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Gesellschaft · Staat und Recht: Untersuchungen zur reinen Rechtslehre PDF

447 Pages·1931·16.363 MB·German
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GESELLSCHAFT· STAAT UND RECHT UNTERSUCHUNGEN ZUR REINEN RECHTSLEHRE UNTER MITARBEIT VON J. DOBRETSBERGER-GRAZ . W. HENRICH-BRÜNN F. KAUFMANN-WIEN· J. KRAFT-FRANKFURT A. M . . J. L. KUNZ WIEN • R. A. METALL-GENF . A. MERKL-WIEN . J. MOOR BUDAPEST . T. OTAKA-KEIJO . L. PITAMIC-WASHINGTON F. SCHREIER-WIEN· A. VERDROSS-WIEN · E. VOEGELIN-WIEN F. WEYR-BRÜNN . K. YOKOTA-TOKIO HERAUSGEGEBEN VON ALFRED VERDROSS WIEN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1931 ISBN 978-3-7091-5957-6 ISBN 978-3-7091-5991-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-7091-5991-0 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN FESTSCHRIFT HANS KELSEN ZUM 00. GEBURTSTAGE GEWIDMET Inhaltsverzeichnis J. Philosophisch-soziologischer Teil Seite Dr. Josef Dobretsberger, Professor der Universität Graz, Erkenntnis- theorie und Naturrecht....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dr. Felb Kaufmann, Privatdozent an der Universität Wien, Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Dr. JuIius Kraft, Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M., Reine und angewandte Soziologie................................... 42 Dr. JuIius Moor, Professor an der Universität Budapest, Reine Rechts lehre, Naturrecht und Rechtspositivismus .... . . . . . . . . . . . . . . . .. 58 Dr. Tomoo Otaka, Professor an der Universität Keijo, Künftige Aufgaben der Reinen Rechtslehre ..................................... 106 Dr. Erieh VoegeUn, Privatdozent an der Universität Wien, Das Sollen im System Kants '" ......................................... " 136 11. Juristischer Teil Dr. Walter Henrieh, Professor an der Deutschen Technischen Hochschule, Brünn, Die Verfassung als Rechtsinhaltsbegrüf ................ 174 Dr. Josef L. Kunz, Privatdozent an der Universität Wien, Statisches und dynamisches Völkerrecht .................................... 217 Dr. Adolf MerkI, Professor an der Universität Wien, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 252 Dr. Leonldas Pitamle, Gesandter des Königreiches Jugoslawien, Washingt()n, Zur Lehre von der richterlichen Funktion ......... 295 Dr. Fritz Schreier, Privatdozent an der Universität Wien, Reine Rechtslehre und Privatrecht ................................ , 309 Dr. Alfred Verdro8, Professor an der Universität Wien, Die all- gemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechts quelle ............. ' 354 Dr. Franz Weyr, Professor an der Masaryk-Universität BrÜDn, Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht ........................... , 366 Dr. KtSS8buro YOkota, Professor an der Universität Tokio, Begriff Gliederung der Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft ........ 390 Anhang Dr. Rudolf Aladar M~tall, Mitglied der wissenschaftlichen Abteilung des Internationalen Arbeitsamtes, Genf, Chronologisches Verzeichnis der Schrüten Hans Kelsens.................................. 417 I. Philosophisch-soziologischer Teil Erkenntnistheorie und Naturrecht Von Josef Dobretsberger, Graz Die Rechtsphilosophie seit etwa 1890 bis zum Kriegsende ist durch den Kampf gegen das Naturrecht jeglicher Art gekennzeichnet. Bergbohm hat unter weitreichender Gefolgschaft das Ziel gesetzt: "Nur was als Recht sanktioniert ist, ist Recht, sonst nichts; und alles das ist Recht, ohne Ausnahme" 1). Der Gegenstand der Rechtswissenschaft solle von allen außerrechtlichen Verknüpfungen losgelöst werden. Er dürfe keinen anderen Bedingungen unterliegen als der der Sanktion. Jede andere Voraussetzung des Gegenstandes "Recht" wird als Natur recht abgetan. Naturrecht in dem hier gemeinten Sinn kann ein Dreifaches be deuten: 1. Eine Rechtstheorie, die den möglichen Inhalt positiv rechtlicher Bestimmungen unmittelbar auf Inhalte des natürlichen, sozialen, ökonomischen Geschehens oder der sittlichen und religiösen Normierung einschränkt, so daß ein Gesetz, das inhaltlich diesen Voraussetzungen widerspricht, als Unrecht anzusehen wäre. Dieses materiale Naturrecht erlebt in der jüngsten Zeit eine Wiedergeburt aus der Gegenstandsphilosophie. Jeder Gegenstand, auch das Recht, umfaßt einen Bereich von verträglichen Qualitäten. Die Verknüpfungen: Baum-grün-sehen, Recht-Wert-Fühlen sind verträglich, während z. B. die Aussagen: Dreieck-Tugendhaft oder eine gesetzliche Bestimmung der Planetenabstände sinnlos wären. Der Gegenstand Recht ist hiedurch von vorneherein außerrechtlich begrenzt. 2. Eine Rechtstheorie, die die verpflichtende Wirkung positiv-rechtlicher Normen aus der zwingenden Notwendigkeit des natürlichen, sozialen, ökonomischen Geschehens oder aus der sittlich-religiösen Verpflichtung des Einzelnen ableitet. Beispiele hiefür gibt die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts. 3. Eine Rechtstheorie, die den Gegenstand "Recht" unter die Bedin gungen seiner Erkenntnis im System der Rechtswissenschaft stellt. Das Naturrecht wird in diesem Fall auf die logischen Erfordernisse einer wissenschaftlich denkbaren Rechtsordnung beschränkt. Eine Rechtsordnung müßte demnach so beschaffen sein, daß sie als System widerspruchslos gedacht werden kann. Die eindeutige Anwendungs- I) Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 80. Verdroß, Gesellschaft 2 J. Dobretsberger: möglichkeit oder auch die widerspruchslose Darstellungsmöglichkeit ergäben das Kriterium des "richtigen" Rechtes. Eine Wissenschaft vom positiven Rechte muß autonom, d. h. un abhängig von den Voraussetzungen der angegebenen Art, ihren Gegen stand bestimmen. Seit dem Einsetzen dieser naturrechtsfeindlichen Richtung in der Rechtsphilosophie hat die Erkenntniskritik Kants diesem Ziel als Leitstern gedient. Die lückenlose Begründung einer Wissenschaft vom positiven Recht erwies sich jedoch schwieriger, als sie Bergbohm geschienen hatte. Die wichtigsten Versuche einer Kant schen Begründung der Wissenschaft vom positiven Rechte seien hier angeführt. Kant führt in der Methodenlehre aus, daß es Definitionen im strengen Sinne nur in der Mathematik geben könne, da wir dort "keine Begriffe von der Definition, als durch welche der Begriff allererst gegeben wird, haben" 1). Die von jeder Bedingung freie Setzung der mathematischen Axiome erscheint bewußt oder unbewußt den kantisch gerichteten Rechtsphilosophen als das Vorbild einer von vorwissenschaft lichen Begriffen gereinigten Rechtserkenntnis. Schon bei Kan t aber treten Schwierigkeiten auf: In den übrigen Wissenschaften, außer der Mathematik, können die Grundbegriffe nicht willkürlich definiert werden. Es bedarf eines dritten Begriffes, um die - unabhängig von der Er fahrung gewonnenen - Grundbegriffe auf eine mögliche Erfahrung zu beziehen. Der Ursachenbegriff z. B. bedarf der Zeitbestimmung, einer Form der reinen Anschauung. Und nun ergibt sich die Frage: Wie ist die bedingungsfreie Bestimmung des Gegenstandes einer Wissenschaft möglich, und zwar so, daß die Definition dennoch nicht willkürlich vereinbarte Annahmen, sondern Begriffe ergibt, die sich gerade auf die gegebene Anschauung und Erfahrung beziehen? Auf die Rechtswissenschaft übertragen ergibt sich die Frage, wie der Gegenstand "Recht" autonom bestimmt werden kann und dennoch die Begriffe der Rechtswissenschaft auf das angewendete Recht hinzielen. Nach Stammler ist das Recht im Bewußtsein gegeben. Neben den Besonderheiten des Rechtes muß jedoch auch ein Wesensmerkmal im konkreten Recht enthalten sein, welches die begriffliche Identität der mannigfaltigen Rechtserscheinungen ausweist. "Dieser Rechtsbegriff in seiner bedingenden Eigenschaft muß aber nach einem Verfahren gesucht werden, das ihn selbst noch nicht als gegeben behandelt 2)." Hier setzt die erkenntniskritische Methode ein. Die Ableitung des Rechts begriffes muß sich von einer Sammlung der allgemeinsten Merkmale jedes positiven Rechtes unterscheiden, um einen autonomen, natur rechtsfreien Rechtsbegriff zu liefern. Dennoch aber muß sich dieser auf das positive und nicht auf irgendein gedachtes Recht beziehen. Dieses logische Kunststück vollführt Stammler auf folgendem Wege: "Dem Inhalt nach kann der Rechtsbegriff besondere Willen in un- I) Kant: Kritik der reinen Vernunft (Kehrbach), S. 560. 2) Stammler: Theorie der Rechtswissenschaft, S. 47. Erkenntnistheorie und Naturrecht 3 begrenzter Menge aufnehmen. Aber die bedingenden Methoden, in denen dies geschieht, sind der Zahl nach geschlossen 1). " Es wird von den Funktionen der Rechtserzeugung auf die Struktur des Rechtes geschlossen, so wie Kants Erkenntnislehre vorzeichnet: "Dieselben lfunktionen, welche den verschiedensten Vorstellungen in einem Urteil Einheit geben, geben auch der bloßen Synthesis der Vorstellungen in einer Anschauung Einheit. Auf solche Weise entspringen gerade so viel reine Verstandes begriffe, welche apriori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es logische Funktionen in allen möglichen Urteilen gibtlI)." Die rein erkenntnismäßigen Bedingungen jedes Rechtes als Gegen stand der Rechtswissenschaft sind - auf diesem Wege gefunden - Sanktion und Wirksamkeit. Was also Stammler in dem: Kampfe gegen das Naturrecht erreicht, ist dies, daß er zwar die Einschränkung des Rechtsinhaltes auf bestimmte - von außen gegebene - Möglichkeiten vermeidet, dafür jedoch den Rechtserzeugungsmethoden konstitutiven Charakter verleiht, d. h. aber das revolutionäre Naturrecht ablehnt, um das konservative Naturrecht mit Hilfe der Erkenntniskritik zu begründen. Dieselbe Problemlage finden wir in Nelsons Versuch, aus der Grundannahme : es gibt ein Recht, materiell-rechtliche Postulate ab zuleiten, die auf das Zusammenleben der Menschen Bezug haben sollen. Nelson erklärt diese eigenartige gedankliche Verwicklung "aus dem zufälligen Verhältnis des Naturgesetzes zum Rechtsgesetz, aus dem Bedingungen entspringen, deren Erfüllung allein das Rechtsgesetz auch in der Natur zum geltenden Gesetz erhebt"3). So ergibt sich z. B. aus der Notwendigkeit der Mitteilung durch die Sprache das Verbot der Lüge, aus der Notwendigkeit des individuellen Güterkonsums das Eigen. turnsrecht usw.4). Nelson nimmt also schon die Grundbegriffe direkt aus dem menschlichen Zusammenleben und will die erkenntniskritische Position durch die Betonung retten, daß "die Gemeinschaft dabei nicht als existent gedacht, sondern nur von dem problematischen Begriff einer solchen Gebrauch gemacht wird"Ii). Nelson versucht also die Gegebenheit einer sozialen Gemeinschaft, aus der die rechtlichen Grund. begriffe stammen, in eine transzendentale Idee umzudeuten, wie Kant die konkrete Gegebenheit der Person und ihrer Akte in die transzendentale Einheit der Apperzeption verwandelt. Nelson öffnet hiedurch dem Naturrecht, den außerrechtlichen Bedingungen des Rechtes, Tür und Tor sowohl hinsichtlich des Rechtsinhaltes als auch der Rechtsgeltung. Binder hat in seinem Buche über Stammler und neuerdings in seiner Philosophie des Rechtes zu erweisen versucht, daß die tran szendentale Ableitung der Rechtsbegriffe an der falschen Voraussetzung 1) Stammler: a. a. 0., S. 187. 8) Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 95. 8) Nelson: System der philosophischen Rechtslehre, S. 75. ') Nelson: a.a.O., S. 56. I) Nelson: a. a. 0., S. 54. 1· 4 J. Dobretsberger: scheitert, das Recht sei Gegenstand der Anschauung. Durch die Abkehr von dieser Meinung hält Binder die Beseitigung des für den Kritizismus typischen Dualismus von Sein und Sollen für möglich. "Es ist derselbe Geist, der sich die Welt erbaut und der sie erkennt. Diese Erkenntnis wird auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft um so leichter, als es derselbe menschliche Geist ist, der in der objektiven Welt der Kultur sich schöpferisch und in der Wissenschaft sich nachdenklich betätigt!)." Die Frage nach dem Sinn eines Bewußtseinsinhaltes macht dem mensch lichen Geist sein eigenes Werk wiederum verständlich. Denn da der Gegenstand sinnvoll geschaffen ist, muß die Erkenntnis des Sinnes den Begriff des Gegenstandes ergeben. Der Sinn kommt jedoch nicht in der Anschauung zur Gegebenheit. "Das Wesen des Rechtes kann daher weder in inhaltlichen noch in formalen Bestimmungen des Rechts satzes liegen, sondern nur in seiner Idee. Indem ein Komplex von Normen um einer Idee willen besteht, ist diese sein BegrüfsmerkmaI2)." Ähnlich bezeichnen auch Rickert und Max Weber den Zweck des Rechtes als das für die Rechtswissenschaft wesenhafte Begriffsmerkmal des Rechtes. Und die Idee des Rechtes 1 Sie besteht darin, daß das Recht zum Unterschied von der Sitte "um der Gemeinschaft willen als not wendig gedacht werden muß" 3). Diese "unfaktische" Seite des Rechtes muß dem auf das Gegebene gerichteten Denken ebenso verschlossen bleiben wie dem Physiker der ästhetische Sinn eines Musikwerkes'). Damit hat Binder auf dem schwierigen Umweg über die Transzendental philosophie das eine erreicht, dem Naturrecht, dem man entrinnen will, auf der anderen Seite wiederum in die Arme zu laufen. Denn aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Rechtsordnung leitet Binder eine Reihe materialer Postulate jedes Rechtes ab. Der subjektiv gemeinte Sinn einer Rechtshandlung wird zum objektiven Sinn der Rechts ordnung, das Bestehen von Gesellschaft zu ermöglichen, hypostasiert. Auf dieser Voraussetzung beruht der Rechtsbegriff Binders,' der damit naturrechtlichen Oharakter aufweist. Salomon formuliert das Problem als Frage "nach dem Gegenstand einer möglichen Gesetzgebung seinem Inhalte nach" 5). Diesen bildet die Idee des Rechtes. Trotz ihrem apriorischen Oharakter kann sie sich dennoch nur auf Personen, Sachen, Handlungen und Staat beziehen (worin man irrtümlich ein Dilemma sah)6), weil die Rechtsidee der Einheit und Allheit nur in dieser Stoffschichtung in Erscheinung tritt 7). Diese Erklärung setzt eine zufällige Übereinstimmung von Recht und Gesellschaft voraus, deren Beziehungen zueinander vom erkenntnis kritischen Standpunkt geleugnet werden. 1) Binder: Philosophie des Rechtes, S. 225. 2) Binder: a. a. 0., S. 217. 3) Binder: a. a. 0., S. 235. 4) a. a. 0., S. 221. 5) Salomon: Grundlegung zur Rechtsphilosophie, S. 37, 54. 6) a. a. 0., S. 173. 7) a. a. 0., S. I77f. Erkenntnistheorie und Naturrecht 5 Das erkenntniskritische Denken kann der Zweiseiten-Theorie mit ihren Gefahren naturrechtlichen Einbruchs nicht entrinnen. Selbst Lask wird in diesen Gedankengang gezwungen: "Gewiß hat die Juris prudenz, ebenso wie die Philosophie, nicht ein Existierendes, sondern ein bloß Bedeutendes zum Objekt. Aber während dieser Soll-Charakter in der Philosophie einer absoluten Werthaftigkeit entstammt, für die es keine empirische Autorität gibt, hat er in der Jurisprudenz seinen for mellen Grund in den positiven Anordnungen durch Gemeinschaftswillen. Dieses von Stammler und Eltzbacher hervorgehobene Moment der empirischen Gegebenheit des Rechtes ist nicht etwa, wie es bei J ellinek und Kistiakowsky den Anschein hat, bloß für die soziale Seinslehre, sondern gerade für die juristische Sollenslehre vom Recht relevant!)." Hiedurch erscheint das Naturrecht unvermeidlich; der apriorische Charakter der rechtlichen Grundbegriffe verblaßt, indem diese nicht logische Prinzipien darstellen, sondern aus empirischen Gegebenheiten des Gemeinschaftswillens stammen. Bei diesem Stand des Problems greift Kelsen zweifellos mit dem schärfsten logischen Werkzeug ein, um der naturrechtlichen Befangenheit der erkenntniskritischen Rechtsphilosophie selbst zu Leibe zu rücken. In meisterhafter Kritik der Zweiseiten-Theorien hat er bewiesen, daß eine reine, bedingungslose Sphäre des positiven Rechtes nur möglich ist unter der Voraussetzung, daß die Betrachtungsweisen des Seins und des Sollens in keiner Beziehung zueinander stehen. In der naiven Vermengung beider durch das unkritische Denken liegt die Haupt einbruchsstelle des Naturrechtes in die Rechtswissenschaft. Das kritische Denken bei Stammler, Nelson u. a. biegt letzten Endes wiederum in die realistische Betrachtungsweise um, wenn es sich darum handelt, die eigenartige Parallelität der rechtlichen Grundbegriffe und der Seins sphäre (Positivität) des Rechtes zu erklären. Kelsen trachtet, diesen Widerspruch zu vermeiden, indem er in dem Erkenntnisweg selbst allererst die Erzeugung des Gegenstandes sieht: "Ein Widerspruch der Kategorie des Seins mit der des Sollens ist folgerichtig gar nicht denkbar. Dem Sein von a widerspricht lediglich das Sein von non-a, es wäre denn, man löste den Sollsatz in einen Alsob-Seinsatz auf und behauptete, indem ich a als gesollt betrachte, tue ich, als ob a seiend wäre. Das ist aber offenbar unrichtig. In der Vorstellung des Sollens steht uns eben eine andere Form zur Verfügung, die jeden beliebigen Inhalt aufnehmen kann, ohne mit einer Seinsvorstellung in kontradiktorischen Widerspruch zu geraten. Mit demselben Recht, mit dem ich das Sollen ein fingiertes Sein, könnte ich das Sein ein fingiertes Sollen nennen. Darum kann der Normbegriff wohl in sich selbst widerspruchsvoll sein, er kann aber nie zur Wirklichkeit in Widerspruch geraten. Denn normative Betrachtungs weise ist überhaupt nicht auf Sein gerichtet2)." Nun erst erscheint die reine Sphäre des bedingungslosen Rechtes gesichert. 1) Lask: Gesammelte Schriften, Bd. 1., S. 314. 2) Kelsen: Zur Theorie der juristischen Fiktionen, Annalen der Philo sophie, 1. Bd., 1919, S. 657.

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