Geschlechterverhältnisse, Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union Uta Klein Geschlechterverhältnisse, Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union Eine Einführung 2., aktualisierte Aufl age Uta Klein Universität Kiel, Deutschland ISBN 978-3-531-18339-8 ISBN 978-3-531-94266-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-94266-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2006, 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-vs.de Inhalt 1 Einleitung ............................................................................................ 7 2 Europäische Integration, Sozialpolitik und Gleichstellungspolitik – ein Überblick ....................................................................................... 14 2.1 Sozialpolitik in der Union ............................................................ 14 2.2 Europäische Integration und Geschlecht ...................................... 25 2.2.1 Politisch-rechtliche Integration und Gleichstellung ........... 26 2.2.2 Marktintegration und Geschlechterverhältnisse ................ 28 2.2.3 Kulturelle Integration und Geschlechterverhältnisse ......... 34 3 Institutionen und Instrumente der Gleichstellungspolitik der EU ...... 37 3.1 Institutionen ................................................................................ 37 3.2 Rechtsgrundlagen und Rechtsdurchsetzung ................................. 50 3.2.1 Primäres und sekundäres Unionsrecht .............................. 50 3.2.2 Gesetzesentstehung und Mitentscheidungsverfahren ......... 55 3.2.3 Verfahrensarten des EuGH ............................................... 59 3.2.4 Petitionsrecht und Bürgerbeauftragte ................................ 62 3.3 Kampagnen, Maßnahmen, Programme ....................................... 63 4 Phasen des europäischen Gleichstellungsrechts ................................... 69 4.1 Lohngleichheit als Ausgangspunkt ............................................... 70 4.2 Die Ausweitung auf Gleichstellungspolitik ................................... 72 4.3 Gleichstellung als Querschnittsaufgabe und Gender Mainstreaming ................................................................ 84 4.4 Die Ausweitung auf Antidiskriminierung ..................................... 89 4.4.1 Gender Mainstreaming: Weitere Entwicklung .................. 97 4.4.2 Antidiskriminierung ......................................................... 101 4.4.3 Verfassungsentwurf und Lissabon-Vertrag ........................ 103 5 Strategien, Ziele und Konzepte europäischer Gleichstellungspolitik .... 109 5.1 Rechtliche Strategien ................................................................... 110 5.1.1 Das Lohngleichheitsgebot ................................................. 110 5.1.2 Diskriminierungsabbau .................................................... 113 5.1.3 Indirekte oder mittelbare Diskriminierung ....................... 119 5.1.4 Legitimität und Legalität positiver Maßnahmen ............... 122 6 Inhalt 5.2 Politische Strategien und Ziele ..................................................... 127 5.2.1 Frauenpolitik, Gleichstellungspolitik, Gender Mainstreaming: Die Strategie .............................. 127 5.2.2 Geschlechtergleichheit – Geschlechtergerechtigkeit: Das Ziel ........................................................................... 140 6 Soziale Ungleichheit und Geschlechterverhältnisse im europäischen Vergleich ................................................................... 150 6.1 Erwerbsarbeit ............................................................................... 151 6.2 Familientätigkeit und Erwerbsarbeit ............................................ 173 6.3 Der weitere Care-Bereich ............................................................. 186 6.4 Gewalt im Geschlechterverhältnis ................................................ 189 7 Voraussetzungen und Konsequenzen für die Geschlechterpolitik in den Mitgliedsstaaten ........................................................................ 216 7.1 Geschlechterverhältnisse und Wohlfahrtsstaatssysteme ................. 217 7.2 Die Transformationsstaaten ......................................................... 227 7.2.1 Staatssozialistische Systeme ............................................... 228 7.2.2 Geschlechterverhältnisse in den mittel- und osteuropäischen Staaten heute ................................... 230 7.2.3 Herausforderungen an die Gleichstellungspolitik und die politische Partizipation von Frauen ...................... 237 8 Bilanz ................................................................................................... 243 Bibliographie ............................................................................................. 250 Informationsteil ......................................................................................... 264 1. Frauen im Europäischen Parlament – Deutsche Abgeordnete .......... 265 2. EU-Richtlinien zur Gleichstellung der Geschlechter, Frauenrechten und Anti-Diskriminierung ....................................... 267 3. Wichtige Informationen und Adressen zu Frauen, Gleichstellung der Geschlechter und Antidiskriminierung in Europa ...................... 271 Glossar ....................................................................................................... 288 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ........................................................ 305 Register ..................................................................................................... 306 1 Einleitung Die Gleichstellungspolitik der Europäischen Gemeinschaft wird in der deut- schen öffentlichen Diskussion wenig zur Kenntnis genommen. Der Informati- onstand über das „Gendergemeinschaftsrecht“, seine Inhalte, Durchsetzung und Wirkungsweise, aber auch über spezifische Maßnahmen der Europäischen Uni- on zum Abbau der Benachteiligung von Frauen, ist gering. So begann die Einleitung zur ersten Auflage des vorliegenden Buches 2006 und auch zum heutigen Zeitpunkt der zweiten Auflage hat sich der Befund nicht wesentlich geändert. Auch dass die Bevölkerung soziale und politische Ansprüche und Forderungen noch kaum an die europäische Ebene richtet, kann konstatiert werden. Dabei hat gerade die deutsche Gesellschaft in Hinblick auf Gleichstellung von europäischen Initiativen durchaus profitiert. Infolge verschiedener Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof mussten beispielsweise bereits in den 1980er Jahren zahlreiche diskriminierende Regelungen im Bereich der Teilzeittätigkei- ten beseitigt werden. Auch die Ausweitung des damals in Deutschland geltenden Mutterschaftsurlaubs auf den paritätischeren Elternurlaub, heute Elternzeit, ist letztlich der EU zu verdanken. Neben einer Reihe von rechtlichen Regelungen führten EU-Normen in der Gleichstellungsfrage zu dringend notwendigen Re- formen in Deutschland. Es ist erstaunlich, wie lange von der europäischen Ebe- ne moniert werden musste, dass der Ausbau öffentlicher Kinderbetreuung in Deutschland zu schleppend vorangeht, bis schließlich – viel zu spät – umgesteu- ert wurde. Gleichwohl haben sich zahlreiche Bereiche nicht zum Besseren entwi- ckelt. Das Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen, steuerliche Vergünsti- gungen des männlichen Ernährermodells, die hohe Armutsgefährdung Alleiner- ziehender, die Benachteiligung von Migrantinnen in vielen Bereichen – dies alles sind „Baustellen“, auf die immer deutlicher hingewiesen wird, und seit der Ein- führung der Gender-Mainstreaming-Strategie sind immer mehr Politikbereiche und Institutionen mit der Geschlechterfrage konfrontiert. Auch wird offensicht- lich, dass die Ausrichtung der europäischen Politik vor allem in Hinblick auf Erwerbsarbeit – der Flexicurity-Ansatz und die Lissabonstrategie – gerade zu Lasten von Frauen die Ungleichheiten verschärft hat. Neben der Diskrepanz zwischen der Bedeutung der europäischen Gleichstel- lungspolitik und der öffentlichen Wahrnehmung fällt auf, dass auch im wissen- schaftlichen Bereich die EU-Gleichstellungspolitik weitgehend unbeachtet ge- blieben ist. Im „mainstream“ der entsprechenden Disziplinen, vor allem Poli- tikwissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaft, spielen die Geschlechteras- pekte der europäischen Integration insgesamt, aber auch die Gleichstellungspoli- U. Klein, Geschlechterverhältnisse,Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union, DOI 10.1007/978-3-531-94266-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 8 Einleitung tik, eine nur marginale Rolle. In der Geschlechterforschung dagegen wächst das Interesse. Theoretische Analysen wie auch empirische Studien liegen sowohl zu Einzelaspekten als auch zu umfassenden Fragestellungen vor. Auf der Ebene der Policy-Analyse sind die Entstehungsbedingungen, die Entwicklung und Ausges- taltung der Gleichstellungspolitik interessant. Dabei geht die politikwissen- schaftliche Geschlechterforschung über wirtschaftliche und technische Fragen europäischer Integration hinaus, zeigt ideologische Aspekte auf und weist auf die Bedeutung der verschiedenen Akteurinnen und Akteure hin. Weiteres For- schungsfeld sind die Beziehungen zwischen den nationalen Ebenen und der supranationalen Ebene. In Implementationsstudien wird – meist vergleichend – untersucht, wie sich die EU-Gleichstellungspolitik auf die Institutionen der Mitgliedsstaaten auswirkt und wodurch unterschiedliche Reichweiten der Um- setzung des Gleichstellungsrechtes und der gleichstellungspolitischen Regelun- gen in den Mitgliedsstaaten bewirkt werden. Eine soziologische Perspektive auf den europäischen Integrationsprozess, die sich mit großer Verzögerung erst langsam entwickelt, muss sich dem Vergleich europäischer Gegenwartsgesellschaften bzw. den Fragen nach den Konstitutions- bedingungen einer europäischen Gesellschaft fragen. Dabei berührt eine Euro- päisierung, nämlich der Einfluss der europäischen Dimension auf gesellschaftli- che Strukturen, Regeln, Ideen und Normen den Bereich der Geschlechterver- hältnisse vielleicht sogar als deutlichstes Element sozialen Wandels. Wohlfahrts- staatliche Geschlechterarrangements der Mitgliedsstaaten, Wertevorstellungen der Bevölkerung und Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Handelns bleiben von der europäischen Ebene nicht unberührt. Gleichwohl ist zu klären, welche Zielvorstellungen, welche Vision die europäische Ebene hinsichtlich eines Ge- sellschaftsvertrages zwischen den Geschlechtern verfolgt. Hier spielt vor allem die europäische Rechtskultur – Rechtsetzung und Rechtsprechung – eine große Rolle, denn gerade im Bereich der Gleichstellung hat sie zu Veränderungen nationalstaatlicher Regelungen geführt. Neben intendierten Ansätzen entwickelt sich die europäische Gesellschaft als „Nebenfolge“, nicht direkt betrieben und ohne politische Agenda, aber infolge veränderter Lebensverhältnisse der Bevölke- rungen. Dazu gehört die Ausprägung einer europäischen Zivilgesellschaft, als deren wesentliches Element eine frauenpolitische Öffentlichkeit bzw. frauenpoli- tische Bewegungen zu betrachten sind. Das vorliegende Buch hat zweierlei Intention. Zum einen führt es in Institutio- nen, Akteurinnen und Akteure sowie Konzepte der EU-Gleichstellungspolitik, zu der das Gleichstellungsrecht zentral dazugehört, ein und stellt Errungenschaf- ten und Fortschritte, aber auch Beschränkungen und Blockaden einer auf verän- derte Geschlechterverhältnisse zielenden Politik dar. Es erläutert und diskutiert zentrale Konzepte und Begrifflichkeiten wie „Diskriminierung“ oder „Gleich- heit“ ein, erbringt eine empirische Bestandsaufnahme der Geschlechterverhält- nisse in den Mitgliedsstaaten der EU und erläutert die Faktoren, die der unter- schiedlichen Ausprägung der Gleichstellung zugrunde liegen. Einleitung 9 Zum anderen führt das Buch in politik- und rechtswissenschaftliche Grund- lagen sowie in soziologische Fragestellungen ein, die zum Thema zu beachten sind und vermittelt die Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung die- ser Disziplinen. Es gibt einen Einblick in wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen wie die um die Gender-Mainstreaming-Strategie oder auch Gleichheitskonzeptionen. Es soll schließlich zudem Hilfestellungen für Forschung und für gleichstel- lungspolitische Praxis gleichermaßen geben. Im Anhang findet sich daher eine Vielzahl von Informationen und Kontaktadressen und eine umfassende Biblio- graphie. Das zweite Kapitel gibt zunächst einen kursorischen Überblick über die Sozialpolitik in der Gemeinschaft und die verschiedenen Etappen der sozialpoli- tischen Regelungen. Dabei zeigt sich, dass die Sozialpolitik, ursprünglich reines Anhängsel wirtschaftlicher Zielsetzung, zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Ende 2000 in Nizza proklamiert, die unter anderem soziale Grundrechte und Diskriminierungsver- bote verankert, wurde in den Lissabonvertrag aufgenommen und so zum Pri- märrecht. Zu einem solchen europäischen Sozialmodell gehören die Politik- bereiche Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Gesundheitsschutz, Wohl- fahrt, Sozialer Dialog, Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung. Gleich- wohl kann besonders zurzeit nicht von einem gleichschenkligen Policy-Dreieck der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik gesprochen werden. Im dritten Kapitel sind Organe und Instrumente der europäischen Gleichstel- lungspolitik zu klären. Die für Gleichstellungspolitik relevanten Organe sind das Europäische Parlament, die Kommission, der (Minister-)Rat und der Europäi- sche Gerichtshof. Eingegangen wird hier jeweils auch auf die Gleichstellung innerhalb dieser Institutionen. Instrumente der Gleichstellungspolitik sind zu- nächst die rechtlichen Regelungen, unterschieden in primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht. Der Europäische Gerichtshof spielt in der Rechtsdurch- setzung besonders beim Gleichstellungsrecht eine außerordentlich wichtige Rolle, wie wir sehen werden. Schließlich gehören Aktionsprogramme und Kam- pagnen zu den Instrumenten. Am Beispiel „politische Partizipation“ wird einer- seits das Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente aufgezeigt und anderer- seits die entscheidende Rolle von Frauen-Netzwerken deutlich. Vier Phasen hat die Entwicklung des Gleichstellungsrechts und der Gleichstel- lungspolitik durchlaufen, die im vierten Kapitel dargestellt werden. Der Beginn liegt in der Verabschiedung des Art. 119 der Römischen Verträge 1957, der den Grundsatz der Lohngleichheit festschreibt. In den darauf folgenden Jahren, der ersten Phase, lässt sich ein politischer Wille zur Durchsetzung der Lohngleich- heit in den Mitgliedsstaaten nicht erkennen, auch waren Frauen in den entspre- chenden Gremien kaum vertreten. Die zweite, aktivere Phase der Gleichstel- lungspolitik begann etwa ab Mitte der 1970er Jahre. Entscheidende Richtlinien, richtungsweisende Urteile des Europäischen Gerichtshofes, eingesetzte Exper- ten/innengruppen und Maßnahmen wie Aktionsprogramme zur Förderung der 10 Einleitung Chancengleichheit der Frauen bewirkten einen Schub. Vorangetrieben wurden die Aktivitäten durch die Zweite Frauenbewegung. Präzisiert ist seitdem, was unter direkter und indirekter Diskriminierung, was unter gleichwertiger Arbeit und Lohngleichheit zu verstehen ist. Auch sind in dieser Phase frauenpolitische Lobbygruppen entstanden, die zunehmend Einfluss auf Ausarbeitung und Durchführung gleichstellungspolitischer Maßnahmen nahmen. Allerdings be- schränkten sich die meisten Aktivitäten auf Regelungen zum Arbeitsmarkt. In der dritten Phase ab Anfang der 1990er Jahre wird der gestiegene Einfluss frau- enpolitischer Netzwerke sichtbar. Sie forderten eine aktive Politik, die sich über den Arbeitsmarkt hinaus auf Bereiche konzentriert, aus denen sich Benachteili- gungen für Frauen ergeben. Gewalt gegen Frauen, Familienarbeit, Armut, Gesundheit, politische und wirtschaftliche Partizipation von Frauen kamen auf die Tagesordnung – wie etwa in das Dritte Aktionsprogramm zur Chancen- gleichheit von Männern und Frauen. In dieser Zeit liegt auch der Beginn der kontrovers diskutierten Strategie des Gender Mainstreaming. In der vierten und jetzigen Phase erfolgte eine Erweiterung der Gleichstellung auf Diversity. Durch die Antidiskriminierungsrichtlinien ist nun nicht mehr nur Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, sondern auch aufgrund anderer Dimensionen (Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft, Religion/Weltan- schauung) verboten. Ein Paradigmenwechsel erfolgte zudem durch die Auswei- tung des Schutzes vor Diskriminierung auf Bereiche über die Erwerbsarbeit und Sozialversicherung hinaus. Im fünften Kapitel werden Strategien, Ziele und Konzepte europäischer Gleichstellungspolitik vertieft. Dafür sollen Ansätze und Richtungen der voraus- setzungsvollen Konzepte „Diskriminierung“, „Lohngleichheit“, „Frauenpolitik“, „Gleichstellungspolitik“, „Gleichheit“, „Differenz“ aufgezeigt werden. Hier wird detailliert die Debatte über Gender Mainstreaming dargestellt. Die Gleichstel- lungspolitik geht, vorangetrieben durch die Geschlechterforschung, immer we- niger von einer homogenen Gruppe und einer Dichotomie zwischen der Gruppe „Frauen“ und der Gruppe „Männer“ aus und bezieht die Verschiedenheit inner- halb der Genusgruppen mit ein. Die EU-Antidiskriminierungspolitik weitet sich seitdem auf andere marginalisierte Gruppen aus, für die die Verabschiedung der Antidiskriminierungsrichtlinien ein entscheidender Schritt war. Gleichzeitig ist das Verhältnis zwischen Frauen- und Gleichstellungspolitik auf der einen Seite und Antidiskriminierungspolitik auf der anderen Seite zu klären. Das sechste Kapitel gibt dann einen detaillierten Überblick über soziale Un- gleichheit und Geschlechterverhältnisse im europäischen Vergleich. Hierbei muss eine Auswahl der gesellschaftlichen Bereiche getroffen werden; selbstver- ständlich kann die Darstellung nicht erschöpfend sein. Hier erhalten die Lese- rinnen und Leser einen aktuellen Einblick in die unterschiedliche Situation von Männern und Frauen in der Erwerbsarbeit und wie sich diese im Verlauf der letzten Jahrzehnte europaweit darstellt. Es zeigen sich Gemeinsamkeiten zwi- schen den Ländern, wie etwa die niedrigere Beschäftigungsquote und eine hö- here Teilzeitquote von Frauen, eine horizontale und vertikale Segmentation des Einleitung 11 Arbeitsmarktes nach Geschlecht und ein EU-weites Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen. Es zeigen sich aber auch interessante Unterschiede zwi- schen den Ländern, wie etwa in Bezug auf die Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit, wie etwa dem Ausbau öffentlicher Kinderbetreuung und als Konsequenz auch hinsichtlich der Vollzeitäquivalente berufstätiger Frauen. Dies hängt zusammen mit unterschiedlichen normativen kulturellen Leitbildern der Geschlechter und mit unterschiedlichen sozialstaatli- chen Rahmenbedingungen. Das Thema Care-Tätigkeiten und Geschlechterver- hältnisse über die enge Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinaus ist nach wie vor unterbelichtet nicht nur in der europäischen Politik. Zumindest aber konnte dazu gegenüber der ersten Auflage ein eigenes Kapitel erstellt wer- den. Zu hoffen ist, dass hier in den nächsten Jahren genügend Substanz zusam- men kommt, um es für eine mögliche dritte Auflage auf den Bereich work-life- balance zu erweitern. Geschlecht strukturiert alle gesellschaftlichen Bereiche, es strukturiert Er- werbsarbeit, Öffentlichkeit, Politik und private Lebensverhältnisse. Ein weiterer wesentlicher Bereich der Geschlechterpolitik ist Gewalt – ein Thema, das die Frauenbewegung erfolgreich auf die Agenda institutionalisierter Gleichstellungs- politik gesetzt hat. Auch hier geht es um Machtverhältnisse. So geht das Kapitel auch auf Gewalt gegen Frauen ein, auf Formen und Ausprägung, aber auch auf den Stand der wissenschaftlichen Debatte im europäischen Kontext. Zuneh- mend wird erkannt, dass hegemoniale Männlichkeit auch Gewalt gegen Männer einsetzt – auch darauf wird eingegangen. Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich untereinander in dem, wie sie Ge- schlechterverhältnisse „arrangieren“. Dazu gehören Vorstellungen darüber, wie sich Männer und wie sich Frauen zu verhalten haben, was als ungerecht emp- funden, welche Lebensweise gefördert wird. Unter anderem unterscheiden sie sich darin, wie sie Familienarbeit und Erwerbsarbeit organisieren. So wirkt die Politik in einigen Ländern darauf hin, dass beide Elternteile Zeit für ihre Kinder haben, sich etwas gleichverteilter an Erziehungs- und Hausarbeiten beteiligen, die Erwerbstätigkeit zwischen Müttern und Vätern eher angeglichen ist und in anderen Ländern darauf, dass die Hauptzuständigkeit für Familie und Haushalt bei den Müttern liegt. Wenn verschiedene Maßnahmen und Orientierungen, steuerpolitische ebenso wie familien- und sozialpolitische, zusammengefasst und verglichen werden, ergeben sich Cluster von Ländern, die in einer ähnlichen Richtung agieren. Im siebten Kapitel werden daher jene Ergebnisse der Wohl- fahrtsstaatsforschung aufgeführt, die die Geschlechterverhältnisse in ihre Analyse einbeziehen. Bei den Mitgliedsstaaten der letzten Beitrittssrunden handelt es sich im Fall der mittel- und osteuropäischen Staaten um Transformationsstaaten. Der Systemwechsel, den diese Staaten zu vollbringen hatten, brachte sozioöko- nomische, politische und soziokulturelle Umwälzungen mit sich, die in einem Unterkapitel dargestellt werden. Dabei ist für dieses Buch besonders von Inte-