Irmgard Eisenbach-Stangl/Wolfgang Stangl (Hrsg.) Grenzen der Behandlung Irmgard Eisenbach-Stangl/Wolfgang Stangl (Hrsg.) Grenzen der Behandlung Soziale Kontrolle und Psychiatrie Westdeutscher Verlag © 1984 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Umschlagbild: Paul Senn, 1m Garten der Klinik Waldau (Ausschnitt), Bern 1936 Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich Aile Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfiiltigung des Werkes (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Veri ages. ISBN-13: 978-3-531-11717-1 e-ISBN-13: 978-3-322-84052-3 DOl: 10.1007/978-3-322-84052-3 INHALTSVERZEI CHNIS 1st die Zwangsjacke repressiv? Ober die Widerspruche psychiatrisch-rnedizinischer Kontrollen Irmgard Eisenbach-Stangl und Wolfgang Stangl 7 TElL I: PSYCHIATRIE UNO PSYCHOTHERAPIE Einleitung A Ifred Springer 29 Alternativen zum Ausschlul! - Perspektiven einer Psychiatriereform noch einmal neu durchdacht Heiner Keupp 33 Besonderer Rechts- und Personlichkeitsschutz fur psychiatrische Patienten - Eine Konsequenz des Doppelcharakters der Psychiatrie Jiirgen M. Pelikan 43 Rechte setzen sich nicht von selbst durch Zur Institution des Patientensachwalters im reformierten osterreichischen Anhalterecht Rudolf Forster 51 Die Ethik der chemischen Therapie in der Psychiatrie Wilhelm Burian 72 Ethik der Psychiatrie Hans Strotzka 78 Alternativen zur Psychiatrie Rolf Schwendter 81 TElL II: STRAFJUSTIZ Einleitung Arno Pilgram 93 Gefangen im Panoptikum. Ober Mal!regelvollzug und aktive soziale Kontrolle Trutz von Trotha 95 Kritische Betrachtungen zur Behandlung im Strafvollzug Edelgart Quensel 103 5 Die Problematik der Behandlungsweisung durch die Gerichte Franz Lingler 121 Zur Praxis des Ma~regelvollzugs. Verhalten in der Institution als Basis der Prognosebeurteilung Wilfried Rasch 128 Ma~nahmenrecht und Rechtsstaatlichkeit Wolfgang Stangl 139 TElL III: VERBOTENE SOCHTE Einleitung Wilhelm Burian 155 Die Verordnung von Nuchternheit Zur Kontrollgeschichte verbotener Drogen I rmgard Eisen bach-Stangl 159 Permissive, repressive oder rehabilitative Strategien im Suchtgiftbereich Friedrich Bschor 173 Das Strafrecht als Hliter der Gesundheit Christian Bertel 183 Das verweigerte Recht auf Zwangsbehandlung - oder: Der Strafvollzug, das Gesundheitssystem und die Drogenabhangigen Wolfgang Werdenich 188 Der Behandlung Grenzen setzen. Selbsthilfe und Fixer-Autonomie am Beispiel der Junkiebunde Sebastian Scheerer 191 Selbsthilfe unter dem Abstinenzdiktat Alfred Springer 203 Danksagung 226 Autorenverzeichnis 227 6 1ST DIE ZWANGSJACKE REPRESSIV? OBER DIE WIDERSPROCHE PSYCHIATRISCH MEDIZINISCHER KONTROLLEN*) Irmgard Eisenbach-Stangl und Wolfgang Stangl "Die Wahnbildung in der Psychose ist ein Heilungsyersuch yom ,Unbehagen'der Krank heit, so wie die groBe ideologische Bildung (,Wahrheit', ,Freiheit' etc.) in Wirklichkeit ein Heilungsyersuch yom Unbehagen der Kultur ist". Franco Rella Einleitung Selbstverstandlich ist die Zwangsjacke repressiv! Sie ist das Symbol der Macht ausubung durch die Psychiatrie schlechthin, das Anzeichen ihrer Gewaltformig keit im Umgang mit psychisch Kranken. Gerade diese archaische Form der kor perlichen Fesselung zeigt unverhullt einen entmenschlichten Machtapparat, der sich unter (teilweisem) Verzicht auf diesen auBerlichen und anstoBigen Angriff auf den Leib des Menschen, in den letzten Jahrzehnten nur technisch verfeinert hat und dadurch seine Zugriffmoglichkeiten noch zu steigern vermochte - durch "diskretere" Schockbehandlungen, wie diverse medikamentose Behandlungen und Psychotherapien. Und uberhaupt, was soli die Frage? Entlarvt sie nicht den, der sie stellt? Selbstverstandlich ist das Anlegen der Zwangsjacke ebenso repressiv wie die In ternierung in einem I rrenhaus oder bestimmte medikamentose Behandlungen und es scheint auch niemand das Gegenteil zu behaupten. Wir sind nirgendwo auf Zeugnisse gestoBen, die das Gluck des durch den Pfleger Gefesselten, des durch den Arzt "Niedergespritzten" , oder die Freude auf den zwangsweise ver ordneten Elektroschock dokumentieren. Aber es ist zu simpel, die Psychiatrie einfach mit dem Elektroschock gleichset zen zu wollen; und was weist letztlich der Nachweis seiner urspri:inglichen An wendung zum Toten von Schweinen wirklich nach? (vgl. Szasz, 1980, S. 237 ff.). 1m ubrigen ware es gleichfalls naiv, den Zwang bei diversen freiwilligen Thera pien einfach in Abrede zu stellen, nur weil die Therapiewilligen sich angeblich oder tatsachlich selbst diesen ,Zwangsritualen unterwerfen. Die Dinge liegen komplizierter und die Grenzen der Behandlung werden durch die Achtung der Schocktherapie nicht wesentlich klarer. Und ist nur das Fesseln der Hande, das "Niederspritzen", die Verwahrung im Gitterbett repressiv, oder auch die Gabe von Aspirin? 1st alles, was irgendeine staatliche Institution unternimmt, unlegitimierbarer Zwang, weil sie als Institu tion nicht zu rechtfertigen ist? Wenn ja, dann ist die Debatte mit einem schlich ten Syllogismus zu beenden; wenn nein, bedarf es weiterer Oberlegungen. Der Versuch, die Grenzen der Behandlung naher zu uberdenken, bildet das Thema dieses Buches. Es ist in drei Bereiche gegliedert, in denen Grenzziehun gen besonders vordringlich erscheinen: I m Bereich der Psychiatrie selbst (der Anstaltspsychiatrie, der miturwissenschaftlich orientierten, medikamentosen Therapie und der Psychotherapie), im Bereich des Strafrechts und im Bereich *) Wir haben diese Arbeit mit einer Reihe yon Freunden, unter ihnen Autoren dieses Ban des, diskutiert. Wir danken ihnen fur Kritik, Hinweise und Zustimmung. 7 der illegalisierten Suchte. Die Arbeiten thematisieren die Limitierung in unter schiedlicher Weise: Es geht um ethische wie um technische Grenzen psychiatri scher Diagnose und Behandlung, um einschrankend administrative Limitierun gen wie um Entgrenzungsversuche, die um der Effizienz-und Rationalitatsstei gerung willen stattfinden. Und naturlich geht es um politische Grenzen: Diese werden nicht nur in Arbeiten angesprochen, die sich mit Selbsthilfe und Initia tiven gegen den etablierten Zwangsapparat beschaftigen, sondern auch in jenen, die sich mit rechtsstaatlichen, strafrechts- wie gesundheitspolitischen Grenzzie hungen auseinandersetzen. Es wird in der Einleitung darauf verzichtet, die ein zelnen Beitrage naher vorzustellen, da dies in den Einfuhrungen zu den jeweili gen Abschnitten im Buch geschieht. Trotzdem werden wir auf die Argumente der Autoren zu ruckg rei fen , sie zusammenfassen und versuchen, sie fur die Frage stellung dieses einleitenden Beitrages zu nutzen, ohne jedoch damit den An spruch zu erheben, sie gleichzeitig authentisch zu interpretieren. In spatkapitalistischen Gesellschaften, in denen noch immer (oder vielleicht auch verstarkt) gewaltformige strukturelle und individuelle Beziehungen groBes Gewicht haben,entstehen auch gewaltformige Divianzformen, auf die (begrenzt, aber doch) mit Gewalt zu reagieren ist. Soweit die Psychiatrie mit derartigem Verhalten konfrontiert ist, vermengen sich Behandlung und Zwang. Die Zwangs jacke dient uns im folgenden als Chiffre psychiatrischer Gewalt, die Frage ihrer moglichen Legitimation soli einleitend naher uberdacht werden. Neben den sicht baren institutionalisierten Formen psychiatrisch-medizinischer Gewaltausubung, existiert der mehr oder weniger private Bereich, der auch in Europa zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Hier sei mit den Begriffen des "Psychobooms" und des "Psychopharrnakabooms" diese Entwicklung lediglich angedeutet. Ober legungen zu diesen informellen, "weicheren" Kontrollformen bilden den zwei ten Themenschwerpunkt der Einleitung. Insgesamt ist "Gesundheit" ein in seinem gesellschaftlichen Stellenwert an Bedeutung stetig wachsendes Thema, womit eine Aufwertung von Medizin - nicht notwendigerweise der klassisch-naturwissenschaftlichen - verbunden ist. Diese Wertsteigerung hat viele Ursachen und die Erscheinungsformen sind nicht weniger vielschichtig und widerspruchlich als ihre Grunde: Der Ausbau der pra ventiven Medizin, bis hin zurSturzhelmpflicht und dem obligatorischen Anlegen von Sicherheitsgurten der Kraftfahrzeuginsassen, ist nur ein Teilbereich. Aber nicht nur die Erscheinungsformen sind vielgestaltig, sondern auch die Interessen, die die Gesundheitspolitik tragen: Ihr Spektrum reicht von Profitinteressen bis hin zu okologischen, von Burgerlisten zu Alternativparteien. Was Virchow repu blikanisch-rebellisch im Sinne der. 1848-er Revolution ausrief - "Die Medizin ist eine sociale Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts, als Medizin im Gro Ben" (zit. nach Rosen 1977, S. 286) -, beginnt uns mehr und mehr als "Gesund heits"- oder "therapeutischer" Staat zu beunruhigen, weil die politische Kom ponente sozialmedizinischer Forderungen des 19. Jahrhunderts, die Virchow mit den Worten "volle und uneingeschrankte Demokratie" zusammenfaBte, fehlt (zit. nach Jacob 1977, S. 168). Die Vernetzung sozialer Kontrollen im Spiitkapitalismus In der Debatte um die Vernetzung staatlicher Kontrollen, die fur die Psychia triekritik von groBer Bedeutung ist, sei einleitend an Claus Offes zu Beginn der siebziger Jahre formulierte Kennzeichnung des spaten Kapitalismus erinnert: 1m Unterschied zu fruheren Formen seien im Spatkapitalismus durch staatliche 8 Organisierung des Marktes, die Institutionalisierung des technischen Fortschrit tes und die staatliche Regulierung des kapitalistischen Gesamtsystems (d.h. durch Staatsinterventionen im Bildungs-, Sicherheits-, Gesundheitsbereich etc.) Auffangmechanismen zur Hand, die die "selbst-negatorischen Tendenzen" der kapitalistischen Grundstruktur mehr oder weniger gegluckt abzufangen in der Lage sind (Offe 1973). 1m weiteren meinte er, daB diese Kontrollen "kategorial erschopft" seien, d.h. nicht mit der Entwicklung neuer staatlicher Regulierungs instrumente zu rechnen sei, sondern mit ihrer zunehmenden Vernetzung. Seine gleichzeitige Warnung davor, die historische Beendigung des Kapitalismus durch die Vorschaltung des magischen Prafix "spat" beschleunigen zu wollen, hat ihm manchen linken Vorwurf eingetragen; der zehn Jahre spater von Wolf-Dieter Narr geschriebene Satz, die von Marx vorausgesagte Dialektik der Geschichte sei "halbseitig gelahmt", durfte dagegen mittlerweile weitgehende Zustimmung finden (Narr 1981, S. 515). Zunehmende staatliche Interventionstatigkeit, die nicht nur quanitativ, son dern auch qualitativ zu verstehen ist, laBt sich nicht nur im Sicherheitsbereich ("Sicherheitsstaat") nachweisen, sondern auch in den enger werdenden Maschen des strafrechtlich-psychiatrischen Komplexes. Wie die Staatstatigkeiten im oko nomischen oder auch sozialpolitischen Bereich, die in bestimmten MaBen auch kompensatorische Effekte erzielte (die freilich angesichts der okonomischen Krise wieder rGcklaufig sind), zeitigte die Ausweitung des strafrechtlich-psychia trisch-rnedizinischen Bereichs h6chst ambivalente Wirkungen, die mit dem Wer beslogan "Helfen statt Strafen" nicht charakterisiert werden konnen. Wir wol len die Entwicklung der beiden Kontrollsysteme Strafrecht und Psychiatrie/Me dizin summarisch zusammenfassen, wobei wir die Entwicklungen der Bundes republik und Osterreichs in den etwa letzten 30 Jahren vor Augen haben. - Der Geltungsbereich der strafrechtlichen Kontrollen verschob sich etwas: Er wurde und wird durch die Entkriminalisierung von Verhaltensweisen be schnitten, die haufig direkt dem sexuellen Bereich angehoren; zu denken ist hier etwa an Homosexualitat, Prostitution, Sodomie, Zuhalterei, Abtreibung etc. Er wurde und wird freilich auch auf neue Tatbestande ausgedehnt, wie z.B. Umwelt-, Wirtschafts-, Terror- oder Drogendelikte. Die Unterschiede in den na tiona len Entwicklungen sind jedoch recht betrachtlich. - Stark diversifiziert wurde in den meisten Landern 9as Sanktionsrepertoire; dies geschah nicht zuletzt durch das Eindringen padagogisch-psychologisch und medizinisch-therapeutisch orientierter Methoden. Dieser Trend erreichte die Bundesrepublik und Osterreich sicherlich "verspatet" und ist in anderen Landern bereits rucklaufig. Durch Reformen wurden in beiden Landern die Moglichkei ten ambulanter Sanktionen erweitert, sowie die Nachbetreuung Straffalliger aus gedehnt (zur Problematik der Weisungen vgl. Lingler in diesem Band). "Weichere" Sanktionsformen finden vor allem bei Jugendlichen, Frauen, Ersttatern und Angehorigen der Mittelschicht Anwendung. Die Sanktionen wurden in den letzten Jahren u.a. durch die Medikalisierung aber auch eindeutig verscharft; hier sind die Einfuhrung des MaBnahmenrechts, verscharfter Ruckfallbestimmungen und in der BRD die Delikte "gegen den Staat" zu nennen. Diese Verscharfungen haben den eindrucksvollen Trend der Decarceration, der durch die Diversifizierung in Gang gesetzt wurde, insgesamt unterbrochen (vgl. dazu Trotha in diesem Band). Wahrend man im Strafrecht insgesamt eher von einer Verschiebung des Geltungs bereiches als von einer eindeutigen Ausdehnung oder Rucknahme sprechen kann und die wesentlichsten Veranderungen sicherlich im Sanktionsbereich zu finden sind, hat im Gegensatz dazu das psychiatrische Kontrollsystem seinen Geltungs- 9 bereich in den letzten Jahrzehnten deutlich au~gedehnt (vgl. auch Keupp in die sem Band). - Quantiativ ist dies einmal am intensiven Ausbau ambulanter Einrichtungen der offentlichen Institution Psychiatrie abzulesen - die stationare (Zwangs-)an hal tung und (Zwangs-)behandlung ist in den meisten europaischen Landern mehr oder weniger rocklaufig. - An Einflu!! gewonnen hat die Psychiatrie aber zweifellos auch durch die zunehmende Akzeptanz psychologisch-psychiatrischer Paradigmata in der Erkla rung und Behandlung devianter Zustande oder Verhaltensweisen - dies gilt glei cherma!!en fur die (im Vorrnarsch begriffenen) "geistes"-oder sozialwissenschaft lich, wie auch fur die naturwissenschaftlich orientierten Paradigmata. Die zuneh mend "multifaktorielle" Erklarung von somatischen Krankheiten, Kriminalitat, Schulproblemen und ahnliches mehr, bezieht psychische Faktoren stets ein, der Beginn der Entwicklung einer Theorie der Psychosomatik ist ein anderer Indi kator. Ais Beleg auf der Ebene der Interventionen kann die steigende Abgabe (und der steigende Konsum) von Psychopharmaka (vgl. auch Burian in diesem Band) - der zu einem wesentlichen Teil nicht von Psychiatern, sondern von niedergelassenen Praktikern erfolgt, und der schon genannte "Psychoboom" an gefuhrt werden. - Wie im Strafrecht, so ist auch in der Psychiatrie eine Diversion der Reak tionspalette festzustellen. Neue Psychopharmaka und psychotherapeutische Me thoden differenzieren sowohl die Interventionsformen der staat lichen Institu tion Psychiatrie, wie die Profession insgesamt. - Die niedergelassenen Psychiater und psychiatrisch-psychologisch Tatigen haben an Einflu!! gewonnen und wurden teilweise in das staatliche Kontrollnetz eingebunden: z.B. durch Gutachtertatigkeit, ambulante Behandlung Straffalliger (statt oder neben Verurteilung), durch Behandlung Entlassener. Aber auch die Allgemeinmedizin (und die Gesundheitsbehorden) wurden in den Kontrollver band integriert (Eisenbach-Stangl und Pilgram 1983). Ais Beispiel hierfur mag der illegale Drogenbereich dienen - an dem die "Vernetzung" besonders deut lich wird. Trotz Medikalisierung - Psychiatrisierung der Kontrollen, ubt das Strafrecht jedoch hier nach wie vor die "Leitkontrolle" aus, wurde zum "Huter der Gesundheit" (vgl. dazu Bertel in diesem Band). Historisch betrachtet verlief der Proze!! allerdings urngekehrt: Die Verletzung des Gesundheitsgebotes wurde zum strafrechtlichen Tatbestand (vgl. dazu Eisenbach-Stangl in diesem Band). - Das Strafrecht hat sich daher nicht nur wissenschaftlich verstarkt an die Psychiatrie und Allgemeinmedizin angelehnt und niedergelassene Arzte in den staatlichen Kontrollapparat integriert, sondern auch di.e Anstaltspsychiatrie als Institution ist mit dem Strafrecht eine engere Allianz eingegangen. In aller Re gel ist vor allem diese Verklammerung angesprochen, wenn auf die zunehmende Vernetzung sozialer Kontrollen im strafrechtlich-psychiatrisch-rnedizinischen Komplex hingewiesen wird. Hier ist primar der erweiterte MaBnahmen-(MaBre gel-)vollzug zu nennen, der die stationareStrafbehandlung der Sucht umfaBt. Dieser Trend wird insgesamt ungenau als Medikalisierung bezeichnet (vgl. Quen sel in diesem Band). Ungenau und unzutreffend ist diese Bezeichnung einmal deshalb, weil sie einen substitutiven Proze!! suggeriert, wahrend in Wirklichkeit durch die Vereinigung der beiden Dispositive Strafrecht und Psychiatrie/Medi zin gro!!teils von einem additiven Vorgang zu sprechen ist. Durch das verstarkte Eindringen medizinisch-psychiatrischer Methoden und Ziele in den Strafrechts bereich, wurde dieser aber zumeist gerade nicht auBer Kraft gesetzt, sondern so wohl in ambulanten, wie auch in stationaren Strafrechtsfeldern verschmolzen. 10 Auch mit dem Begriff der Zwangsbehandlung ist dieser Vorgang nur unzutref fend zu erfassen; der Begriff der Strafbehandlung erscheint uns stattdessen ange brachter. Eine Zwangsbehandlung muB nicht Strafe sein, wiewohl eines leicht in das andere umschUigt und sie sicherlich eine Form medizinischer Kontrolle ist, die ohne moralische Definitionskritierien nicht auskommt. Die Behandlung im geschlossenen oder auch offen en Strafvollzug ist und bleibt aber stets auch an den Zielen und Methoden des Strafrechts orientiert, wie die Arbeiten von Lingler, Quensel, Bschor und Eisenbach-5tangl in diesem Band fur einzelne Be reiche belegen, und ist daher besser als Strafbehandlung zu verstehen. Zusammenfassend ist also eine quantitative und qualitative Ausweitung der Psychiatrie/Medizin festzustellen und ihre partielle additive Verschmelzung mit dem Strafrecht. In der Gesamtphysiognomie der heutigen staatlichen Kontrol len ware sicherlich auch der polizeiliche und padagogische Bereich zu beruck sichtigen. Wir mussen dieses gewaltige Thema, das im ubrigen bisher nur punk tuell untersucht wurde, hier jedoch auf verschiedene Formen psychiatrischer Behandlung eingrenzen. Wie bei der Kritik an der Medizin lassen sich - trotz vielfaltiger Standpunkte und wechselnder StoBrichtungen - zwei Hauptlinien unterscheiden: Die Kritik an der psychiatrischen Versorgung als unzureichend und/oder inadaquat und je ne an der Art psychiatrischer Kontrolle schlechthin, die primar Kritik an ihrer Gewalt ist. Wir werden in der Foige einige Argumente der Gewaltkritik in der Absicht untersuchen, Grenzlinien psychiatrischer Behandlung zu finden. Das Recht der falschen Wahl oder der miBverstandene Begriff der sozialen Kontrolle Eine Position, die die Grenzen psychiatrischer Behandlung aus "antipsychia trischer" Sicht sehr klar definiert, wird von Thomas Szasz eingenommen. Danach wird jede Form institutionellen psychiatrischen Zwangs abgelehnt. Auf die Fra ge, was mit Personen zu geschehen habe, die selbst-oder fremdgefahrlich sind - ein Personenkreis, dessen reale Existenz Szasz in keiner Weise leugnet -, erfolgt folgende Antwort: "In a modern, secular society pledged to the advancement of individual freedom and responsibility, self-injurous behaviour can not justify loss of liberty, however such loss may be rationalised. The State, the family and the medical profession must restrict themselves to offering help (. ..) That is because freedom entails the right to make the wrong choice" (Szasz 1978, S. 1035). Niemand sei zurechnungsunfahig, fahrt der Autor fort, weshalb niemand ent mundigt werden durfe; der Patientsei kein Kind, fur den die Psychiatrie "in loco parentis" handeln und dadurch gegebenenfalls Zwang ausuben durfe. Fur den Fall der Fremdgefahrdung sollte, so Szasz, folgendes gelten: "For those of us who do not believe that there are two categories of criminals - that is, persons who break the law because they choose to and persons who break it because their mental illness makes them do so - the question (. ..) is not a problem. All such be haviour is a matter of crime and should be controlled by means of the criminal law, from the administration of which psychiatrists should be excluded" (ebd., S. 1036). Beide Antworten lassen hinsichtlich ihrer Klarheit nichts zu wunschen ubrig. Aber sind sie auch akzeptabel? 1st die Freiheit zum Selbstmord unter allen Um- 11