Erich Wittmann Grundfragen des Mathematikunterrichts Erich Wittmann Grundfragen des Mathematikunterrichts Vieweg . Braunschweig Dr. Erich Wittmann ist o. Professor fUr Didaktik der Mathematik an der Padagogischen Hochschule Ruhr - Abteilung Dortmund Verlagsredaktion: Alfred Schubert, Richard Bertram 1974 Aile Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig, 1974 Softcover reprint of the hardcover 1s t edition 1974 Die Vervielfaltigung und Obertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder auch fiir die Zwecke der Unterrichtsgestaltung gestattet das Urheberrecht nur, wenn sie mit dem Verlag vorher vereinbart wurden. 1m Einzelfall mug iiber die Zahlung einer Gebiihr fiir die Nutzung fremden geistigen Eigentums entschieden werden. Das gilt fur die Vervielf"<iltigung durch aile Verfahren einschlieglich Speicherung und jede Obertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bander, Platten und andere Medien. Satz: Vieweg, Braunschweig Druck: E. Hunold, Braunschweig Buchbinder: W. Langeliiddecke, Braunschweig Umschlaggestaltung: Peter Morys, Wolfenbiittel ISBN-13: 978-3-528-08332-8 e-ISBN-13: 978-3-322-85668-5 DOl: 10.1007/978-3-322-85668-5 v Vorwort Die Didaktik der Mathematik fasse ich auf als die Berufswissenschaft des Mathematik lehrers. 1m vorliegenden Buch habe ich versucht, daraus Konsequenzen zu ziehen. Es kam mir dabei vor allem auf zwei Dinge an: Einmal sollten die verschiedenen Dimensionen des Tatigkeitsfelds eines Mathematiklehrers in ein koharentes System integriert werden; zweitens sollten die theoretischen Oberlegungen auf die praktische Arbeit im Unterricht zugeschnitten und in eine anwendungsbereite Form gebracht werden. Dabei sollte die Unterrichtsplanung voll einbezogen werden (und nicht wegen vermeintlich geringerer "wissenschaftlicher Dignitat" ausgeklammert bleiben). Zu diesem Zweck wurden ein Unterrichtsmodell in den Mittelpunkt gestellt - eine Idee, die dem Buch Psychology of Learning and Instruction von j. P. de Cecco entnommen ist - und die wesentlichen Resultate in Form von didaktischen Prinzipien festgehalten, wie dies H. Karaschewski in seinem von der didaktischen Konzeption her sehr interessanten Buch Wesen und Weg des ganzheitlichen Unterrichts getan hat. Das vorliegende Buch beschrankt sich auf diejenigen Teile der Mathematikdidaktik, die fUr Mathematiklehrer aller Stufen relevant sind. Da es didaktische Perspektiven behandelt, unter denen mathematische Inhalte im Hinblick auf den Unterricht zu sehen und zu be arbeiten sind, mug es natUrlich in engstem Zusammenhang mit didaktischen Darstellungen spezieller mathematischer Inhalte betrachtet werden. Obwohl spezielle mathematische Themen hier nicht behandelt werden, ist die Mathematik trotzdem in ihren strukturellen, erkenntnistheoretischen und allgemein-kulturellen ZUgen durch und durch dominant. Das Buch wendet sich an Didaktiker und Lehrer gleichermagen. Es ist zwar vielfach Ublich - und wird leider auch von vielen Lehrern gewUnscht -, gegenUber Lehrern theoretische Oberlegungen auszuklammern oder zumindest stark zu verkUrzen und moglichst schnell zu der Frage "Wie wird es gemacht?" Uberzugehen. Gerade aus den Erfahrungen mit der Reform des Mathematikunterrichts in den letzten Jahren heraus halte ich diesen Weg fUr nicht vertretbar, wenn man erwartet und wUnscht, dag aus der Praxis eine artikulierte Kritik an didaktischen Konzeptionen erwachst. Es ist daher mein Ziel gewesen, dem Lehrer eine Grundlage anzubieten, auf der er sich mit der zeitgenossischen in- und aus landischen fachdidaktischen Literatur kritisch auseinandersetzen kann. Ich hoffe, dag der spiralige Aufbau des Buches das Verstandnis des systematischen zweiten Teils hin reichend erleichtert. Eine gewisse thematische Abgeschlossenheit des Buches konnte nur durch eine Beschran kung auf die breiten didaktischen Stragen erreicht werden. Einige wichtige Problemkreise, z. B. Differenzierung, Konstruktion und Anwendung von Tests und programmierter Unterricht, wurden nicht thematisiert, weil sie m. E. noch zu wenig ausgearbeitet sind. Es wird aber die Basis dargestellt, auf der sie gegenwartig diskutiert werden. Auch speziel lere Fragen, die hier nicht oder nur am Rande behandelt werden, dUrften sich in vielen Fallen an den einen oder anderen Abschnitt des Buches anlagern lassen. Relativ wenig VI Vorwort erprobt ist der in Abschnitt 11 dargestellte Rahmen zur Unterrichtsplanung. An ent sprechenden Erfahrungen wie uberhaupt an Anregungen, Erganzungen und Kritik jeder Art bin ich sehr interessiert. Das Buch ist fur vielfaltige Zwecke vorgesehen: zum Selbststudium, zum Gebrauch neben Vorlesungen, als Grundlage von Seminaren, zum Gebrauch bei Praktika und als Hilfe zur Unterrichtsvorbereitung. Zahlreiche didaktische Aufgaben sollen der Umsetzung theore tischer Ideen in die Praxis dienen und eine selbstandige Auseinandersetzung mit den im Buch behandelten Fragen anregen. Die mit einem Stern {*} versehenen Aufgaben sind kleinere Projekte, die sich am besten in Kooperation {z. B. in Seminaren} bearbeiten lassen. In einem Anhang des Buches werden L6sungen bzw. L6sungstendenzen angegeben. Eine erste Fassung einzelner Teile des Buches, bei deren Anfertigung mich meine Mit arbeiter D. Heitele, U. Nitsche und W. Schipper unterstiitzt haben, wurde im Sommer 1972 an der Padagogischen Hochschule Ruhr als Skriptum vervielfaltigt. Die Herren S. Avital, j. van Bruggen, j. van Dormolen, O. Schropp, W. Schwirtz und H. Winter haben sich die Muhe gemacht, das Skriptum bzw. einzelne Teile genau zu lesen, und mir fur die Oberar beitung wertvolle Anregungen gegeben. Insbesondere geht die spiralige Konzeption auf einen Vorschlag von Herrn van Bruggen zuruck. Ich m6chte allen Genannten fur ihre Hilfe und Kritik sehr herzlich danken. Mein Dank gilt auch dem Verlag Vieweg, der fur eine schnelle Publikation sorgte. E.W. Dortmund, im Fruhjahr 1974 VII It is, I believe, a fundamental task of the teacher to introduce students to the intellectual life that he, the teacher, really lives. E. E. Moise Wahrend der Arbeit an diesem Buch muSte ich oft an drei Mathematiklehrer meines Er fahrungsbereichs den ken. Es ist fUr den Leser vielleicht ganz nUtzlich, wenn er sie an einem kleinen Ausschnitt ihres Unterrichts fliichtig kennenlernt. Thema der Unterrichtsepisode ist in allen drei Fallen die Behandlung der folgenden Aufgaben auf S. 19 des Lehrbuchs Schmidt/Schmidtlein, Brandneue Mathematik 1: o )) t} (Auf S. 19 unten befindet sich folgender Hinweis fUr den Lehrer: Mit verschiedenen Farb stiften sind die zweielementigen Teilmengen der angegebenen Grundmengen auszugliedern.) Lehrer Max H. Herr H. fordert die Kinder auf. Seite 19 aufzuschlagen und bei der Menge in Aufgabe 3 aile Teilmengen mit zwei Elementen verschiedenfarbig auszugliedern. Den Kindern, die es allein nicht schaffen, zeigt er unter BenUtzung der Hinweise im Lehrerhandbuch, wie "es geht". Aufgabe 4 wird ebenso gelost. AnschlieSend wendet man sich S. 20 zu. Herr H. "nimmt Mengenlehre durch", weil sie im Buch vorkommt. Ansonsten halt er sie fUr blanken Unsinn. ("Was dieser Dienes gestern im Fernsehen gezeigt hat, sind doch Kinkerlitzchen. Die Kinder sollen lieber ordentlich rechnen lernen.") VIII lehrerin Anne Z. Frau Z. ftihrt eine Vorbesinnung tiber mathematische und psychologische Voraussetzun gen der SchUler durch, tiberlegt sich einen netten Einstieg und sorgt fUr eine angenehme Atmosphare und adaquate lernhilfen. Sie gibt den Kindern Gelegenheit, tiber ihre losun gen zu berichten und die Aufgaben 3 und 4 zu vergleichen. Sie laBt die Kinder selbst weitere Aufgaben erfinden. Frau Z. behandelt Mengenlehre, weil es der Lehrplan verlangt. Sie ist davon Uberzeugt, daB Mengenlehre sehr wichtig sein muB. Ein wesentliches Argument fUr die Mengenlehre ist ftir sie weiter, daB die Kinder so etwas eigentlich ganz gerne machen. ("Was dieser Professor Dienes gestern im Fernsehen gezeigt hat, war wirklich ganz phantastisch.") lehrerin Marion K. Frau K. tiberlegt sich Uber die von Frau Z. entwickelten Aktivitaten hinaus, welche Rolle die Aufgaben im Kurs spielen, d. h. wodurch sie vorbereitet sind und wie sie spater fort gesetzt werden. Sie analysiert die Aufgaben danach, welche intellektuellen Fahigkeiten geschult werden sollen und welche verschiedenen Losungswege moglich sind. Frau K. behandelt Mengenlehre nicht nur, weil es der Lehrplan fordert, sondern weil sie die in der Mengenlehre liegenden Moglichkeiten zur kognitiven ErschlieBung der Welt sieht. Die Realisierung dieser Moglichkeiten halt sie fUr nicht leicht. (,,1 nhaltlich war es ganz interessant, was Dienes gestern im Fernsehen gezeigt hat. Er hatte aber nur 10 Kinder. Noch dazu redete er fast standig tiber deren Kopfe hinweg. ") IX Inhalt Einfiihrung 1. Ort und Aufgabe der Mathematikdidaktik 2. Theorie und Praxis 4 3. Unterrichtenlernen nach dem Spiralprinzip 6 Teill: Unterrichtsmodell und intuitive Planung des Mathematikunterrichts 4. Das Unterrichtsmodell von R. Glaser 8 4.1. Grobe Beschreibung des Unterrichtsmodells von Glaser 9 4.2. Lerninhalte und Lernziele 10 4.3. Voraussetzungen bei dem Schiiler und Aktivierung des Schiilers 12 4.4. Lehrverfahren 13 4.5. Oberprufung des Lernfortschritts und der Lernergebnisse 18 4.6. Bemerkungen zum Unterrichtsmodell 19 5. "Erziehungsphilosophie" der Mathematikdidaktik 21 6. Praktische Hinweise zur Unterrichtsvorbereitung von einer intuitiven Basis aus 25 Teil 2: Elemente einer Theorie des Mathematikunterrichts 7. Der Problemkreis "Allgemeine Lernziele" 27 7.1. Curriculumforschung und Mathematikdidaktik 27 7.2. Die Problematik "allgemeinster" Lernziele 30 7.3. Allgemeine Lernziele fur den Mathematikunterricht 32 x Inhalt 8. Elemente der Psychologie des Mathematiklernens und didaktische Prinzipien 41 8.1. Die genetische Erkenntnistheorie und Psychologie von J. Piaget 41 8.1.1. liel der Piagetschen Forschungen 41 8.1.2. Ansatzpunkte der Theorie 42 8.1.3. Die Aquilibrationstheorie 43 8.1.4. Die Stufentheorie Piagets 52 8.1.5. Foigerungen aus der Piagetschen Psychologie fUr den Mathematikunterricht 59 8.1.6. Bemerkungen zur Redundanztheorie des Lernens 65 8.2. Die Theorie von J. S. Bruner 65 8.2.1. Das Spiralprinzip 66 8.2.2. Enaktiv - Ikonisch - Symbolisch (EIS) 69 8.2.3. Anwendungen der Reprasentationsmodi 71 8.3. Die Lerntheorie R. M. Gagnes 74 8.3.1. Allgemeine Lernbedingungen 75 8.3.2. Die Gagnesche Hierarchie 76 8.3.3. Lernen von Begriffen 77 8.3.4. Lernen von Regeln 80 8.3.5. Problemlosen (aus der Sicht Gagnes) 80 8.4. lur Psychologie der kognitiven Strategien 81 8.4.1. Bewertung kognitiver Strategien 81 8.4.2. Bedingungen fur die Forderung kognitiver Strategien 83 8.4.3. Bemerkung 84 9. Operationalisierung von Lernzielen und Lernzielanalyse 90 9.1. Operationalisierung von Lernzielen 90 9.2. Anwendungen der Gagneschen Lerntheorie 93 9.3. Anwendungen der Bloomschen Taxonomie (oder ahnlicher Taxonomien) 93 10. Methoden zur Konstruktion mathematischer Lernsequenzen 97 10.1. Die genetische Methode 97 10.1.1. Einzelbeitrage zur Ausformulierung der genetischen Methode 98 10.1.2. Drei Standpunkte bei der Mathematisierung 107 10.2. Sequenzieruog aufgrund deduktiver Darstelluogen mathematischer Theorien 109 ("HeruntertransformierenU) 10.3. Sequenzierung auf der Grundlage von Lernzielanalysen 110 10.4. Bewertung der Methoden 110 10.4.1. Das genetische Prinzip 110 10.4.2. Kritik an deduktiven Imitationen 111 10.4.3. Kritik am lernzielorientierten Unterricht 113 10.4.4. Axiomatik, Operationalisierung und SchUierinitiative im genetischen Unterricht 114 10.5. lur praktischen Realisierung des genetischen Prinzips im Mathematikunterricht 116 10.5.1. Eingehen auf das Vorverstandnis der SchUler 116 10.5.2. Konstruktion von Problemkontexten 116 10.5.3. Weitere Fragestellungen 116 10.5.4. Standpunktverlagerungen 116 Inhalt XI 10.5.5. Forderung kognitiver Strategien 117 10.5.6. Einige Beispiele 117 10.5.7. Anhang: Typen von Aufgaben und Problemen 120 11. Unterrichtsplanung und Unterrichtsanalyse auf systematischer Basis 123 11.1. Rahmen fUr die Unterrichtsplanung 123 11.1.1. Intuitive Vorarbeit 124 11.1.2. Systematische Herstellung einer Entscheidungsbasis (Didaktische Analyse) 124 11.1.3. Lehrstrategie 125 11.1.4. Enige technische Hinweise 128 11.2. Ein Beispiel fUr Unterrichtsplanung: Nomogramme und negative Zahlen im 128 4. Schuljahr 11.3. Unterrichtsanalyse 140 Anhang: Angabe von Losungstendenzen bzw. Hinweise zu den Aufgaben 145 Literaturverzeichnis 158 Sachverzeichnis 162