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Gesprächskreis Geschichte PDF

37 Pages·2002·0.2 MB·German
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1 Gesprächskreis Geschichte Heft 47 Jürgen Kocka Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945 Aufstieg – Krise – Perspektiven Vortrag auf der Festveranstaltung zum 40-jährigen Bestehen des Instituts für Sozialgeschichte am 25. Oktober 2002 in Braunschweig Friedrich-Ebert-Stiftung Historisches Forschungszentrum 2 ISBN 3-89892-136-0 ISSN 0941-6862 Herausgegeben von Dieter Dowe Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung und Institut für Sozialgeschichte e.V. Braunschweig – Bonn Kostenloser Bezug beim Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn (Tel. 0228 - 883-473) E-mail: [email protected] © 2002 by Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn (-Bad Godesberg) Umschlag: Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn Druck: Toennes Satz + Druck GmbH, Erkrath Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 2002 3 Jürgen Kocka Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945 Aufstieg – Krise – Perspektiven* 1969 schrieb Hans Rosenberg, einer der einflussreichsten Grün- derväter der westdeutschen Sozialgeschichte, ein wenig ironisch, „dass in den letzten Jahren die sogenannte Sozialgeschichte (in den Vordergrund des Interesses gerückt und) für viele ein nebu- loser Sammelname für alles (geworden ist), was in der Ge- schichtswissenschaft der Bundesrepublik als wünschenswert und fortschrittlich angesehen wird.“ Zwei Jahre später lobte der briti- sche Historiker Eric Hobsbawm die beachtliche Blüte, die die Sozialgeschichte international erreicht habe, und fuhr fort: „It is a good moment to be a social historian. Even those of us who never set out to call ourselves by this name will not want to dis- claim it today.”1 Ich war zu der Zeit noch nicht lange promoviert und bestätige rückblickend gern, dass die Sozialgeschichte damals bei uns durchaus umstritten war – manchen erschien sie beispielsweise als „Einfallstor“ der als „linksverdächtig“ geltenden Soziologie * Der 40. Geburtstag des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn ist ein guter Anlass Bilanz zu ziehen: nicht die des Instituts, sondern die der Sozialgeschichte in Deutschland. Im folgenden wird dies versucht, aber nicht im Detail, sondern in großen Zügen, für fachlich nicht notwen- dig spezialisierte Leser; und nicht ohne persönliche Reminiszenzen des Autors, der als Sozialhistoriker seit den 1960er Jahren an den zu skizzie- renden Entwicklungen aktiv teilnahm. Für weiterführende Anmerkungen zum Manuskript danke ich Dieter Dowe, Gerhard A. Ritter, Hans-Ulrich Wehler und Thomas Welskopp. 1 Hans Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 1969, S. 147; E. J. Hobsbawm, From Social History to the History of Society, in: Daedalus 100, Winter 1971, S. 20-45, hier 43 (dt.: Von der Sozialgeschichte zur Geschichte der Gesellschaft, in: H.-U. Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 330-353, hier 351). 4 in die Geschichtswissenschaft“.2 Aber gleichzeitig war die Sozi- algeschichte für viele ein faszinierendes Projekt und das ge- schichtswissenschaftliche Feld, auf dem die radikalen, innovati- ven, experimentellen Neuansätze ausprobiert und durchgesetzt wurden; der Bereich also, wo die Musik spielte und auf das man als Jüngerer drängte, weil es die Zukunft zu enthalten schien. Zwanzig Jahre vorher, in den Gründerjahren der Bundesrepu- blik, hätte man solch eine Erwartung nicht formulieren können. Zugegeben, es gab Vorläufer, die in die vorangehenden Jahre und Jahrzehnte zurückreichten. Doch insgesamt entstand die Sozialgeschichte in Deutschland seit 1950 erst allmählich, und dieser Entstehungsgeschichte gehe ich im ersten Teil meines Vortrages nach. Ich verfolge ihren Aufstieg bis in die 70er Jahre, als die Sozialgeschichte eine besonders eindrucksvolle Wachs- tums- und Blütephase durchlief, obwohl sie auch damals nur von einer Minderheit der Historiker betrieben wurde. Heute sehen manche die Sozialgeschichte in der Krise, manche in der Auflösung begriffen, und auch die optimistischeren Beob- achter der heutigen Situation würden die Sozialgeschichte nicht mehr im Brennpunkt des wissenschaftlichen, intellektuellen und ideenpolitischen Interesses sehen, wie es Rosenberg und Hobs- bawm vor gut 30 Jahren taten.3 Im zweiten Teil meines Vortrags beschäftige ich mich mit den Entwicklungen der Sozialgeschich- te in den letzten 20 Jahren, mit ihren Erfolgen, Wandlungen und Krisen. 2 Das berichtet Wolfgang Zorn, Sozialgeschichte – eine Politische Wissen- schaft?, in: P. C. Mayer-Tasch (Hg.), Münchner Beiträge zur Politikwissenschaft, Freiburg 1980, S. 50-67, hier 58. 3 Skeptisch: Geoff Eley, Is All the World a Text? From Social History to the History of Society Two Decades Later, in: Terrence J. McDonald (Hg.), The Historic Turn in the Human Sciences, Ann Arbor 1996, S. 193-243. 5 In einem kurzen dritten Teil werde ich eine deutsche Besonder- heit herausstellen und einen Blick in die Zukunft werfen, ob- wohl ja Historiker als „rückwärts gewandte Propheten“ eher für die Vergangenheit zuständig sind. Hauptsächlich nehme ich die moderne Geschichte in den Blick, mithin die Forschungen und Darstellungen zur Geschichte seit dem 18. Jahrhundert Aufstieg Erst in den 1960er und 70er Jahren wurde die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik zwar nicht zu einem mächtigen, wohl aber zu einem respektablen und munteren Strom, der allerdings aus sehr unterschiedlichen Strömungen bestand und zunehmend über seine Ufer trat. In diesem Strom floss eine Reihe von Flüsschen und Rinnsalen zusammen, die aus unterschiedlichen Quellen stammten und zum Teil weit zurückreichten. Ich nenne die vier wichtigsten. Seit dem späten 19. Jahrhundert gab es das Teilfach „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. Weil die allgemeine Geschichte, wie sie damals an den Universitäten betrieben wurde, vor allem aus der Geschichte der Staaten und der Politik bestand und so- wohl die Geschichte der Wirtschaft wie auch die der Gesell- schaft weitgehend ausgrenzte; weil die damaligen Sozialwissen- schaftler, die Schmoller, Brentano, Sombart und Weber mit ih- ren Kollegen im Verein für Socialpolitik, Wirtschaft und Gesell- schaft in enger Verknüpfung dachten und untersuchten; und weil tatsächlich oft ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und sozialen Phänomenen bestand – aus diesen Gründen lag es nahe, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, wenn überhaupt, dann in enger Verbindung und getrennt von der so- genannten allgemeinen Fachhistorie zu behandeln. Eben das geschah. Seit 1893 erschien die „Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte“, nicht ohne marxistische Einflüsse; sie 6 ging 1903 in die „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschafts- geschichte“ über, die noch heute besteht und nächstes Jahr ihr hundertjähriges Bestehen feiert. Sie enthielt und enthält Artikel zu den verschiedensten Themen: von Forschungen über die Prei- se landwirtschaftlicher Güter und einzelne Erfindungen über lohnstatistische Untersuchungen und Stadtstudien bis zur Ge- schichte von Wachstum, Konjunkturen und Krisen. Über die Jahrzehnte hinweg gab es dann Spezialprofessuren für Wirtschafts- und Sozialgeschichte oder Sozial- und Wirtschafts- geschichte, zumeist in den wirtschafts- und sozialwissenschaftli- chen Fakultäten, und die Vertreter dieses Faches schlossen sich 1961 zur „Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ zusammen, die ebenfalls noch heute besteht. Bei der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dieser Prägung handelt es sich um ein Ergänzungsfach, das sowohl gegenüber der allgemeinen Ge- schichte wie gegenüber den Sozial- und Wirtschaftswissenschaf- ten eine Randstellung einnahm, jedoch in der Mittelalter- wie in der Neuzeitgeschichte auf eine reiche empirische Tradition ver- weisen kann. In der Regel herrschte die Wirtschaftsgeschichte vor, war die Sozialgeschichte eher ein Appendix. Doch zeigt sich beispielsweise am Werk von Wolfram Fischer, wie sehr auch Sozialgeschichte in dieser Kombination zum Zuge kom- men konnte.4 An zweiter Stelle sei die Volksgeschichte der 1920er, 1930er und 1940er Jahre genannt, die kürzlich auch in der breiteren 4 Ausführlicher und auch zu anderen Vorläufern der Sozialgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert: Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, 2. Aufl., Göttingen 1986, S. 59-67, 142-145, 193-195, bes. Anm. 26, 34 und 43. Die VSWG bereitet einen Rückblick auf ihre hundertjährige Geschichte vor, der 2003 erscheinen wird. – Wolf- ram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisie- rung, Göttingen 1972, bes. S. 214-357. In Fischers späterem Werk tritt die Sozialgeschichte zurück. 7 Öffentlichkeit diskutiert worden ist und manchmal fälschlich als die Vorläuferin der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte gilt – sie war in Wahrheit nur eine Vorläuferin unter anderen. Zur Volksgeschichte rechneten sich oder rechnet man heute ei- nige damals meist jüngere Historiker, die sich in der Zwischen- kriegszeit kritisch-revisionistisch von der traditionell dominie- renden Staaten- und Politikgeschichte absetzten oder sie doch zu überkommen suchten, indem sie sich der Geschichte des Volkes zuwandten, und das hieß: der Geschichte der Wanderungen und Siedlungen, der sozialen Schichtung des Volkes und seiner Kul- tur, der Demographie und den Familienstrukturen, aber auch den Arbeits- und Besitzverhältnissen, dem Alltagsleben, den Kon- fessionen und den Gesellungsformen. Die Volkshistoriker forschten teilweise mit neuartigen Methoden – inspiriert durch Geographie, Soziologie und Volkskunde; sie kartographierten und quantifizierten. Die ländliche Gesellschaft fand ihr besonde- res Interesse, fast immer unter modernisierungskritischem Vor- zeichen. Besondere Aufmerksamkeit schenkten sie den Grenzre- gionen, den Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen, den soge- nannten „Volksdeutschen“, dem Auslandsdeutschtum, der Lan- desgeschichte, den ethnischen Konflikten – oft in mehr oder weniger expliziter Kritik an der neuen Grenzziehung und der staatlichen Ordnung Mitteleuropas, wie sie aus dem Weltkrieg und den Friedensverträgen von 1919 hervorgegangen waren. Viele von ihnen standen auch der innenpolitischen Ordnung der Weimarer – und der Österreichischen – Republik ablehnend gegenüber, verstanden sich als völkisch-national, was sie dann in den 30er und 40er Jahren mit den Nationalsozialisten sympa- thisieren, kooperieren, ja sich identifizieren ließ – bis hin zur viel diskutierten Teilnahme einiger von ihnen an der Planung von „ethnischer Säuberung“ und „Entjudung“, die das national- sozialistische Deutschland vorbereitete und durchführte. Diese Gruppierung der „Volkshistoriker“ war wissenschaftlich, politisch, auch qualitativ äußerst heterogen. Doch bei einigen 8 von ihnen, wie Otto Brunner in Wien, Franz Steinbach und Franz Petri im Rheinland, Theodor Schieder und vor allem Wer- ner Conze in Königsberg, verbanden sich eine höchst problema- tische politisch-ideologische Orientierung mit bedeutenden wis- senschaftlichen Leistungen im Bereich oder doch im Umfeld dessen, was man, nicht damals, aber später Sozialgeschichte nannte.5 Nach 1945 war diese Strömung diskreditiert. Doch die, die ihr angehört hatten, wirkten vielfach weiter. Ihre politischen An- schauungen traten entweder in den Hintergrund oder änderten sich in schwer durchschaubaren Lern- oder Anpassungsvorgän- gen. Auch methodisch fiel Altes weg, z. B. die Orientierung aufs Auslandsdeutschtum und die ethnisch-rassische Kategorisie- rung; und es kam Neues hinzu, wie die Hinwendung zur „Indus- triellen Welt“ und die Aufnahme französischer Anregungen aus der Annales-Schule bei Conze. Die zur Selbstbeschreibung die- nenden Begriffe änderten sich: von der Volks- über die Struktur- 5 Vor allem Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; vorher: Winfried Schulze, Von der „Politi- schen Volksgeschichte“ zur „Neuen Sozialgeschichte“, in: ders., Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 281-301; und Jür- gen Kocka, Ideological Regression and Methodological Innovation: Historiography and the Social Sciences in the 1930s and 1940s, in: His- tory & Memory 2, 1990, S. 130-38. – Zuletzt Lutz Raphael (Hg.), Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte: Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 1945-1968 (=Comparativ. Leipziger Beiträge zur Uni- versalgeschichte und Vergleichenden Gesellschaftsforschung 12, 2002, H. 1), Leipzig 2002 (die Einleitung des Herausgebers als knapper Über- blick über den Diskussionsstand, mit Literatur, S. 7-11). Weiterhin Win- fried Schulze u. Otto-G. Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalso- zialismus, Frankfurt 1999; M. Fahlbusch, Die Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die Volksdeutschen Forschungsgemein- schaften von 1931-1945, Baden-Baden 1999; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volks- tumskampf“ im Osten, Göttingen 2000. 9 zur Sozialgeschichte. Doch im 1957 von Werner Conze gegrün- deten Heidelberger „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ trafen sich viele der alten Volkshistoriker – etwa Conze, Schie- der und Maschke – mit kooperierenden Soziologen wie Freyer, Ipsen und Jantke und bald mit Jüngeren wie Wolfgang Köll- mann und Reinhart Koselleck, und dieser sich zweimal im Jahr treffende Arbeitskreis wurde zu einer wichtigen Plattform, die die entstehende, sich weiterentwickelnde Sozialgeschichte der Bundesrepublik kräftig beeinflusste.6 Viele wichtige Sozialhisto- riker der nächsten Generation studierten und arbeiteten bei Wer- ner Conze und Theodor Schieder, zum Beispiel Hans-Ulrich Wehler, Hans Mommsen, Wolfgang Mommsen und Wolfgang Schieder. Der Arbeitskreis besteht, in ganz anderer Zusammen- setzung und an anderem Ort, noch heute. Ich nenne eine dritte Wurzel der modernen Sozialgeschichte in Deutschland, die mit der soeben besprochenen „Volksgeschich- te“ nichts gemeinsam hatte, und die ich besonders gerne erwäh- ne: die Geschichte der Arbeiterbewegung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der – im übrigen nicht sehr übliche – Begriff der Sozialgeschichte bisweilen synonym mit Geschichte der sozialen Frage, der unteren Schichten oder der Arbeiter ge- braucht, und zwar nicht nur in Deutschland. Man denke an den International Review of Social History, der 1936-1939, dann 6 Vgl. neben den in der letzten Anmerkung genannten Titeln von Winfried Schulze und Lutz Raphael vor allem Werner Conze, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 1979, S. 23-32; ders., Die Struktur- geschichte des technisch-industriellen Zeitalters, Köln 1957; ders., Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, in: HZ 225, 1977, S. 1-28; Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; Hans-Ulrich Wehler, Nationalsozialismus und Historiker, in: Winfried Schulze u. Otto-G. Oexle (Hg.), Deutsche Histo- riker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999, S. 306-339; Jürgen Kocka, Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik, in: ebd., S. 340-357.

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sche Historiker Eric Hobsbawm die beachtliche Blüte, die die 36. Vgl. Kocka, Zur Rekonstitution der Sozialgeschichte heute (wie Anm.
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