Andreas Gebesmair Grundzüge einer Soziologie des Musikgeschmacks Andreas Gebesmair Grundzüge einer Soziologie des Musikgeschmacks Andreas Gebesmair Grundzüge einer Soziologie des Musikgeschn1acks Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme I. Auflage September 2001 Alle Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 2001 Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden 2001 Lektorat: Dr. Tatjana Rollnik-Manke [email protected] www. westdeutschervlg.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhe berrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt ISBN 978-3-531-13667-7 ISBN 978-3-663-10239-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-10239-7 Inhalt Vorwort. ................•..•......................•.....•...................•.•.................•..•.•................ 9 1. Einleitung: Klasse, Mobilität, Musikgeschmack. •.......................•............ 11 1.1 "Klasse" und Musikgeschmack ............................................................... 12 1.2 Musikgeschmack zwischen Stabilität und Veränderung ......................... 15 1.3 Aufbau der Arbeit ................................................................................... 18 1.4 Drei Vorbemerkungen ............................................................................ 20 Teil 1: Die psychologischen Grundlagen einer Soziologie des Musikgeschmacks ........•.....•.•...................................................................... 23 2. Musikgeschmack in Ästhetik und Psychologie: Abgrenzung und Anknüpfungspunkte ...............•.•...........................•.•................................... 25 2.1 Historische Wurzeln der Beschäftigung mit "Geschmack" ..................... 26 2.2 Der "gute Geschmack" als Gegenstand der Philosophie ......................... 29 2.3 Die psychologischen Grundlagen am Beispiel der Dissonanztheorien von Hermann von Helmholtz und Carl Stumpf. ...................................... 38 2.4 Die Sozialisation als Vermittlung zwischen Gesellschaft und individuellem Musikgeschmack .............................................................. 44 3. Was ist Musikgeschmack?-Erste Definitionen ...................................... 47 3.1 Zur Aufnahmefiihigkeit von musikalischer Information ......................... 48 Exkurs: "Missverstehen" als Normalfall der Musikrezeption ................. 53 3.2 Habitualisierte Strategien als Grundlage des Geschmacks ...................... 55 3.3 Hörstrategien .......................................................................................... 63 3.4 Soziale Strategien ................................................................................... 68 4. Wie misst man Musikgeschmack? - Operationale Definitionen ............ 76 4.1 Alltagssituation und Befragungssituation ............................................... 77 4.2 Drei Dimensionen der Einstellung .......................................................... 83 4.3 Einstellung und Verhalten ....................................................................... 89 4.4 "Klingender Fragebogen" und Beurteilung von (Genre-)Begriffen ........ 92 5 5. Beschreibung der Determinanten ............................................................. 99 5.1 Strukturen der Rezeption, Strukturen des Alltags ................................. 100 5.2Alter, Geschlecht, Ethnie ...................................................................... IOI 5.3 Persönlichkeit ....................................................................................... 105 5.4 Sozio-ökonomische Faktoren ................................................................ 106 5.5 Mobilität als Determinante des Musikgeschmacks: Defmitionen und Ausblick ................................................................................................ 111 Teil II: Grundzüge einer Soziologie des Geschmacks ................................. 121 6. Geschmack als Kapital: Zur Klassentheorie Pierre Bourdieus ............ 123 6 .I Praxisökonomie .................................................................................... 124 6.2 Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital... ................................ 127 6.3 Habitus .................................................................................................. 131 6.4 Sozialer Raum ....................................................................................... 135 Exkurs: Die Rolle der Bildungseinrichtungen in der Reproduktion sozialer Ungleichheiten. Einige kritische Anmerkungen zur Musikpädagogik ................................................................................... 138 6.5 Konkretisierung der Einwände gegen Bourdieus Klassentheorie ......... 150 7. Geschmack und Lebensstil: Zur Individualisierungsthese und zur Milieutheorie Gerhard Schulzes ............................................................. 155 7 .I Zeitdiagnose: Die westeuropäische Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ................................................................... 157 7.2 Individualisierung: Risiko und Chance ................................................. 163 7.3 "Erlebe dein Leben": Zur psychophysischen Semantik der Erlebnisgesellschaft .............................................................................. 166 7.4 Wie entstehen Milieus? ......................................................................... 172 7.5 Einige Einwände gegen Schutzes Milieutheorie ................................... 17 4 8. Die Grundlagen der Geschmacksbildung empirisch bewertet .............. 183 8.1 Mythos Mobilität? ................................................................................ 186 8.2 Bildungsexpansion und Mobilität ......................................................... 195 8.3 Breiter Geschmack als kulturelles Kapital ............................................ 199 8.4 Das multikulturelle Kapital der "Omnivores": Zu aktuellen Tendenzen des Musikgeschmacks in den USA ..................................... 204 8.5 Die Bedeutung des Musikgeschmacks als kulturelles Kapital und die Bedeutung des kulturellen Kapitals in der Reproduktion der gesellschaftlichen Ungleichheiten ......................................................... 213 6 9. Strukturen der Rezeption: Umweltbedingungen der Bildung und Veränderung von Musikgeschmack ...........•....•...•.•.•....•.•...•...........•.•...... 216 9.1 Massenkommunikationsmedien ............................................................ 219 9.2 Öffentliche Darbietung ......................................................................... 23 0 9.3 Aktives Musizieren ............................................................................... 234 Epilog: Musik als "Gabe". Tonträgertausch und soziale Strategien ......... 237 Literatur .............................................•..............•.•......•...•.•..•..••.•.................•.. 247 7 Vorwort Der Zusammenhang von Sozialstruktur und Geschmack bzw. von sozialer Lage und Lebensstil ist nicht erst seit sich die Konsumgüterindustrie fiir die Käuferin nen ihrer Produkte interessiert Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Das Interesse an dieser Frage wuchs mit dem Bedürfhis, die Reproduktion ge sellschaftlicher Unterschiede aber auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verstehen und zu erklären, und stand somit an der Wiege der modernen Soziolo gie. Thorstein Veblen, Georg Simmel und Max Weber beschäftigten sich schon um die Wende zum 20. Jahrhundert mit Fragen dieser Art. Und in die Musik publizistik gerieten ähnliche, wenn auch in polemischer Absicht verfasste Über legungen bereits im 18. Jahrhundert, als sich im "Buffonistenstreit" der soziale Konflikt zwischen Adel und Bürgertum auch an einer Geschmacksfrage entzün dete. Aus diesem Grund sieht man sich bei der Beschäftigung mit Musikge schmack aus einem soziologischen Blickwinkel einer reichen Forschungstradi tion und einer Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten gegenüber. Da außerdem der Gegenstand von seinem Charakter her an der Schnittstelle von Psychologie und Soziologie angesiedelt ist, zwingt die Auseinandersetzung mit diesen Fragen den Soziologen dazu, sich in Gebiete vorzuwagen, die weit jenseits der Grenzen der eigenen Disziplin liegen. Wenn auch diese Untersuchung vom Wunsch geleitet ist, das heterogene Material so gut und umfassend wie möglich aufzuarbeiten und zu integrieren, so darf nicht geleugnet werden, dass ein derartiges Unterfangen fragmentarisch bleibt. Während im "soziologischen" zweiten Teil der Arbeit die Argumentation in Details vordringt, die manchem Leser überflüssig erscheinen mögen, so wird im psychologischen (und philosophischen) ersten Teil einiges nur angedeutet, angedacht und vor allem eher kursorisch denn umfassend berücksichtigt. Den noch scheint mir gerade in diesem interdisziplinären Ansatz die einzige Mög lichkeit zu liegen, dem komplexen Thema gerecht zu werden. Die Ausfiihrungen knüpfen an historischen Problemstellungen an, versuchen das vorhandene Material neu zu ordnen, in eine übersichtliche Struktur zu brin gen, die referierten Thesen kritisch zu reflektieren und diese Kritik bis an jenen Punkt voranzutreiben, wo dann Neues entsteht, sich "originäre" Ansätze abzu- 9 zeichnen beginnen. Wissenschaftlerinnen sprechen ungern die Tatsache aus, dass sich wissenschaftliches Arbeiten über weite Strecken in vertrauten Bahnen bewegt. In einem Wissenschaftsbetrieb, wo es zur Gewohnheit wurde, mit jeder Publikation einen weiteren modischen - in der Regel nur wenig präzisierten - Begriff einzuführen und allenthalben vermeintlich neue Paradigmen zu verkün den, scheint mir im sorgfältigen Vergleich verschiedenster Ansätze, im Heraus arbeiten von Gemeinsamkeiten und Gegensätzen die besondere Leistung wissen schaftlichen Arbeitens zu liegen. Darin besteht, so hoffe ich, die Stärke der vor liegenden Studie. Als solche ist sie natürlich den akademischen Standards der Sozialwissen schaft verpflichtet. Nichtsdestotrotz wendet sie sich auch an ein nicht-akademi sches und nicht-soziologisches Publikum, das an der einen oder anderen Frage stellung Interesse hat. Aus diesem Grunde versuchte ich, mich des unter Sozio logen üblichen Jargons nicht unmäßig zu bedienen, mit Beispielen ein gewisses Maß an Anschaulichkeit zu erzeugen und durch Vor- und Rückblicke einen ver ständlichen, zuweilen auch redundanten Gesamtzusammenhang zu erzeugen. An dieser Stelle möchte ich allen herzlich danken, die mir während der mehrjährigen Arbeit an dieser Studie mit wissenschaftlichem Rat, seelischem Trost und technischer Unterstützung zur Seite standen: Georg Adam, Kurt Blaukopf, Johanna Bolterauer, Irmgard Bontinck, Anton Bruckner, Reingard Cancola, Robert Harauer, Hermann Hunger, Günther Kembeiß, Kurt Kladler, Claudia Mazanek, Rudolf Richter, Lioba Reddeker, Alfred Smudits, Harald Wendelin, Neil Young und ganz besonders Bettina Stadler. Ohne ihre Mithilfe hätte die aus einer naiven Neugierde heraus entstandene fixe Idee, sich dieses Themas anzunehmen, gewiss nicht die konkrete Gestalt eines Buches bekom men. Wien, im Mai 2001 10 1. Einleitung: Klasse, Mobilität, Musikgeschmack Unser Alltag ist von einer Vielzahl von Geschmacksurteilen begleitet. Sei es nun die Wahl der Marmelade fürs Frühstücksbrot oder die des Menüs in der Kantine, sei es die Entscheidung für ein bestimmtes Kleidungsstück oder jene, die es im Schallplattenladenangesichts des unüberschaubaren Angebots von CDs zu tref fen gilt. All diesen Tätigkeiten liegen - wenn wir vorerst einmal die Bedingun gen außer Acht lassen, die sie beschränken - Urteile zugrunde, die begehrte Dinge von jenen scheiden, die uns nicht schmecken, gefallen oder wie immer wir unsere Entscheidung aus unserem Gefiihl begründen. Etwas "mögen" oder "nicht mögen", etwas "lieben" oder "hassen", etwas "schön fmden" oder "hässlich", das sind - zumeist in Verbindung mit allen nur erdenklichen Interjektionen und Superlativen - Verbalisierungen einer Klassifikation, mit der wir die sinnlich erfahrbare Welt nach unserem Geschmack ordnen. Die Angebote der "Erlebnis gesellschaft" (Gerhard Schulze) fordern permanent Entscheidungen für oder ge gen etwas, und die Instanz ist, wenn sonst keine Orientierungsmöglichkeiten zur VerfUgung stehen, der eigene Geschmack. Obwohl die Wahl häufig zur Qual wird, erweist sich der eigene Geschmack doch als zuverlässiger Gefährte durch das Dickicht der Angebote: Er hilft, spontan und ohne besondere Anstrengung (man könnte auch sagen: unbewusst oder automatisch), die Streu vom Weizen zu scheiden. Der Griff zur Tageszeitung unseres Vertrauens am Kiosk bleibt ebenso unhinterfragt wie die Wahl der Zigarettenmarke. Und auf der Suche nach dem geeigneten Musiksender genügen wenige Sekunden des "Hineinhörens", um festzustellen, dass uns die gebotene Musik gefällt - oder zumindest als Klangta pete für lästige Arbeiten geeignet erscheint. Was uns gefällt, lässt sich also relativ leicht sagen. Schwerer schon fällt uns die Antwort auf die Frage, warum uns etwas gefällt. Geschmack, zumal guten, hat man oder eben nicht. So oder so ähnlich lauten die billigen Formeln, mit de nen wir zuweilen die Schwierigkeit zu umgehen suchen, eine Wahl zu rechtferti gen. Und dennoch versäumen wir kaum eine Gelegenheit, unsere Geschmacks urteile wortreich zu begründen. Die neuesten Bücher, Filme und Musikproduktionen geben Anlass zu hef tigsten Kontroversen. Und dies nicht bloß in den Feuilletons, sondern auch im 11
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