Guido Rißmann-Ottow/Jörg Scherzl Sigrid Stenzel (Hrsg.) Gewerkschaftliche Jugendpolitik zwischen HBV und ver.di Guido Rißmann-Ottow/Jörg Scherzl Sigrid Stenzel (Hrsg.) Gewerkschaftliche Jugendpolitik zwischen HBV und ver.di Selbstverständnis, Erfahrungen und Perspektiven Leske + Budrich, Opladen 2001 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für die Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-8100-3027-6 ISBN 978-3-322-92227-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-92227-4 © 2001 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Gewerkschaftliche Jugendpolitik zwischen HBV und ver.di ............ 9 Traditionen und Grundlagen Guido Rißmann-Ottow Von der Singegruppe zur politischen Gewerkschaftsjugend ............. 17 Gewerkschaftliche Jugendarbeit als Mittel der politischen Orientierung - vier Lebensläufe Norbert Trautwein: Wilde schöne Zeit! - Als Missionar im Gewerkschaftsapparat ........................................................................ 32 Peter Lindemann: Aus linker Tradition ............................................. 37 Ota Hortmanns: Lieber Demokratie als nur 'n Macker ..................... 43 Andrea Dreffein-Hahn: Am Anfang war das falsche Seminar .......... 49 Jörg Scherz Jugendliche und junge Erwachsene als Zielgruppe gewerkschaftlicher Jugendarbeit ........................................................ 52 Sigrid Stenzel Was ist Jugend für die Gewerkschaft? Anmerkungen zur strukturpolitischen Bedeutung ................................. ...................... .... 73 Sigrid Stenzel Strukturen hauptamtlicher Jugendarbeit: Modelle, Krisenerfahrungen und Aspekte einer zukünftigen SekretärInnenausbildung ....... ........................................ .............. ...... 82 6 Inhalt Formen gewerkschaftlicher Jugendarbeit Silke Zimmer Aspekte unserer Organisationskultur .............. ................... ................ 93 Martina Plag Der Strategieprozess und seine Auswirkungen auf die Gewerkschaftskultur - Eine Betrachtung in vier Moderationsschritten .......................................................... ........ 106 Guido Rißmann-Ottow Wenn Kleingedrucktes groß geschrieben wird- Die Jugendrichtlinien ......................................................................... 115 Melanie Märchen Formen struktureller Jugendarbeit ..................................................... 129 ]örg Scherz Die gewerkschaftliche Jugendbildungsarbeit - pädagogisch-didaktische Ansätze und ihre Entwicklung .................. 145 Ulrike Keiß Seminarkultur - Elemente erfolgreicher HBV-Jugendseminare ........ 167 Praxis gewerkschaftlicher Jugendarbeit Annette Malottke Die betriebliche Interessenvertretung von Jugendlichen und Auszubildenden - Zum Wandel der rechtlichen Rahmenbedingungen 179 DirkNagel "Nach dem Essen gab es noch einen Obstler." - Erfahrungen mit Konsensveranstaltungen und ,Runden Tischen' .......................... 193 Uta Kupfer Berufliche Bildung und das Projekt ,Ausbildung checken und verbessern' ............................................................................... '" 203 Inhalt 7 Nicole Elsner Die Berufsschule - oder: Warum der Berg zum Propheten gehen muss ..... ............. ............................. .......................................... 216 Andrea SaUer Ein Schritt vor die Tür - Neue Orte gewerkschaftlichen Engagements in München ...... ................................................ ............ 224 Dörte Harder Offene Jugendarbeit - Das Projekt ,Lunte' ....................................... 231 Cathleen Kreiner Außerbetriebliche Ausbildungsplätze ................................................ 234 Stefan Klee Übernahme im Tarifvertrag Einzelhandel......................................... 239 Jürgen Jung Auszubildende im Streik - Rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen ......................................................................... 242 Ansätze zukünftiger gewerkschaftlicher Jugendpolitik Sigrid Stenzel (HBV) Visionen zukünftiger Jugendpolitik! .................................................. 251 Carsten Förster (DAG) Der weiße Fleck ,Jugend' - Visionen für die Arbeit der ver.di-Jugend ..................................................................................... 255 Anhang Dokument: Das politische Positionspapier der Jungen HBV ............ 267 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .......................................... 282 Gewerkschaftliche Jugendpolitik zwischen HBV und ver.di Es passierte auf dem Gewerkschaftstag der HBV in Würzburg 1999. Ge rade wurde ein wichtiger, die Jugend betreffender Antragspunkt der so genannten ,Eckpunkte des Zielmodells ' für die Fusion der Gewerkschaf ten zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) aufgerufen. Ein Mitglied der Antragsberatungskommission referierte über den Antrag der Jungen HBV und verhedderte sich, als er einen Absatz inhaltlich umrei ßen wollte: "Da geht es um die Wahl eines Bundesjugendbeaujtragten was weiß ich. Das Protokoll gibt die momentane Unsicherheit des Red "I ners in diesem Augenblick, das Stammeln und die verzweifelte Suche nach der richtigen Bezeichnung dessen, der da einmal gewählt werden soll, nur unzureichend wieder. Der Fauxpas fiel auch nicht weiter ins Gewicht. Die meisten Delegierten werden, wenn sie es überhaupt wahr nahmen, mit der gleichen Arglosigkeit darüber hinweg gegangen sein wie der Redner selbst. Aber ein Kollege aus der hauptamtlichen Jugendarbeit regte sich noch in der Mittagspause darüber auf. Für ihn war dies nur ei ner von vielen Momenten in seiner alltäglichen Arbeit, in dem die Ober flächlichkeit und Leichtfertigkeit der älteren KollegInnen gegenüber der Gewerkschaftsjugend deutlich wurde. - Dieser Eindruck war bis dahin tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Trotz unzähliger Lippenbe kenntnisse spielte die Junge HBV in der Wahrnehmung der Älteren und damit in der Gewerkschaftspolitik der Gesamtorganisation eine ihrer Be deutung keineswegs angemessene Rolle, wenngleich sich inzwischen aufgrund der Strukturdiskussion eine intensivere Auseinandersetzung mit Jugendfragen ergeben hat. Zahlreiche weiße Flecken auf der Karte ge werkschaftlicher Jugendarbeit und ein kaum zur Kenntnis genommener, aber nicht selten an die Grenzen der physischen und psychischen Belast barkeit herangehender Einsatz haupt- und ehrenamtlicher KollegInnen 2. Außerordentlicher Gewerkschaftstag der Gewerkschaft HBV, 18. bis 19 November 1999 in Würzburg. Wortprotokoll vom 18. November 1999, S. 43 10 Guido Rißmann-Ottow, Jörg Scherz, Sigrid Stenzel zeugen weiterhin von einem Strukturproblem. Gewiss, dies ist kein Pro blem, das die HBV alleine hat, auch in anderen Gewerkschaften und auch in anderen sozialen oder politischen Verbänden sind Mängel in der Ju gendarbeit chronisch. Gegen viele Widerstände, gesellschaftliche Verän derungen, gewerkschaftliche Sparmaßnahmen und gruppenspezifische Besonderheiten, ist es jedoch der Jungen HBV gelungen, als Personen gruppe mit eigenen Strukturen und politischen Ideen zu überleben. Mit diesem Sammelband will die Gewerkschaftsjugend der HBV Zeichen set zen. Selbstverständnis, Erfahrungen und Perspektiven der Jungen HBV werden den sogenannten ,Erwachsenen' in einer Weise vorgestellt, die sich von den üblichen Darstellungen abhebt. Hier blicken nicht die Ex perten aus dem Elfenbeinturm in etwas hinein, sondern exponierte Ver treter der Jungen HBV berichten nach außen. Die gegenwärtige Situation der Gewerkschaften, die Zeit zwischen HBV und ver.di, bietet dabei einen besonderen Rahmen. Der vorliegende Sammelband richtet sich nicht allein an ,junge' und ,alte' Gewerkschafte rinnen und Gewerkschafter der HBV und an die von Berufs wegen an der Jugend Interessierten innerhalb und außerhalb der Gewerkschaft, sondern auch an alle Kolleginnen und Kollegen der künftig in ver.di vereinten Ge werkschaften. Der Band soll dazu anregen, die gewerkschaftliche Jugend arbeit in ver.di zu fördern. Dort entstehende Synergie-Effekte müssen der Verbesserung, der Erweiterung der gewerkschaftlichen Jugendarbeit die nen. Wir hatten deshalb die Absicht, nicht allein die HBV-Jugend zu Wort kommen zu lassen, sondern auch die Kollegen der DAG, DPGIIG Medien und der ÖTV mit eigenen Beiträgen einzubeziehen. Leider sahen sich nicht alle Bundesjugendsekretäre dazu in der Lage, in unserem Buch mitzuwir ken. Wir bedauern dies, denn wir verstehen den Zusammenschluss von fünf Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft als eine Zäsur. Die Gewerkschaften stehen mitten in einer Umbruchphase, in der die Ge werkschaftsjugend aller Verbände einen besonderen Beitrag für den neuen Gesamtverband zu leisten imstande ist. Mit der Gründung von ver.di verschmelzen nicht nur fünf Organisa tionen. Es verbinden sich fünf, im Detail recht differenzierte Gemein schaften von GewerkschafterInnen. Zahlreiche Fragen hinsichtlich des strukturellen Aufbaus, der politischen Schwerpunktsetzung oder der be rufs spezifischen Bedürfnisse werden mit Hingabe und Eifer diskutiert. Vernachlässigt werden allerdings Fragen nach der von den Mitgliedern gelebten Kultur, ihrer Mentalität und Tradition. Die Frage wie die Ge werkschafterInnen als Teil der Gemeinschaft wirken, wird oft nur unzu reichend berücksichtigt. Gewerkschaftliche Jugendpolitik zwischen HBV und ver.di 11 Dieses Defizit ist in der Struktur der Gewerkschaften begründet. Dem nach außen vertretenen Gedanken der Einheitlichkeit, steht eine nach in nen gewandte Differenzierung entgegen: Alle Gewerkschaften strukturie ren sich nach Fach- und Personengruppen, nach Landesbezirken und Or ten, nach Politikfeldern und Kampagnenschwerpunkten. Diese innere Differenzierung ist unverzichtbar. Jedoch erschwert oder blockiert sie den Blick auf die gelebte Gewerkschaftsarbeit in ihrer Gesamtheit. In allen Gewerkschaften gibt es nur einen Bereich, der diese Diffe renzierung überwindet: die Gewerkschaftsjugend. Sie integriert alle Fach bereiche, beide Geschlechter, alle Standesformen und neben fachspezifi schenzahlreiche gesamtgesellschaftliche Politikfelder. Sie ist gelebte Einheitsgewerkschaft mit besonderer Wirkung. Zwar wird gelegentlich von einer ,seismologischen Funktion' der Gewerkschaftsjugend für die Gesamtorganisation gesprochen und ihre besondere Stellung wird manch mal sogar als avantgardistisch empfunden, doch die Bedeutung der Ju gend für die Gesamtorganisation wird insgesamt eher unterschätzt. Die grundlegende ,Universalität' der Gewerkschaftsjugend wird gleichzeitig durch gruppenspezifische Merkmale geschwächt. Den Nachteil einer ge ringen Größe innerhalb der Gesamtorganisation teilt sie mit einigen ande ren Berufsfachgruppen. Ihr größter Nachteil ist aber die erhebliche fluk tuation. Sie führt dazu, dass eine stetige personelle Betreuung durch Hauptamtliche erforderlich ist und dass dennoch eine Kontinuität in der Wahrnehmung ,klassischer' gewerkschaftlicher Mandate schwer zu ge währleisten ist. Die Akzeptanz der Älteren ist, für die immer wieder neu en Jugendlichen, schwer zu erringen. Das Mandat eines Betriebsrates, Fachgruppen- oder Vorstandsmitgliedes kann Jahrzehnte währen. Man date als Jugend- und Auszubildendenvertretung, Ortsjugendausschussmit glied oder als VertreterIn der Jugend in diversen anderen Gremien sind häufig nur verhältnismäßig kurze Episoden, von vielleicht zwei, drei oder auch vier Jahren. Kaum, dass der oder die Jugendliche sich richtig eta blieren, Profil und Akzeptanz erwerben konnte, reißen neue Lebenswege, berufliche Karriere oder einfach die Altersgrenze das aktive Gewerk schaftsmitglied aus der politischen Arbeit als Teil der Gewerkschaftsju gend heraus. Mit den Kontinuitätsbedürfnissen der Gewerkschaft ist dies ein schwer zu vereinbarender Zustand. Andererseits: Alternative, nicht unmittelbar durch die Satzung geregelte Arbeitsformen werden von den sogenannten Erwachsenen in der Regel überhaupt nicht wahrgenommen. Die extrem intensive und an innovativen Vorgehensweisen reiche Arbeit der Gewerkschaftsjugend verpufft. Ein erhebliches Potenzial der Ge werkschaften wird weitgehend ungenutzt verschenkt. 12 Guido Rißmann-Ottow, Jörg Scherz, Sigrid Stenzel Dieses Buch ist der Versuch, dieses unterschätzte Potenzial zusam menzuführen und nutzbar zu machen. Der markanteste Nachteil bei der Arbeit mit der Personen gruppe Jugend wird als Vorteil genutzt: Es ist nicht ungewöhnlich, dass aktive Gewerkschaftsjugendliche ihren Beruf aufgeben und eine völlig neue Karriere beginnen. Sie arbeiten als politi sche SekretärInnen bei Gewerkschaften. Sie studieren und werden Juris tInnen, IngenieurInnen, Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen. Sie werden leitende Angestellte oder FreiberuflerInnen. Manche nehmen po litische Mandate oder Positionen in Parteien oder Verbänden war. - Und sie halten häufig über Jahre ihre Verbindung zur Gewerkschaftsjugend aufrecht. Die Auswahl geeigneter Autorinnen und Autoren fiel nicht schwer und der zur Verfügung stehende Personenkreis ist mit den hier vertretenden Autorinnen und Autoren keineswegs ausgeschöpft. Was bedeutet dies für die Verschmelzung der ver.di-Gewerkschaf ten? Einerseits ist die Darlegung, Diskussion und Überführung einer ge lebten gewerkschaftlichen Kultur zwingend erforderlich und kann durch die Gewerkschaftsjugend in weiten Teilen und nicht nur für sich selbst skizziert werden. Andererseits ist mit der Jugend ein umfangreiches, bis her kaum genutztes, progressives gewerkschaftliches Kompetenzpotenzi al verfügbar, dass in den weiteren ver.di-Prozess einbezogen werden muss. Diese Verbindung hat die Abteilung Jugend der Gewerkschaft HBV mit dem vorliegenden Sammelband vor Augen. Ausgangspunkt sind die vielfa.ltigen Formen und zahlreichen Politikfelder der gewerkschaftlichen Jugendarbeit in den letzten Jahren. Durch sie werden die Zielrichtung und die Art und Weise moderner Gewerkschaftsarbeit, wie sie sich unter den spezifischen Bedingungen der Gewerkschaft HBV in weiten Teilen des Landes entwickelt hat, illustriert. Visionen für die künftige Arbeit in, mit und an ver.di werden formuliert. Eine große Vielfalt von Themen wurde dazu von 21 Autorinnen und Autoren bearbeitet. Diese Beiträge bieten, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, einen Querschnitt der Gewerkschaftsarbeit der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. In den herkömmlichen Darstellungen und Beiträgen zum ver.di-Pro zess führen nicht selten die immer gleichen Experten die Diskussion. Sie prägen gegenwärtig maßgeblich die veröffentlichte Meinung. Durch den vorliegenden Sammelband wird der Kreis der Debattierenden erweitert. Die einzelnen Beiträge stammen ausschließlich von Frauen und Männern, die selbst als Gewerkschaftsjugendliche aktiv sind oder waren und die aus dieser Arbeit heraus eine besondere Kompetenz erworben haben. Dies ermöglicht es, ein breites Spektrum der Arbeit der HBV aus sehr