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Grundfragen der Erkenntnistheorie De-Gruyter-Studienbuch PDF

568 Pages·1981·26.635 MB·German
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Franz von Kutschera Grundfragen der Erkenntnistheorie Franz von Kutschera Grundfragen der Erkenntnistheorie w DE Walter de Gruyter · Berlin · New York 1982 CIP-Kurztitelaufiiahme der Deutschen Bibliothek Kutschera, Franz von Grundfragen der Erkenntnistheorie / Franz von Kutschera. - Berlin; New York: de Gruyter, 1981. (De Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-008777-4 brosch. ISBN 3-11-008663-8 geb. © Copyright 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Her- stellung von Photokopien — auch auszugsweise vorbehalten. Satz: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde, Druck: Werner Hilde- brand, Berlin 65, Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin, 61 Meinem Vater Kurt Freiherr von Kutschera * 28. 2. 1900 t 13. 9. 1943 zum Gedenken Vorwort Mit menschlicher Erkenntnis, ihren Voraussetzungen, ihrer Natur, Leistung und Entwicklung befassen sich viele wissenschaftliche Diszi- plinen. Neurophysiologie und physiologische Psychologie untersu- chen die physiologischen Grundlagen von Erkenntnisvorgängen. Wahrnehmungs-, Denk- und Lernpsychologie studieren Typen und Strukturen von Erkenntnisleistungen, ihre Zusammenhänge unterein- ander und ihre Beziehungen zum Verhalten. Die Entwicklungspsy- chologie erforscht die Onto- wie Phylogenese der Erkenntnis, die Entwicklungsphysiologie die Entstehung des menschlichen Zentral- nervensystems und der Sinnesorgane, die Biologie ordnet die Ent- wicklung des menschlichen Erkenntnisapparats in den größeren Hori- zont der Evolution kognitiver Funktionen bei anderen Lebewesen ein. Die allgemeine Sprachwissenschaft befaßt sich mit den Zusammen- hängen zwischen Sprache, Denken und Erfahrung, die Soziologie mit der sozialen Konstitution und Vermittlung von Erkenntnisinhalten. Was bleibt angesichts dieser Vielzahl einzelwissenschaftlicher Zustän- digkeiten der Erkenntnistheorie als philosophischer Disziplin an The- men, was an Legitimation? Noch für Kant stellten sich solche Fragen überhaupt nicht. Zu sei- ner Zeit gab es keine eigenständige Psychologie oder Soziologie, keine biologische Anthropologie, wie sie seit Darwin möglich gewor- den ist. Es gab keine Disziplinen, die der Philosophie ihre Zuständig- keit für Fragen menschlichen Erkennens hätten bestreiten können. Die Philosophie ging ferner weithin von einem Ideal wissenschaftli- cher Erkenntnis aus, nach dem „echte" Erkenntnis nur da vorliegt, wo die Notwendigkeit des erkannten Sachverhalts eingesehen wird. Da empirische Untersuchungen nur kontingente Tatsachen, aber keine Notwendigkeiten aufweisen, wurde ihnen eine geringere Digni- tät zugesprochen als den apriorischen Einsichten der Philosophie. Heute hat sich das Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissen- schaften umgekehrt: Durch deren große Erfolge seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts — in deren Verlauf sich manche „apriorischen Ein- sichten" der Philosophie als falsch erwiesen — ist das philosophisch VIII Vorwort Erkenntnisideal durch das naturwissenschaftliche abgelöst worden. Als „wissenschaftlich" gelten weithin nur mehr die Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaften, nicht die der Philosophie. Und jene universale Zuständigkeit für alle wichtigen Fragen über die Welt und den Menschen, die früher viele Philosophen für sich reklamier- ten, nehmen heute mit ähnlich naiver Unbefangenheit manche Natur- wissenschaftler für sich in Anspruch. Mit dem Wandel des Erkenntnisideals hat sich auch das Selbstver- ständnis des Menschen grundlegend verändert. Die idealistische Kon- zeption, nach welcher er ein Geistwesen ist, das gewissermaßen zufäl- lig auch einen Körper hat, ist durch eine naturalistische Konzeption abgelöst worden, nach der er Teil der Natur ist und sich seine geisti- gen und kulturellen Leistungen biologisch aus Struktur und Evolution seines Organismus und der ihm angeborenen Verhaltensweisen erklä- ren lassen. Die „genetische Erkenntnistheorie" von J. Piaget und die „evolutionäre Erkenntnistheorie" von K. Lorenz sind Beispiele für Versuche, Erkenntnistheorie im Rahmen der Biologie zu betreiben. Angesichts dieser Lage hat heute die Frage nach Zuständigkeit und Legitimation der Philosophie für Fragen der Erkenntnistheorie nichts Absurdes mehr an sich. Auch wenn man wissenschaftliche Erkenntnis nicht allein den Na- turwissenschaften zuspricht und keinen Naturalismus vertritt, wird man sagen müssen, daß Philosophie sicher nicht für alle Fragen zu- ständig ist, die sich mit menschlichem Erkennen verknüpfen. Es gibt eine Fülle von Problemen, die sich nur durch einzelwissenschaftliche Untersuchungen klären lassen. Andererseits gibt es aber auch Fragen, die sich in den Einzelwissenschaften nicht behandeln lassen, weil sie Voraussetzungen dieser Disziplinen betreffen. Jede Spezialdisziplin bestimmt sich in jedem Stadium ihrer Entwicklung durch gewisse Grundannahmen, durch Untersuchungsmethoden und durch einen theoretischen Ansatz — kurz durch ein Paradigma im Sinne von Tho- mas Kuhn.1 In ihren Untersuchungen wird vorausgesetzt, daß diese Annahmen richtig und daß diese Methoden ein zuverlässiges Werk- zeug zur Gewinnung von Erkenntnissen sind. So geht ζ. B. die Biolo- 1 Vgl. dazu Kuhn (62) und den Abschnitt 9.6. — Die in Klammern nach den Autorennamen angeführten Zahlen verweisen auf das Erscheinungsdatum, Buchstaben auf Ausgaben der im Literaturverzeichnis angegebenen Arbeit. Zitate sind der letzten dort angegebenen Auflage entnommen. Vorwort IX gie von einer realistischen Konzeption aus, nach der es eine vom menschlichen Bewußtsein, vom Erleben und Erkennen in ihrer Exi- stenz wie Beschaffenheit unabhängige Außenwelt gibt, und sie beur- teilt menschliche Wahrnehmung danach, in welchen Grenzen und wie genau unser Erleben den objektiven physikalischen Gegebenheiten entspricht. Auf die Frage, ob ein solcher Realismus haltbar ist — eine der zentralen Fragen der Erkenntnistheorie —, kann man von ihr keine Antwort erwarten. Allgemein fallen die Fragen nach der Gültig- keit der Voraussetzungen einer Disziplin und nach der Zuverlässigkeit ihrer Methoden außerhalb ihres Horizonts, der sich eben durch diese Voraussetzungen und Methoden definiert. Der Versuch, darüber mit den Mitteln der Disziplin selbst zu entscheiden, würde offensichtlich zu zirkulären Argumenten führen. Indem der Biologe unreflektiert voraussetzt, daß er mit seinen Methoden die Wirklichkeit so erfaßt, wie sie an sich ist, blendet er ferner einen Teil der Erkenntnisprozesse aus dem Horizont seiner Untersuchungen aus, nämlich jene, die er selbst vollzieht. Es ist zwar methodisch korrekt, bei der Untersuchung spezieller Erkenntnisleistungen gewisse andere hypothetisch als un- problematisch vorauszusetzen. Methodisch unkorrekt ist es aber, Aussagen über das menschliche Erkennen insgesamt machen zu wol- len, ohne auch jene Verfahren in die Untersuchung einzubeziehen, auf die sich diese Aussagen stützen. In diesem Sinn sind allgemeine Aussagen über das Erkennen von Seiten der Einzelwissenschaften in der Regel naiv. Sie übersehen, daß auch ihr eigenes Erkennen einen Teil des Gegenstandsbereichs ausmacht, über den sie reden. Sie tun, als ob der Standpunkt ihrer Wissenschaft einen von den Bedingungen menschlichen Erkennens freien und damit von erkenntnistheoreti- schen Problemen unbelasteten Blick auf die Natur und die Bedingt- heiten menschlichen Erlebens und Erkennens ermöglichte.2 Es ist eine 2 Nicht alle Aussagen von Naturwissenschaftlern, die sich mit menschlicher Erkenntnis befassen, sind in diesem Sinn naiv. So sieht ζ. Β. K. Lorenz in (73) die naturwissenschaftlichen Methoden nicht einfach als unproblematisch an, sondern begreift die Voraussetzung ihrer Zuverlässigkeit als eine hypotheti- sche Grundlage für die Erforschung der Erkenntnisleistungen, und sagt, diese Voraussetzung habe sich dadurch zu bewähren, daß sich von ihr aus eine umfassende und kohärente Theorie dieser Leistungen ergibt, innerhalb derer sich dann auch die vorausgesetzten naturwissenschaftlichen Verfahren rechtfertigen lassen. Mit solchen Überlegungen verläßt er aber erstens das χ Vorwort der grundlegendsten Einsichten der Erkenntnistheorie, die durch kei- nen Fortschritt der Naturwissenschaften überholt ist, daß sie sich nicht „von außen" oder „von einem höheren Standpunkt aus" betrei- ben läßt, sondern daß sie nur als eine immanente Selbstkritik des Er- kenntnisvermögens möglich ist, als eine Reflexion des Denkens auf sich selbst; daß ihre eigenen Einsichten einen Teil ihres Gegenstandes bilden und nicht aus der Reflexion ausgeklammert werden können. Allgemeine Aussagen über menschliches Erkennen müssen in diesem Sinn selbstanwendbar sein. Begründet man ζ. B. den Satz, daß es keine voraussetzungslosen Begründungen gibt, so muß er auf die Begrün- dung selbst anwendbar sein; es muß also auch diese Begründung Vor- aussetzungen haben. Und man kann es nur dann als evident bezeich- nen, daß Evidenz keine Wahrheitsgarantie enthält, wenn das auch für diese Evidenz gilt. Die Reflexion auf die Methoden einer Einzelwissenschaft und die Prüfung des Geltungsanspruchs der damit gewonnenen Resultate ge- hört zur Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung dieser Dis- ziplin. Wer sich damit befaßt, verläßt die normalen Pfade dieser Dis- ziplin. In Wissenschaftstheorie und Grundlagendiskussion geht es um Gebiet der Biologie und bestätigt, daß eine biologische Theorie des Erken- nens Voraussetzungen macht, für deren Klärung die Philosophie zuständig ist. Zweitens ist dieser „hypothetische Realismus" zwar ein durchaus disku- tabler Ansatz, er wird aber nicht durchgeführt; nirgends wird gezeigt, daß sich auch biologische Erkenntnis im Rahmen der Biologie abhandeln läßt. Die bisherigen Ergebnisse der „evolutionären Erkenntnistheorie" nehmen sich angesichts ihres Ziels, eine umfassende Theorie menschlichen Erkennens zu liefern doch sehr bescheiden aus, und man muß sich mit dem Optimismus des Autors trösten, das weitere werde sich schon finden. Da Erkenntnis ein geistig-seelisches Phänomen ist, kann man es mit naturwissenschaftlichen Mitteln auch nur dann aufklären, wenn sich Psychisches und Geistiges auf naturwissenschaftlich Faßbares, d. h. auf Physisches reduzieren lassen. Eine solche Reduzierbarkeitsthese, wie sie explizit oder implizit heute wohl von den meisten Biologen und Psychologen vertreten wird, ist aber eine philoso- phische These — sie fällt nicht in den Horizont der Physik, weil diese von vornherein nur für Physisches zuständig ist —, und sie ist, wie wir im 6. Ka- pitel sehen werden, auch höchst problematisch. Lorenz stellt eine solche Re- duzierbarkeitsthese nicht auf, sondern erklärt im Gegenteil das Leib-Seele- Problem, eins der zentralen erkenntnistheoretischen Probleme, für unlösbar. Es ist aber nicht einzusehen, wie dann sein Programm einer rein biologischen Analyse des Erkennens durchführbar sein soll.

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