuk vorbei sei, aber auch, weil er durch die Bekanntschaft mit «Sternfiguren, die noch Namen brauchen». (Tagebücher und Adorno eingesehen habe, daß dieser ihn auf dem Gebiet der Gedichte, S. 372) Der gewagten Deutung der Namensgebung Musik «turmhoch» überrage. (Günther Anders antwortet, S. «Anders» als unvollständiges Anagramm für «Arendt»11 hat 171) Tatsächlich dürfte die Habilitation wohl gegen den Willen Anders allerdings noch zu Lebzeiten heftig widersprochen. Anders' am Einspruch Adornos gescheitert sein. Wie aus dem Im Nationalsozialismus sah Günther Anders eine Gefahr, die unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Anders und Adorno er, schon damals mit einem anscheinend untrüglichen Sinn für hervorgeht, hat Adorno durchaus zugegeben, die Arbeit abge gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen behaftet, lehnt zu haben, weil er ihre musikalische Basis als zu schmal frühzeitig, ja, wie so oft, auch früher als andere erkannte. 1928 empfunden habe; in einem Brief aus dem Jahre 1963 hat An liest er Mein Kampf, wofür er von seinen Freunden, die Hitler ders nachträglich Adorno recht gegeben: «Was Musikphilo «idiotischerweise nur den <Anstreicher> nannten», durch den sophie betrifft, so würde ich heute übrigens Ihren Monopol «Kakao» gezogen wird. Er hingegen nimmt dieses «gemeine, anspruch als völlig rechtmäßig anerkennen (so wie meinen für haßfreudige, zum Hassen aufreizende, achtelgebildete, feier Bildinterpretation). »8 liche, rhetorisch mitreißende [...] unbestreitbar höchst intel Der heraufdämmernde Faschismus zerschlägt diese Pläne, der ligente Buch» zutiefst zur Kenntnis und weiß, «dieser Mann junge Philosoph beginnt beim Börsen-Courier - auf Vermitt sagt, was er meint, und er meint, was er sagt. Und er sagt es so lung von Bert Brecht - als «Knabe für alles» zu schreiben, bis vulgär, daß er für Vulgäre unwiderstehlich sein wird und selbst der damalige «Kulturpapst» im Börsen-Courier, Herbert Ihe- Nicht-Vulgäre vulgär machen und mitreißen wird». Und auf ring, angeblich einmal meinte, es könnten nicht die Hälfte aller die Frage, ob es denn in seinem Leben etwas gebe, das er heute Artikel mit Günther Stern unterzeichnet sein - «Dann nennen noch bereue, nicht getan zu haben, antwortete Günther An Sie mich noch irgendwie anders», schlug der Angesprochene ders dann auch einmal: Ja, daß er Hitler damals nicht getötet vor -, und begann unter dem Namen zu publizieren, unter dem habe. (Ketzereien, S. 334f.) er auch bekannt geworden ist: Günther Anders (Günter Anders In den Jahren 1930 bis 1932 arbeitet Anders an dem anti antwortet, S. 90). Diese von Günther Anders selbst immer wie faschistischen Roman Die molussische Katakombe, der weder in der kolportierte Form seiner Namensänderung ist mittlerweile Deutschland noch in Frankreich erscheinen konnte. Dieser 20 21

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