Glückliche Kindheit - Schwierige Zeit? Reihe Kindheitsforschung Im Auftrag des Zentrums für Kindheits- und Jugendforschung der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld herausgegeben von Wolfgang Melzer Georg Neubauer Uwe Sander Ingrid Volkmer Band.7 Jürgen ManseI (Hrsg.) Glückliche Kindheit - Schwierige Zeit? Über die veränderten Bedingungen des Aufwachsens Leske + Budrich, Opladen 1996 ISBN 978-3-8100-1561-7 ISBN 978-3-322-92574-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-92574-9 © 1996 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 5 INHALT Seite Einleitung Jürgen Mansei: 7 Glückliche Zeit -Schwierige Kindheit? Klaus-Peter Brinkhoff: 25 Kindsein ist kein Kinderspiel. Über die veränderten Bedingungen des Aufwachsens und notwen dige Perspektiverweiterung in der modemen Kindheitsforschung Bewältigungsstrategien und Wohlbefinden im Kindesalter 40 Kathrin Ziegler: Psychosoziale Bewältigung von Streß im Kindesalter Joachim Stiensmeyer-Pelster: 84 Depressive Verstimmungen im Kindes-und Jugendalter 102 Wolfgang Settertobulte und Christian Palentien: Gesundheitserziehung in der Familie. Zusammenhänge und Folgen erzieherischer und sozialisatorischer Defizite Spezifische Problembereiche und Chancen in unmittelbaren Sozialisationsinstanzen von Kindern 113 Wiebke Horn: Umgang mit familialer Gewalt. Reaktionen zwischen Kontrolle und Unterstützung 128 Gerd Mannhaupt: Unterstützt oder allein gelassen? Eine empirische Studie zum Zusammenhang von Lehrkraftverhal ten und Lemschwierigkeiten in ersten Grundschulklassen 149 Johannes Fromme und Sven Komme,.: AneignungsfOlmen bei Computer-und Videospielen. 6 Inhalt Problembereiche und Chancen im gesellschaftlichen und poli tischen Handlungsumfeld von Kindern Marion Musiol: 179 Veränderungsprozesse institutioneller Kindererziehung in Tages- einrichtungen der neuen Bundesländer Jutta Ecarius und Cathleen Grunert: 192 Verselbständigung als Individualisierungsfalle. Exemplarische Ergebnisse aus einer qualitativen Längsschnittstudie mit ostdeutschen Kindern Klaus Boehnke und Sven Sohr: 217 Kind und Umwelt. Zur Bedeutung der Umweltzerstörung für die Sozialisation von Kindern Gerhard Lehwald: 243 Können Kinder ihren Stadtteil planen? Über Kinderpartizipation in politischen Handlungsfeldern Literatur 254 Glückliche Zeit - Schwierige Kindheit? Jürgen Mansei 1. Zum Wandel der Kindheit In hochzivilisierten, industriellen Gesellschaften wandeln sich die materiellen und sozialen Lebensbedingungen in einem scheinbar zunehmend schnelleren Tempo. Insbesondere neu entwickelte und/oder petfektionierte Technologien und ebenso die Veränderungen in den Sozialbeziehungen infolge der Individualisierungs schübe, der Auflösung tradierter Lebensstile und der Pluralisierung von Lebens verläufen verlangen den Individuen Neuorientierungen und Anpassungsleistungen ab, um sich in der ausdifferenzierenden materiell-dinglichen Umwelt und in den komplexer werdenden sozialen Lebenszusammenhängen zurechtzufmden bzw. kompetent bewegen zu können. Von der Entwicklungsbeschleunigung bleiben kein Lebensbereich und keine Lebensphase ausgeschlossen. Der gesellschaftliche Wandel tangiert damit auch die Lebenswelt von Kindern. Die Etfassung der Veränderungen der Kindheit und der Bedingungen des Aufwachsens der Generation, die in der Welt von morgen die rur die gesellschaftliche Weiterentwicklung verantwortlichen bzw. jene tragenden Erwachsenen sein werden, ist ein wesentliches Motiv des wachsenden Interesses und der wissenschaftlichen Etforschung dieser Lebensphase. Im Rahmen der vielfaltigen Wandlungen der Lebensphase Kindheit in moder nen Industriegesellschaften fallt beim historischen Vergleich vor allem auf, daß Kinder heute unter einem Wohlstands- und umfassenden Versorgungsniveau aufwachsen, welches in der Entwicklungsgeschichte des Menschen noch nie erreicht worden war. Materielle Not scheint beseitigt und eine Lebensführung frei von Hunger und von Sorgen um die physische Versorgung, um Kleidung und Wohnraum weitgehend sichergestellt. Bereits Kinder verfügen heute über eine breite Palette von "Besitztümern", speziell zur spielerischen Förderung ihrer Entwicklung hergestellte Gegenstände und darüberhinaus zum Teil auch über Luxusgüter, die das Leben angenehm machen und bereichern können. Zudem hat die heute heranwachsende Generation eine Fülle von Optionen und Chancen, die sowohl physisch als auch psychisch -in der Privatsphäre und in der Freizeit, in der beruflichen Entwicklung und im späteren Arbeitsleben - eine gesunde und subjektiv befriedigende Lebensführung ermöglichen und scheinbar sogar sicher stellen. Die Voraussetzungen und Wahrscheinlichkeit, ein unbeschwertes und zugleich doch erfülltes Dasein zu führen, waren scheinbar noch nie so günstig wie ftlr die heute heranwachsenden Kinder. Die äußeren Lebensbedingungen könnten von daher als eine Garantie für eine unbekümmerte und sorgenfreie Existenz erachtet werden. 8 Jürgen Mansei Doch steigender Lebensstandard und wachsendes Konsumniveau gehen nicht nur in Einzelfällen einher mit dem Bestreben nach noch größerem Reichtum und dem Verlangen nach immer mehr Luxus. Unter diesen Bedingungen wächst das Risiko, daß individuell im alltäglichen Leben zunehmend mehr Probleme beklagt und auch Nichtigkeiten subjektiv als gravierende und einschneidende Ärgernisse oder sogar Lebenskatastrophen interpretiert werden. Das subjektive Wohlbefinden kann dadurch geschmälert, die Unzufriedenheit gesteigelt werden. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, daß Betroffene aus der UnzufIiedenheit heraus Verhal tensformen und Handlungsmuster entwickeln, die den sozialen Normen und Konventionen zuwiderlaufen und von daher als problematisch, störend und abwei chend eingestuft werden können. Dieser Zusammenhang von steigender Lebensqualität, wachsender individu eller Unzufriedenheit und daraus resultierendem Problemverhalten scheint gerade in bezug auf die heute heranwachsenden Kinder evident, denn trotz der objektiv günstigen Lebensbedingungen mehren sich die Anzeichen fur Auffäl1igkeiten und Defizite, fur unangemessenes Gebaren und Entgleisungen in den Verhaltens mustern und Äußerungen von Kindern. Eltern beklagen den Ungehorsam und die "Aufinüpfigkeit" ihrer Kinder, Lehrer den mangelnden Leistungswil1en und fehlen de Leistungsfähigkeit, die Konzentrationsschwäche und die nachlassende Bega bung der heute heranwachsenden Generation und in den Medien wird der Ein druck erweckt, als nähmen aggressive Verhaltensweisen auch in der Grundschule und im Kindergarten überhand und als seien die Zustände an Schulen mit päd agogischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen. In der öffentlichen Diskussion um die qualitative Andersartigkeit der heute aufwachsenden Generation werden damit, neben den motivationalen, kognitiven und sozialen Defiziten, vor al1em die Ge fährdungen fur das Gemeinwesen und das Bedrohungspotential, welches von den Kindern und deren Verhalten ausgeht, hervorgehoben. Das Aufzeigen solcher negativ bewerteter Entwicklungen und Änderungen im Verhaltensrepertoire der heranwachsenden Generation und die damit einher gehenden Klagen sind jedoch uralt und lassen sich -unabhängig davon, inwieweit sich die Lebensphasen in den historischen Epochen trennen lassen - immer dort auffinden, wo zwischen Kinder- und Erwachsenengeneration differenziert wird. Derartige Klagen, z.B. über den fehlenden Leistungswil1en und die mangelnde Begabung, dominieren die öffentliche Diskussion und sind Grundlage des Bildes von der heute heranwachsenden Generation, obwohl es auch deutliche Anzeichen fur zeitgeschichtliche Entwicklungstrends gibt, die entgegen der im öffentlich gefuhrten Diskurs angedeuteten Richtung verlaufen. So deuten -bei al1er berech tigten Kritik an den Instrumentarien und der Aussagekraft von Intel1igenztests - die in den vergangenen Dekaden (aufgrund der im Durchschnitt elmittelten, um ca. 20 IQ-Punkte gestiegenen "Intel1igenzwerte" von Kindern) wiederholt erforderlich gewordenen Neueichungen von Intel1igenztests darauf hin, daß sich Kinder heute früher das Wissen und/oder die Fertigkeiten angeeignet bzw. die Kenntnisse und Glückliche Zeit -Schwierige Kindheit? 9 Qualifikationen erworben haben, die erforderlich sind, um erfolgreich bei diesen Verfahren abschneiden zu können. Entsprechend diesen Entwicklungen zeigt eine Analyse der Gnmdschullehrpläne z.B. für das Fach Mathematik, daß Kinder heute erheblich mehr leisten müssen, um den schulischen Anforderungen gerecht wer den zu können als noch vor einigen Jahrzehnten. Ähnliches gilt auch für den Schwierigkeitsgrad von Abituraufgaben (siehe z.B. die zeitvergleichende Zu sammenfassung von Forschungsbefunden bei Dollase 1986; 1991).1 Kinder erbringen damit ein erhebliches Maß an Anstrengungen und tatsächlichen An passungsleistungen, um den Aufgaben gerecht werden und die Anforderungen erfüllen zu können, die in gesellschaftlich geschaffenen Institutionen an sie her angetragen werden. Obwohl in der öffentlichen Diskussion eindeutig die Klagen über die Kinder von heute überwiegen, so können damit bei den historischen Veränderungen im Verhaltensrepertoire und den Fähigkeiten der heranwachsenden Generationen sowohl positiv als auch negativ zu bewertende Entwicklungstrends ausgemacht werden. Auch wenn aufgrund der Belastungen des ökologischen Systems Gende formationen bei Neugeborenen und Veränderungen in der biologischen und phylogenetischen Ausstattung der heute heranwachsenden Generation nicht auszuschließen sind, so ist dennoch davon auszugehen, daß die Veränderungen im Gebaren und die Andersartigkeit von Kindem gegenüber früheren Generationen primär das Resultat der verändelten äußeren Bedingungen des AufWachsens sind. Verändertes, unangepaßtes und von Erwachsenen mißbilligtes Verhalten wurde den Kindem in der Regel also nicht "in die Wiege gelegt," sondem sie sind das Ergebnis des Wandels der Sozialisationsbedingungen. Die Bereitschaft, sich in einer gewissen Art zu verhalten, etwas zu tun oder zu unterlassen, und genera tionsspezifische Verhaltensstrategien und Handlungsmuster werden ebenso wie die spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Kenntnisse und das verfügbare Wissen im Prozeß der individuellen Aneignung und der Auseinandersetzung mit den äußeren materiellen und sozialen Lebensbedingungen erworben. Die Anders artigkeit der heutigen Kinder verweist somit auf veränderte Sozialisationsbedin gungen, sprich auf einen Wandel der von Erwachsenen hergestellten Bedingungen, mit denen die Kinder im Prozeß des AufWachsens konfrontiert werden (Geulen 1989, S. 10). Zwar ist der Spielraum der Veränderungen menschlicher Entwick lung aufgrund biogenetischer Steuerungsgrößen begrenzt, aber dennoch wird der Mensch, aufgrund der weitgehend umweltoffenen Programmierung im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung, primär durch die materiellen und sozialen Bedingun gen und die gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen historischen Epoche geprägt. Wenn es also darum geht, die qualitative Andersartigkeit der heute Ein gleichgerichteter Trend wird sich wohl auch bei einem Vergleich der Qualität von Diplom arbeiten, Dissertationen und Habilitationen in den letzten fUnfzig Jahren ennitteln lassen. 10 Jürgen Mansei heranwachsenden Generation zu verstehen, müssen die Hintergründe, d.h. die konkreten Veränderungen in den materiellen und sozialen Rahmenbedingungen des Aufwachsens herausgearbeitet und etfaßt werden. 2. Veränderte Bedingungen des Aufwachsens2 Gerade die grundlegenden Sozialisationsinstanzen, die Lebensbedingungen in den Familien und den Schulen, die Anspruchshaltungen und Erwartungen von Eltern und der Lehrerschaft einerseits, und andererseits auch die Möglichkeiten und Angebote für die Freizeitgestaltung, haben sich in den letzten Jahrzehnten tief greifend gewandelt. Aufgrund des vielfaltigen und komplexen Zusammenspiels der einzelnen Sozialisationsinstanzen zum einen und der widersprüchlichen gesell schaftlichen Entwicklungstendenzen Z.B. hinsichtlich der Einschränkung von Handlungsfeldern und der Eröffuung neuer Handlungsmöglichkeiten, den größer werdenden Freiheiten bei gleichzeitigem Anwachsen von unüberschaubaren neuen Abhängigkeiten zum anderen, läßt sich zwar keine eindeutige Richtung im Wandel der für die Entwicklung der Kinder relevanten Lebensbedingungen einerseits und andererseits dem Verhalten und den Persönlichkeits strukturen der Kinder selbst identifizieren, aber dennoch hinterlassen die verändel1en Rahmenbedingungen deutliche Spuren im Prozeß der Entfaltung der Subjekte und deren Wahmeh mungs-, Aneignungs- und Verarbeitungsmodalitäten der biographischen Erleb nisse. Die gegenüber den fünfziger und auch den siebziger Jahren veränderten Bedingungen des AufWachsens von Kindern erleichtern zum Teil die BeWältigung von Entwicklungsaufgaben und fördern in diesem Sinne die produktive Ausein andersetzung des Subjekts mit den Umweltbedingungen, sie sind zum Teil aber auch gleichzusetzen mit zunehmend schwerer einzulösenden Anforderungen und damit mit erhöhten Belastungen. Zwar werden insbesondere in Situationen, in denen Individuen aufgrund ihrer Einschätzung der zur Verfügung stehenden Bewältigungskompetenzen glauben, nicht über die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vetfügen, um die Aufgaben etfolgreich zu bewältigen bzw. die Lage mit den subjektiven Zielen in Einklang zu bringen, neue Kompetenzen erworben oder vorhandene Grundfertigkeiten neu kombiniel1, aber wenn die zum jeweiligen Zeitpunkt der Individualentwicklung ausgebildeten Handlungskompetenzen unzureichend sind und die Anpassungskapazitäten übelfordel1 werden, steigt die 2 An dieser Stelle werden primär solche Veränderungen berücksichtigJ, die mit den in den folgenden Beiträgen thematisierten Lebensbedingungen von Kindern in einem Zusammenhang stehen bzw. den weiteren Rahmen der konkret analysierten Sachverhalte darstellen. Zur Vielfalt und Breite der Veränderungen der Lebensbedingungen von Kindem siehe den folgenden Beitrag von Brinkhoff, S.25ffi.d.B.