Oliver Schütze (Hrsg.) Griechische und römische Literatur 120 Porträts Verlag J.B. Metzler Stuttgart · Weimar Aesop 1 ......................................................................................................................................................... Achilleus Tatios auch diese an Verwicklungen reiche Ge- 2./3.Jh. n.Chr.; aus Alexandria schichte führt zu dem für die Gattung verpflichtenden happy endund zur Ehe Wie von den übrigen griechischen Ro- von Leukippe und Kleitophon. manautoren ist auch vom Leben und A. bevorzugt einen prunkvollen (asiani- von der Person des A. nichts bekannt. In schen) rhetorischen Stil. Im Unter- dem byzantinischen Lexikon Sudawird schied zu den anderen erhaltenen Ro- berichtet, er habe sich zum Christentum manautoren baut er längere wissen- bekehrt, ja, er sei sogar Bischof ge- schaftliche oder pseudowissenschaftli- worden. Der Grund für die Legenden- che Exkurse in seine Erzählung ein (z.B. bildung, die sich um die Person des A. zu den Vor- und Nachteilen der hetero- rankt, mag in der Beliebtheit seines Ro- und homosexuellen Liebe, II 35–38). mans Leukippe und Kleitophon in by- Rhetorische Prunkstücke sind seine zantinischer Zeit liegen und in dem Bildbeschreibungen mit Szenen aus be- Versuch, das Werk für den christlichen kannten Mythen (Europas Entführung, Leser zu retten. Wie Longos, der wohl I 1; Andromeda und Prometheus, III sein Zeitgenosse war, beginnt auch A. 6–8; Tereus und Philomela, V 3–5). Ein seinen Roman mit einer ausführlichen Glanzstück ist auch die an erotischer Bildbeschreibung. Der Erzähler steht in Symbolik reiche Gartenschilderung am der phönizischen Stadt Sidon staunend Ende des ersten Buchs. vor einem Gemälde, auf dem die Ent- Bernhard Zimmermann führung Europas durch den in einen Stier verwandelten Zeus dargestellt ist. Er ist erschüttert von der Allgewalt der Aesop Liebe. Da gesellt sich ein junger Mann Aisopos; viell. 6.Jh. v.Chr. in Phrygien namens Kleitophon zu ihm, der sich anbietet, ihm seine Liebesgeschichte zu Er muß ein trauriger Mann gewesen erzählen, die alles Bisherige an Verwick- sein, der es verstand, dem Leben den- lungen und Gefahren überbiete. A. ar- noch Weisheit und Scherze abzuringen. beitet mit den stereotypen Elementen Wir wissen nicht viel über ihn, ja wo- des Romans (Trennung des Liebespaa- möglich war er völlig Fiktion späterer res Kleitophon und Leukippe, Entfüh- Geschlechter. Doch die Legende, die rung durch Seeräuber, Gefährdung des schon die Antike selbst um ihn spann, Lebens und der Treue der Liebenden), ist so phantasieanregend, daß man es die er allerdings in oft überraschender sich nicht vorstellen kann, daß er nicht Weise verändert. Zweimal ist Kleito- doch gelebt hat. Plutarch läßt ihn in phon – und mit ihm der Leser – der seinem Gastmahl der sieben Weisen als Meinung, daß Leukippe tatsächlich um- einen wenig ernstzunehmenden, hu- gebracht worden sei; beide Male stellt morvollen, nicht hinreichend würdigen sich jedoch das Ganze als eine Inszenie- Symposiasten auftreten, der den hohen rung heraus. A. erzeugt diese Spannung, Herren des ernsten hellenischen Wis- indem er den Leser die ganze Geschich- sens mit seinen Tiergeschichten und ko- te aus der Perspektive des Haupthelden mischen Bemerkungen gelegentlich in in personaler Erzählweise miterleben die Rede fährt und ansonsten still auf läßt. Auch mit der Treue des Helden ist seinem Höckerchen neben dem großen es nicht gut bestellt: Er erliegt den Solon sitzt und zuhört. Entwürdigend Verführungskünsten der (angeblichen) genug wird er sogar ein wenig unterhalb Witwe Melite, heiratet sie und muß um von Solon plaziert, so als sei er dessen sein Leben fürchten, als der totgeglaubte Diener. Als er einmal zu einer politi- Ehemann Melites heimkehrt. Doch schen Bemerkung ansetzen will, krault 2 Aesop .............................................................................................................................................. ihn Solon lächelnd am Kopf und meint: nicht sagen. Die Geschichte, die er nach »Du verstehst dich wohl trefflich auf die dem Zeugnis des Aristophanes erzählt Stimmen der Raben und Krähen, aber haben soll, war übrigens die bekannte nicht so recht auf die der Gottheit...« Geschichte vom »Adler und Mistkäfer«. In der Runde dieser echt griechischen A. soll sie zu einem für sein Leben Weisen konnte ein A. nicht zu seinem bekannter gewordenen Zeitpunkt vor- Recht kommen. Auch die nur in Rätseln getragen haben, als er nämlich nach sprechende Kleobuline, die angebliche Delphi kam. Wie das Volksbuch be- Freundin des Thales, hatte neben der richtet, sei er später, nachdem er auf- Philosophin Melissa Platz zu nehmen. grund seines stechenden Humors vom Was wir von A. wissen, ist uns im offenbar verzweifelten Philosophen Grunde nur durch Legenden und zwei- Xanthos in die Freiheit entlassen wor- felhafte Berichte überliefert. So soll er den war, in die Dienste des Königs Kroi- ein phrygischer Sklave gewesen sein und sos gekommen. Der schickte ihn dann einem gewissen Iadmon gedient haben, eines Tages nach Delphi, damit er dort wie Herodot erzählt (II, 134). Dieser dem Gott Apollon einige Opfer über- Iadmon lebte auf Samos. Nach einem bringe. Er sollte jedoch auch den Bür- Volksbuch, das es schon im 6.Jh. v.Chr. gern von Delphi selbst Geld zukommen gegeben haben muß, das uns aber nur lassen, jedem einzelnen vier Minen. Da über eine spätantike bzw. mittelalter- weigerte sich A. und meinte, die Del- liche Bearbeitung – den sog. Aesop-Ro- phier würden nur immer auf Kosten man – zugänglich ist, soll der sonder- anderer leben. Die Delphier zürnten liche Sklave sogar einem Philosophen ihm darüber und schoben ihm mit List namens Xanthos gedient haben, den es eine wertvolle Opferschale mit ins Ge- aber wohl nie gegeben hat. Schon dieses päck, um ihn kurz darauf des Religions- Volksbuch also, das eine Art erster frevels bezichtigen zu können. Der Ah- Sammlung von Volkserzählungen gewe- nungslose wurde dann von einem ho- sen sein muß, wollte den phrygischen hen Felsen in den Tod gestürzt. Erzähler bewußt mit dem Typus des Doch bevor man sich im Legendären ernsten philosophischen Weisen kon- verliert, ist es besser, sich an die Fabeln frontieren, von dem er sich so unter- selbst zu halten, die der kluge Sklave – schied. Für die beginnende Philosophie wenn es ihn denn gegeben hat – hier des 6. und 5.Jh. bildete sich die argu- und da improvisiert hat. Die Wissen- mentierende und Beweise suchende schaft streitet dabei bis zum heutigen Rede heraus, die griechisch-abendländi- Tage über Herkunft und Wesen der Fa- sche Rationalität. Die Fabeln und Ge- beln. Stammen die meisten Fabelmotive schichten hingegen, die uns unter dem nicht aus dem Orient? Wir entdecken Namen A.s überliefert sind, sind an- eine Fülle babylonischer, ägyptischer, deutenden und geradezu gleichnishaf- ja sogar altindischer Erzählmotive im ten Charakters. Stets muß man sich aesopischen Corpus. Und verlockend auch erinnern, daß die sog. epimythi- bleibt noch immer der Gedanke, daß in schen Zusätze – die lehrhaften Sprüche, der Verschleierung des sprachlichen das haec fabula docet– nichts Originales Ausdrucks, die zweifellos in den vielen gewesen sein können. Wie uns Aristo- Tiergeschichten liegt, der unterdrückte phanes vermittelt (Wespen 1446ff.), er- Schrei der Entrechteten zu hören ist. Es zählte der legendäre Sklave seine Ge- fiel auf, daß auch A.s großer römischer schichten ganz unmittelbar in bestimm- Nachfahr Phaedrus ehemals Sklave ge- ten Lebensaugenblicken, wo er offenbar wesen war. – Freilich, blickt man auf die dazu herausgefordert war. Anders, so große Fülle des unter dem Namen A.s meint man fast, ließ sich die Wahrheit Überlieferten, so stellt man fest, daß das Aesop 3 ......................................................................................................................................................... Medium der Tiergeschichten um vieles sie ungefährdet trinken könnten. Dem reichhaltiger ist, als daß wir es auf noch Tode nah, da ihn die Strömung fort- so verlockend einfache Formeln bringen reißt, ruft er ihnen zu, daß er dringend könnten. Das aesopische Corpus enthält etwas nach Milet zu bringen habe, sie vor allem viele Volkserzählungen, die möchten nur warten. – So, am ehesten, nie vom phrygischen Volksweisen bear- können wir uns vielleicht den phrygi- beitet worden sein können. Sie geißeln all- schen Fabelerzähler vorstellen: nah an gemeine menschliche Laster und Schwä- der Gefahr, dem Tod, der ihm droht, chen, verspotten Dummheit, Geiz, Un- ruft er seinen Gefährten noch einen geschicklichkeit, Hochmut, Verlogen- Scherz zu. heit, Feigheit. Mit solchen Erfahrungen Ob es ihn nun gegeben hat oder kämpfen wir noch heute. Jede noch so nicht: das unter seinem Namen Ver- einfache Kreatur konnte A. dabei zum sammelte, das die antike Welt schon so Exempel dienen: ein Floh, eine Ameise, früh ins Legendenhafte brachte, hat bis eine Wespe, ein Frosch, eine Zikade, zum heutigen Tage gewirkt. Nicht nur Säue, Kraniche, Adler, Füchse usw. usw. die Rhetorenschulen der Spätantike, die Der gesamte zoologische Garten wird die moralisisierenden Zusätze erfanden, einmal abgeschritten, um uns Men- die uns bei der Lektüre heute meist schenkindern den Spiegel vorzuhalten. etwas aufstoßen, haben sich weiter an Dabei heißt es übrigens, A.s Lieb- den Tiergeschichten des ungewöhnli- lingstier sei der Fuchs gewesen. Man chen Phrygers erfreut, in dem sie das mag so vielleicht versuchen, an den ver- spontan Erzählte freilich in griffige Mo- schiedenen Fuchsgeschichten A.s eige- ral umsetzten. Die mittelalterliche Pre- nem Charakter nachzuspüren. Doch digt bediente sich ebensogern der alle- auch da würde man keine klare Antwort gorisch übersetzbaren Tiergeschichten. gewinnen. Gewiß triumphiert im Besonders Martin Luther, der die Fa- »Fuchs und Leoparden« der kluge Fuchs beln eigens neu übersetzte, schätzte sie über den schönlingshaften Leoparden. sehr. In unseren Tagen hat etwa Arnolt Und im »Fuchs und Affen« hält im Bronnen mit seinem Roman Aisopos rechten Augenblick der Fuchs dem (1956) ein Zeugnis dafür abgelegt, daß großsprecherischen Affen das geeignete die Figur des leidenden und zugleich Wort entgegen. Im »Fuchs und Hund« zum Scherz aufgelegten Sklaven noch hingegen scheint der Fuchs ganz als der immer lebt. In dem Roman ist A. frei- törichte Missetäter, der allzu früh seine lich nach sozialistischer Manier der Re- heimlichen Absichten kundtut. Und bell der Freiheit, der Sklave, der die tieftraurig muß die Geschichte »Die gesellschaftlichen Ketten sprengen will. Füchse« stimmen: Alle Füchse versam- Doch wahrscheinlich hat jener sprach- meln sich am Fluß, um Wasser zu trin- gewaltige, phantasiereiche Sklave der ken. Doch das Wasser schießt schnell an frühgriechischen Welt, dem die Legende den Dürstenden vorüber. Keiner wagt sogar noch einen Buckel und ein häß- sich, die Pfoten naß zu machen. Endlich liches Angesicht andichtete, nur einfach entschließt sich doch einer, in das ge- im fabulierenden Wort selbst die Ketten fährliche Wasser zu springen, doch es sprengen wollen und können. Sosehr er zieht ihn sofort in die Mitte des Flusses. ein untypischer Weiser war, weil ihm Töricht, wie die anderen sind, begreifen der grübelnde Ernst fehlte, konnte er sie nicht, daß der einsame Fuchs in doch – wie in ähnlicher Weise vielleicht Lebensgefahr ist. Sie sehen nur, daß er später Sokrates – mit seiner überlegenen jetzt unbegrenzt Wasser trinken kann. Ironie überzeugen, die sich mitunter Sie rufen ihm zu, daß er doch auch mit leichter Schwermut mischte. ihnen den Zugang zeigen möge, damit Matthias Weglage 4 Aischylos .............................................................................................................................................. Aischylos grund von stilistischen und dramatur- Geb. 525/24 v.Chr. in Athen; gischen Besonderheiten und inhaltli- gest. 456/55 in Gela/Sizilien chen Anspielungen – jedenfalls in der vorliegenden Form – wohl erst aus dem Geboren noch zur Zeit der Tyrannen- letzten Viertel des 5.Jh. stammt. herrschaft, aus dem alten Adelsge- In der Antike wurden A. eine Vielzahl schlecht der Eupatriden stammend, er- wichtiger Neuerungen in der Gattung lebte A. die wichtigsten Ereignisse der Tragödie zugeschrieben: Nach Aristo- athenischen Geschichte des 6. und 5.Jh. teles (Poetik c. 4, 1449a 15) soll er den v.Chr.: die Reformen des Kleisthenes, zweiten Schauspieler eingeführt haben. die Athen zur Demokratie machten Er scheint also aus einem statischen (511/10), die Abwehr der Perser bei Wechselgespräch oder Wechselgesang Marathon (490), Salamis und Plataiai zwischen einem Schauspieler und dem (480), schließlich im Alter die Reformen Chor erst ein tatsächliches dráma im des Ephialtes, die den einflußreichen Wortsinn, also Handlung, gemacht zu Adelsrat, den Areopag, entmachteten haben. Als Folge dieser Dramatisierung und Athen zur radikalen Demokratie hat er die Chorpartien reduziert und die werden ließen (462). A. war ein äußerst gesprochenen Partien zum wichtigsten erfolgreicher Bühnenautor und stand Bestandteil seiner Stücke gemacht. In schon zu Lebzeiten – auch außerhalb der Ausstattung der Bühne und der Athens – in höchstem Ansehen. Nach Schauspieler scheint er große Effekte seinem Debüt als Dramatiker im Jahre geliebt zu haben. Seine Inszenierungen 499 errang er seinen ersten Sieg 484 und hinterließen in Athen bleibenden Ein- belegte danach zwölfmal den ersten druck. So ist überliefert, daß das Er- Platz im Wettkampf der Tragiker (ago´¯n). scheinen der Furien zu Beginn der Eu- 468 unterlag er – wohl eine Sensation meniden im Publikum eine ungeheuere im Theaterleben der Stadt Athen – dem Panik verursacht habe. Die besondere jungen Sophokles, der in diesem Jahr Mühe, die sich A. mit den Inszenierun- zum ersten Mal am Agon teilnahm. Auf gen seiner Stücke als sein eigener Regis- Einladung des Tyrannen Hieron insze- seur (chorodidáskalos) gegeben hat, nierte er nach 472 in Syrakus die Perser spiegelt auch die Nachricht wider, daß und verfaßte im Auftrage Hierons ein er verschiedene Tanzfiguren erfunden Festspiel für die im Jahre 476/75 von und sie mit dem Chor einstudiert habe. dem Tyrannen am Fuß des Ätna ge- In der sprachlichen Gestaltung bevor- gründete Stadt Aitnai, die Aitnaiai(Die zugte A. kühne Metaphern und gewagte Frauen von Aitnai). Bei einem weiteren Wortneubildungen. Die Dunkelheit, die Aufenthalt in Sizilien starb A. 456/55 in einer derartigen sprachlichen Form an- Gela. haftet, aber auch die tragische Größe Die in der Antike A. zugeschriebene und das tragische Pathos, die sie aus- Zahl von Stücken schwankt zwischen 70 strahlt, wurde schon von den Zeitge- und 90. Erhalten sind sieben Tragödien: nossen erkannt – man denke nur an die die Perser(472), die Sieben gegen Theben literaturkritische Komödie Die Frösche (467), die Orestie, die einzige erhaltene des Aristophanes (405), in der A. für die Trilogie, bestehend aus den Tragödien erhabene Dunkelheit seiner Sprache Agamemnon, Choephoren (Weihgußträ- verspottet wird. Schließlich kann A. als gerinnen) und Eumeniden (Die wohl- der Schöpfer der inhaltlich geschlos- meinenden Göttinnen) (458), die Hike- senen Tetralogie gelten (vier in engem tiden (Schutzflehenden) (vermutlich inhaltlichem Zusammenhang stehende 463) und der wohl nicht von A. stam- Stücke, drei Tragödien und ein Satyr- mende Gefesselte Prometheus, der auf- spiel) – einer Kompositionsform, die es Aischylos 5 ......................................................................................................................................................... ihm ermöglichte, das Schicksal von Ge- Aufgabenbereich zuweisen läßt, der ihm nerationen in einem übergreifenden, nach den radikaldemokratischen Refor- größeren Zusammenhang nachzuvoll- men des Ephialtes noch geblieben war, ziehen. Von den in der Antike hoch- nämlich die Blutgerichtsbarkeit, verla- gerühmten Satyrspielen des A. läßt sich gert er eine aktuelle, umstrittene politi- auf der Basis der Papyrusfunde und sche Entscheidung in eine mythische Fragmente leider nur ein grober Ein- Vergangenheit und entzieht sie dadurch druck gewinnen. dem Disput der Gegenwart. Gleichzeitig Nach seinem Tod wurde seinen Stük- verleiht er dem entmachteten Adel als ken als große und im 5.Jh. v.Chr. ein- Kompensation des verlorenen Einflus- malige Ehre das Privileg der Wiederauf- ses eine aus dem politischen Alltagsge- führung eingeräumt. Dies brachte es schäft herausragende Ehrenstellung. In mit sich, daß A. im Gegensatz zu den beschwörendem Ton klingt der Wunsch anderen Tragikern des 5.Jh. ständig auf nach Eintracht im Innern der Stadt in der Bühne präsent war – sowohl für das dem Chorlied 976ff. an: »Nie durch- Publikum als auch für die nachfolgen- brause Bürgerkrieg, den kein Leid sätti- den Tragikergenerationen, die sich im- gen kann, diese Stadt; das ist mein mer an ihrem großen Vorgänger messen Wunsch!« lassen mußten. Für die Athener des aus- Kontrapunktisch durchzieht die gehenden 5.Jh., 50 Jahre nach seinem Stücke des A. die theologische Deutung Tod, war A. der Dichter der glanzvollen menschlichen Lebens, Handelns und Vergangenheit, der Zeit der großen Sie- Leidens. Zwar stehen die Menschen un- ge Athens gegen die persische Über- ter einem äußeren Zwang, zumeist dem macht. Die hohe Wertschätzung, die A. Fluch, der auf ihrem Geschlecht lastet. nach seinem Tod genoß, wird vor allem Aber trotzdem laden sie mit jeder in der Zeit der Krise der attischen De- Handlung, zu der sie sich aus freien mokratie – kurz vor der Niederlage ge- Stücken entscheiden, selbst neue Schuld gen die Spartaner und dem Zusammen- auf sich (Agamemnon 1564: »Wer han- bruch der athenischen Vormachtstel- delt, muß auch leiden.«). Die Verket- lung (404) – in der 405 aufgeführten tung von Schuld, menschlicher Anma- Komödie Die Frösche des Aristophanes ßung (hy´bris) und Verblendung (a´t¯e) deutlich: Da nach dem Tod des So- mit Sühne und Leid (páthos) findet eine phokles und Euripides die tragische sinnvolle Erklärung in der Theodizee, in Bühne Athens verwaist ist, steigt Dio- der das Leid des Menschen als eine harte nysos, der Gott des Theaters, persönlich Erziehung zur vernünftigen Einsicht in die Unterwelt und holt A. zurück und Selbstbescheidung (so¯phrosy´n¯e) ge- nach Athen – nicht aufgrund ästhe- deutet wird (Agamemnon176ff.). tischer Kriterien, sondern wegen sei- Bereits in dem frühesten erhaltenen nes politischen Sachverstandes, dessen Stück, den Persern, ist diese Weltsicht Athen in der Zeit höchster Gefahr be- voll ausgeprägt: Wie schon vor ihm der sonders bedürfe (Vv. 1500–4). A. war Tragiker Phrynichos in den Phönizie- zum Symbol für eine Zeit geworden, in rinnen(476) bringt A. die Geschichte der der die junge Demokratie sich durch jüngsten Vergangenheit auf die Bühne: den Konsens zwischen den politischen die Niederlage der Perser bei Salamis, Kräften gegen den persischen Angriff die er aus der Sicht der Unterlegenen siegreich verteidigt hatte. Diese harmo- darstellt. Er macht Zeitgeschichte zum nisierende Tendenz läßt sich besonders Mythos, stellt also die Ereignisse der deutlich in den Eumeniden zeigen. In- Gegenwart auf eine Stufe mit der mythi- dem A. die Stadtgöttin Athena den schen Vergangenheit und adelt sie da- Areopag einsetzen und ihm genau jenen mit. Zentrale Szene der Tragödie ist die 6 Aischylos .............................................................................................................................................. Totenbeschwörung und Erscheinung im Falle einer Ablehnung ihres Gesu- (Epiphanie) des Königs Dareios, des Va- ches mit Selbstmord drohen, sieht sich ters des unglücklichen Xerxes (Vv. der argivische König Pelasgos einer tra- 598ff.), der aus unangreifbarer Warte – gischen Entscheidung ausgesetzt (Vv. gleichsam als Gott – eine theologische 379f., 407–417). Wie er sich auch ent- Deutung der Niederlage des persischen scheidet, wird er Leid verursachen und Heeres gibt: Zwar weist auch er wie Schuld auf sich laden. Wenn er die Da- zuvor der Bote (V. 354), seine Frau naos-Töchter aufnimmt, bringt er Krieg Atossa (Vv. 472. 724) und der Chor (V. über Argos, weist er sie dagegen ab, 515) einem unheilvollen Daimon eine verletzt er die religiösen Pflichten und gewisse Schuld an der Katastrophe zu lädt zudem Blutschuld auf sich und die (Vv. 739ff.). Letztlich verantwortlich ist Stadt, da sich die Mädchen an dem jedoch allein sein Sohn und Nachfolger Altar, an dem sie Zuflucht gesucht ha- Xerxes. Er hat die den Persern von Gott ben, umzubringen drohen. Der religiö- gesetzten Grenzen, nur zu Lande Macht sen Pflicht gehorchend, nimmt er sie in auszuüben, nicht beachtet, sondern sich Argos auf, wohl wissend, daß dies zu angemaßt, Persien auch zur Seemacht Krieg und Tod führen wird. zu machen. Dareios faßt seine Erklä- Besonders eindrucksvoll ist das Zu- rung des Unglücks in der Maxime zu- sammenspiel von Dramaturgie und sammen, die für das gesamte Werk des Theologie in der Orestie, in der A. das A. Gültigkeit besitzt (V. 742): »Denn ist Schicksal von zwei Generationen des ein Mensch selbst zu eifrig, packt ein argivischen Herrscherhauses, der Atri- Gott mit an und trägt zu seinem Fall mit den, verfolgt. Durch die ständige Bezug- bei.« Auch in den Sieben gegen Theben, nahme auf das Schicksal, das auf der dem Schlußstück der thebanischen Tri- Familie des Agamemnon lastet, ist stets logie, in der A. das Schicksal des theba- auch die Vergangenheit präsent: Bereits nischen Herrscherhauses von Laios über der Stammvater Tantalos, dessen Sohn Oidipus bis zu den Oidipus-Söhnen Pelops, schließlich Atreus und Thyestes Eteokles und Polyneikes über drei Ge- in der dritten Generation hatten schwe- nerationen hinweg verfolgt, wird diese re Schuld auf sich geladen, die immer Konzeption im Verhalten des Eteokles neue Schuld hervorbringen sollte. Atre- deutlich: Zwar stehen die Brüder unter us’ Sohn Agamemnon opfert, dem dem Fluch ihres Vaters Oidipus (Vv. Spruch des Sehers Kalchas, aber – wie 739ff.) und dem Verhängnis, das auf Eteokles in den Sieben – auch seinem ihrem Geschlecht, den Labdakiden, la- eigenen Impuls gehorchend (Agamem- stet. Trotzdem laden sie neue Schuld auf non 206ff.), seine Tochter Iphigenie in sich: Polyneikes, indem er mit bewaff- Aulis der Göttin Artemis, um der nach neter Macht gegen seine Heimatstadt Troja auslaufenden griechischen Flotte zieht, Eteokles, indem er sich aus freien günstigen Fahrtwind zu erwirken. Die Stücken seinem Bruder am siebten Tor Tat wird nach zehn Jahren gesühnt: Der entgegenstellt und damit den Bruder- siegreiche Feldherr wird zusammen mit kampf unumgänglich macht. Wie in der Seherin Kassandra, seinem Anteil an den Persern füllt auch in den Schutz- der trojanischen Kriegsbeute, von seiner flehenden die für die Interpretation der Frau Klytaimestra und ihrem Geliebten, Tragödie entscheidende Passage den Aigisth, als Rache für den Tod der Toch- Mittelteil (Vv. 234–525): Die Töchter ter im Bad erschlagen (Agamemnon des Danaos suchen auf der Flucht vor 1343/45). Zwar weigert sich Agamem- ihren Vettern, den Aigyptos-Söhnen, die non zunächst, den purpurroten Tep- sie gegen ihren Willen zur Ehe zwingen pich, den Klytaimestra zu Ehren des wollen, in Argos Asyl. Da die Danaiden siegreichen Feldherrn ausgebreitet hat, Aischylos 7 ......................................................................................................................................................... zu betreten; doch er unterliegt schließ- excellence wurde und als solcher bis ins lich ihren schmeichelnden Worten und 17.Jh. Geltung hatte. Eine produktive geht auf dem blutroten Teppich in den Auseinandersetzung der Dramatiker Palast. Das Requisit wird zum szeni- mit A. setzte erst wieder im 19.Jh. ein. schen Symbol des nahen Todes und Die Form der Trilogie bzw. Tetralogie gleichzeitig zum Zeichen der Überhe- wurde als dramaturgische Herausforde- bung (hy´bris) Agamemnons, der blind rung erkannt: Ch. Leconte des Lisles Les gegen seine eigene, kurz zuvor geäußer- Erinnyes (1837) und A. Dumas’ Orestie te Überzeugung verstößt, auch im Tri- (1865) sind erste Versuche, die Atriden- umph Bescheidenheit walten zu lassen. Trilogie insgesamt zu dramatisieren. Zu Zu Agamemnons Blindheit bildet Kas- Beginn des 20. Jh. fand A. im Zusam- sandras Hellsichtigkeit den wirkungs- menhang mit einer antinaturalistischen vollen Gegensatz. Dreimal wird sie von Grundstimmung, der Bewunderung ei- Klytaimestra aufgefordert, in den Palast nes großen Theaters und der Idee des zu kommen, dreimal verharrt sie Gesamtkunstwerks, der Verbindung von stumm (Vv. 1035ff.). Erst danach bricht Wort, Gesang, Musik, Tanz und Büh- es aus der Seherin heraus, und in einer nenausstattung im Sinne Richard Wag- Vision – einem vorweggenommenen ners, seinen Weg zurück auf die Bühne. Botenbericht – sieht sie Agamemnons Wagnerianisch war zum Beispiel die und ihren eigenen Tod voraus. Gleich- Aufführung des Agamemnon im Jahre zeitig öffnet sie den Blick auf den grö- 1914 in Siracusa in der Übersetzung ßeren Zusammenhang, in dem Klytai- und unter der Regie von E. Romagnoli. mestras Mordtat zu sehen ist: den E. O’Neills Mourning Becomes Electra Fluch, der auf dem Atridengeschlecht (Uraufführung New York 1931) ver- lastet und durch Freveltaten immer weist schon im Untertitel (A Trilogy) auf neues Unheil zeugen wird. So wird Kly- A. als Vorbild: Der Geschlechterfluch, taimestra – zusammen mit Aigisth – als der bei A. auf den Atriden lastet, wird Sühne für die Ermordung des Gatten von O’Neill psychologisch umgedeutet. von ihrem eigenen Sohn Orest im Auf- Im Gegensatz zu A. fehlen die Elemente trag des Gottes Apollon getötet (Cho- des páthei máthos (durch Leiden ler- ephoren). Erst das Schlußstück der Tri- nen), der Gnade (cháris) und Einsicht logie (Eumeniden) bringt die stete Ab- (so¯phrosy´n¯e), so daß eine Entsühnung folge von Tat und Sühne zu einem Ende. der Schuldigen wie in den Eumeniden Der von den Erinyen gepeinigte Orest des A. nicht möglich ist. Der Einfluß begibt sich auf Rat Apollons nach von A.’ Dramaturgie auf O’Neill ist in Athen, wo er von einem eigens dafür der symbolischen Deutung des Bühnen- eingesetzten Gerichtshof, dem Areopag, raums unübersehbar: Das Herrenhaus freigesprochen wird; die entscheidende, mit seinen vernagelten Fenstern wird erst Gleichheit herstellende Stimme zum szenischen Symbol für Lavinias kommt von der Stadtgöttin Athena (Vv. Gefangenschaft in sich selbst und ihren 711ff.). An die Stelle der Blutrache tritt Erinnerungen, wie der Palast der Atri- also eine von den Göttern eingesetzte den in der Orestie den Ort der Greu- Gerichtsbarkeit. Allerdings wird Orest eltaten und den auf dem Hause lasten- nur nach göttlichem Maßstab entsühnt. den Fluch dem Zuschauer ständig vor Nach menschlichem Recht kann für die Augen führt. Eine Auseinandersetzung Ermordung der Mutter kein Freispruch mit der Theologie und Theodizee des A. erfolgen. nimmt auch G. Hauptmann in seiner Die Wertschätzung des A. im 5.Jh. Atriden-Tetralogie vor (1941–1948). Der v.Chr. änderte sich grundlegend im Mensch ist ein ohnmächtiges Werkzeug 4.Jh., als Euripides der Tragiker par in der Hand einer allmächtigen Gott-