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Gewalt und Opfer: Im Dialog mit Walter Burkert PDF

442 Pages·2010·1.802 MB·German
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Gewalt und Opfer MythosEikonPoiesis Herausgegeben von Anton Bierl Band 2 De Gruyter Gewalt und Opfer Im Dialog mit Walter Burkert Herausgegeben von Anton Bierl und Wolfgang Braungart De Gruyter Dieser Band entstand mit Unterstützung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) (Universität Bielefeld) und der Universität Basel. ISBN 978-3-11-022116-9 e-ISBN 978-3-11-022117-6 ISSN 1868-5080 BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar. ©2010WalterdeGruyterGmbH&Co.KG,Berlin/NewYork Druck:Hubert&Co.GmbH&Co.KG,Göttingen (cid:2) GedrucktaufsäurefreiemPapier PrintedinGermany www.degruyter.com Inhalt VORWORT vii Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirations- quelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft ANTON BIERL 1 Horror Stories. Zur Begegnung von Biologie, Philologie und Religion WALTER BURKERT 45 Zwischen Biologie und Geisteswissenschaft. Probleme einer interdisziplinären Anthropologie WALTER BURKERT 57 Walter Burkert on Ancient Myth and Ritual. Some Personal Observations JAN BREMMER 71 Mystika, Orphika, Dionysiaka. Esoterische Gruppenbildungen, Glaubensinhalte und Verhaltensweisen in der griechischen Religion ALBERT HENRICHS 87 Haereditarium Piaculum. Aspects of Ancient Greek Religion in the 17th Century RENAUD GAGNÉ 115 Dionysos. Riten und Mythen im Werk von Walter Burkert RENATE SCHLESIER 149 vi Inhalt ‘Vom geheimen Reiz des Verborgenen’. Antike Mysterien, Mythen und Kulte zwischen anthropologischer Deutung und moderner Ritual- und Kommunikationstheorie EVELINE KRUMMEN 173 Unschuldskomödie oder Euphemismus. Walter Burkerts Theorie des Opfers und die Tragödie SUSANNE GÖDDE 215 Religion und Gewalt. Walter Burkert und René Girard im Vergleich WOLFGANG PALAVER 247 Evolution, Analogien und Universalien. Eine Systematik naturalistischer Modelle anhand von Walter Burkert CHRISTOPH ANTWEILER 267 Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Arguments ECKART VOLAND 293 Danae, Rapunzel und ihre Schwestern. Zu Walter Burkerts Konzept der Mädchentragödie MICHAEL NEUMANN 317 Verwandelnde Erfahrung. Die großen Mysterien in der Imagination des 18. Jahrhunderts JAN ASSMANN 343 Gewalt und Trauer. NIOBE-Tragödien EVA KOCZISZKY 363 Walter Burkert. Kulturtheorie und Poetik der Tragödie. Sophokles, Philoktet, Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame, Heiner Müller, Philoktet WOLFGANG BRAUNGART 383 VORWORT Der vorliegende Band ist dem Gespräch mit dem großen Gräzisten Walter Burkert gewidmet. Walter Burkert hat wirklich Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Sein Werk wird weltweit intensiv rezipiert. Es hat zahlreiche Studien in den Altertumswissenschaften, den Religionswissenschaften, den Theologien, aber auch den Neuphilologien angeregt. Lange bevor die Geisteswissen- schaften begonnen haben, sich kulturwissenschaftlich neu zu orientieren, hat Walter Burkert mit großer synthetischer Energie und in souveräner interdisziplinärer Offenheit Altphilologie als moderne Kulturwissenschaft verstanden und praktiziert. Er hat sich nicht gescheut, den Brückenschlag zu den Naturwissenschaften zu suchen. Anthropologische, soziologische, psychologische, ethologische und biologische Forschungen aufnehmend betont Burkert die unheimlichen und gewalttätigen Seiten des Griechen- tums. Dabei hat er immer auch unsere Gegenwart im Blick. Was heute un- ter Stichworten wie ‘Biopoetics’ oder ‘Anthropologie der Literatur’ neu diskutiert wird, hat Burkert schon vor mehr als 30 Jahren, beruhend auf intensiven eigenen Quellenstudien, in Angriff genommen. Mit Vorliebe geht Burkert den Ursprüngen menschlichen Zusammenle- bens in Riten auf den Grund; Schulderfahrungen, Opferrituale und Todes- szenarien sind zentrale Themen seines wissenschaftlichen Werkes. Er interessiert sich besonders für Forschungsfelder, die man gemeinhin weni- ger mit den seit Winckelmann und dem europäischen Griechenkult so sehr stilisierten Griechen assoziiert: für Sekten, verschiedenste religiöse Rand- phänomene, griechischen Schamanismus, Pythagoreismus, Orphik, für Dionysosriten, Mysterienkulte, grausame Initiationsrituale, Tricksterwe- sen, für eigenartige Kosmogonien und magische Praktiken. Pionierfor- schung leistet er auch, wenn er vorderorientalische, mesopotamische und ägyptische Einflüsse auf das Griechentum untersucht. So ist ein völlig neues und auf eigene Weise faszinierendes Bild der Hellenen entstanden. ‘Die Griechen’ sind durch Walter Burkert nicht mehr der isolierte Zenit einer einmaligen Geisteskultur, sondern hervorgegangen aus den unter- schiedlichsten Einflüssen des Mittelmeerraumes. Die Erforschung ihrer Kultur eröffnet tiefe Einblicke in unsere menschliche Grundkonstitution. viii Vorwort Die Beiträge zu diesem Band gehen auf ein internationales Autorenkollo- quium mit Walter Burkert zurück, das im November 2007 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattgefunden hat.1 Wir danken dem ZiF für die Finanzierung und Ausrichtung der Tagung, den Beiträgern für ihre Mitwirkung, dem Verlag Walter de Gruyter, besonders Dr. Sabine Vogt und Dr. Elisabeth Schuhmann, für manchen Rat und die Unterstützung der neuen Reihe MEP, unseren Basler und Bie- lefelder Mitarbeitern, besonders Ellen Beyn, Saskia Fischer, Mareike Gronich, Markus Pahmeier und Xenja Herren, für ihre engagierte Unter- stützung bei der Tagung und vor allem bei der Druckvorbereitung und Walter Burkert selbst für lebhafte Diskussionen, an die wir uns noch lange und mit großer Freude erinnern werden. Basel und Bielefeld im Herbst 2009 Anton Bierl und Wolfgang Braungart 1 In den Bibliografien, die jeweils den Beiträgen nachgestellt sind, kürzen wir für die Altertumswissenschaften nach L’Année Philologique ab. Griechische Quellen sind nach Liddell-Scott-Jones angeführt, lateinische nach Oxford Latin Dictionary. ANTON BIERL Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft I. Einleitung Walter Burkert ist primär gräzistischer Religionswissenschaftler und Klas- sischer Philologe.1 Zugleich ist er einer der letzten Vertreter einer umfas- senden Altertumswissenschaft. Sein Blick ist dabei neben spezialisierten Detailuntersuchungen oft aufs Große und Universale gerichtet, auf den Menschen schlechthin und seine psychisch-soziale Grundkonstitution. Hinter dem Philologen wird damit der Anthropologe sichtbar. Beide Ten- denzen fließen in einem tiefgehenden Humanismus im wortwörtlichen Sinne zusammen. In seiner frühen Zeit ist er nach eigener Aussage geprägt worden von Otto Seel, Karl Meuli, Reinhold Merkelbach und Eric R. Dodds, die das Andere, das Irrationale und Religiöse am Griechentum betonten. In vielem erscheint er einer längst vergangenen Epoche zuge- hörig. Sein Werk kann sich vielleicht sogar mit deutschen altertums- wissenschaftlichen Größen wie etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellen- dorff oder Theodor Mommsen messen. Burkerts Schaffen gehört noch einer Zeit an, in der man sich ganz ohne Drittmittelanträge und Ein- schreibungen in Exzellenzinitiativen, Graduiertenschulen und Sonderfor- schungsbereiche individuell der Freiheit der Wissenschaft im besten Hum- boldtschen Sinne widmen konnte. Ähnlich wie Niklas Luhmann, der bei seiner Bielefelder Berufung gefragt wurde, was er an Ausstattung für seine Projekte benötige, nur erstaunt auf Bleistift und Zeit kam, gab er sich doch in Zürich neben seiner erfolgreichen Lehre ganz seinen ureigenen wissen- schaftlichen Interessen hin. Dies alles ermöglichte wirkliche Exzellenz, 1 Direkter Schüler von Walter Burkert war ich selbst nie – dies mag auch dabei helfen, ihn hier vielleicht aus anderer Sicht und, bei allem Respekt, etwas unbefangener zu beurteilen. Nichtsdestotrotz bin ich von ihm tief geprägt, fast als wäre ich immer sei- nem Kreis zugehörig gewesen. Unvergesslich sind mir die erste Begegnung mit Homo Necans sowie die darauf folgende tiefe Faszination, als ich ihn zum ersten Mal in meiner Münchner Studentenzeit und dann auf der Dionysos-Konferenz in Virginia persönlich er- leben durfte. 2 Anton Bierl die, wenn sie auch in Deutschland zunächst verkannt wurde, über Über- setzungen in andere Sprachen weltweit Anerkennung fand. Sein ganz eige- ner Ansatz ist zudem geprägt von der Herkunft und den historischen Ent- wicklungen, das heißt von der Nachkriegszeit und der allmählich einset- zenden geistigen Öffnung der BRD sowie von den kulturellen Umwäl- zungen um das Jahr 1968. Walter Burkert ist es gelungen, über seine eigentliche Disziplin der Gräzistik hinaus eine allgemeine Bekanntheit als Geisteswissenschaftler zu erzielen. Trotz einzigartiger Gelehrsamkeit vermag er offensichtlich etwas Grundsätzliches anzusprechen, was uns alle angeht, eine verdrängte Tiefenschicht unserer anthropologischen Existenz, die im Mythos und im (in einer mehr oder minder losen Beziehung dazu verlaufenden) Ritual ihren Ausdruck sucht. Burkert geht zum “wilden Ursprung” unserer west- lichen, von den Griechen so beeinflussten Zivilisation zurück.2 Im geis- tigen Aufbruch der frühen 1960er Jahre und auf den vorausliegenden Erfahrungen des Schreckens des letzten Jahrhunderts basierend verlässt er die eingetretenen Pfade positivistisch-historistischer oder neo-humanis- tischer Forschung in den Altertumswissenschaften. Auf einer syntheti- schen Theoriebasis versucht er dabei zu den fundamentalen Zusammen- hängen menschlichen Lebens vorzudringen. Wie ein roter Faden zieht sich die Überlegung durch sein Werk, dass für die menschliche Zivilisation nicht nur die Verdrängung des angeborenen Triebs zur Aggression und Gewalt, sondern auch deren konstruktive Einbindung vonnöten ist. In der kulturellen Verarbeitung durch letztlich auf biologische Handlungspro- gramme zurückführbare Riten und Mythen kann nämlich die destruktive Energie für das Zusammenleben konstruktiv umgepolt werden. Nach Bur- kert ist es dadurch möglich, Krisen im individuellen und gesellschaftlichen Leben erträglich zu machen und zu überwinden. In den zentralen Prak- tiken wie Opfer, Initiation und Fest agiert man performativ die inhärente Energie aus, um sie für die dauerhafte Kohäsion fruchtbar zu machen. Es findet also laufend eine Art Rückversicherung bei den Ursprüngen statt; in der Rückkehr zu diesen kann das Chaos bewältigt werden. Damit wird eine Begründung und Legitimierung der bestehenden Ordnung gewähr- leistet. 2 So der gelungene Titel, den Glenn Most (vgl. auch Most 1990) einer von ihm her- ausgegebenen Sammlung von einigen frühen Aufsätzen Burkerts (1990a) gab.

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