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Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen PDF

19 Pages·1957·0.891 MB·German
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ISBN 978-3-662-11841-2 ISBN 978-3-662-11840-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-11840-5 Sonderabdruck aus "Archiv für Eisenbahnwesen", 67. Jahrgang, Heft 1, 1957 s. 2-17 Springer-Verlag Berlin Heide/berg GmbH Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen Von KARL ÜTTMANN 2 Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen Von Karl Ottmann I. Gründung und Grundgedanken des Archivs Das Archiv für Eisenbahnwesen datiert aus dem Jahre 1878. Dieses Jahr be zeichnete in der deutschen Wirtschaftsgesohichte einen Wendepunkt, in dem man vom Freihandel zur Schutzzollpolitik und im Zusammenhang damit zum Staats bahnsystem überging. Das letztere galt vor allem für Preußen, wo sich bis dahin Privatbahnen und Staatsbahnen die Waage gehalten hatten, während in Süddeutschland das Staatsbahnsystem bereits vorherrschend war. Im Jahre 1878 hatte Preußen 6198 km Staatsbahnen, 3525 km Privatbahnen unter Staatsbahn verwaltung und 10333 km Privatbahnen. Hier sollte ein Wandel eintreten. Um die Verstaatlichungsaktion einzuleiten und durchzuführen, wurde im Jahre 1878 Albert Maybach zum Preußischen Handelsminister ernannt und im folgenden Jahre die Zustimmung des Preußischen Landtages zur Verstaatlichung der Eisenbahnen eingeholt. Von da ab stand das ganze Reich unter dem Einfluß einer Preußischen Eisenbahnpolitik, die sich auf ein mit jedem Jahre an Bedeu tung zunehmendes Eisenbahnmonopol stützte, denn das preußische Schwergewicht mußte sich irgendwie auch auf die anderen Länderbahnen auswirken. Die Herausgabe des Archivs für Eisenbahnwesen ist auf die persönliche In itiative Maybachs zurückzuführen, der entsprechend der damaligen Zeit und seiner persönlichen Veranlagung für public relations im heute gültigen Sinn noch ziemlich wenig übrig hatte, aber auf wissenschaftliche Durchdringung des in seinen Arbeitsbereich fallenden Stoffes Wert legte. Deshalb war es auch kein Archiv, das sich auf das preußische Eisenbahnwesen beschränkt hätte, sondern es wurde entscheidender Wert darauf gelegt, über die preußischen Grenzpfähle hinaus die Eisenbahnen ganz Deutschlands, in angemessenem Umfang sogar außerdeutsche Eisenbahnverwaltungen, zu erfassen und das dort anfallende Material auszuwerten. Das erste Heft des Archivs trägt das Datum vom 1. Mai 1878. Aber die bei den ersten Jahrgänge enthielten im ganzen spärliche, gelegentliche Beiträge. Zur vollen Entfaltung kam das Archiv im Jahre 1880, als Alfred von der Leyen von dem inzwischen zum Preußischen Minister der öffentlichen Arbeiten ernannten Maybach beauftragt wurde, das Archiv in eine wissenschaftliche Zeitschrift um zugestalten. Diese erschien im Auftrag des preußischen Ministeriums der öffentlichen Ar beiten, später des Reichsverkehrsministeriums und schließlich der Hauptverwal tung der Deutschen Reichsbahn. Die Hauptverwaltung der Deutschen Reichs bahn blieb Herausgeber bis zum Jahre 1943. Während die Zeitschrift den ersten Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen 3 Weltkrieg ohne Unterbrechung überstanden hatte, machten im Kriegsjahr 1943 die Bombenangriffe auf Berlin die Verlagerung einiger Teile der Hauptverwal tung nach Räumen außerhalb Berlins notwendig, und die Zeitschrift stellte ihr Erscheinen ein. Damit verschwand ein Fachorgan, das 65 Jahre lang trotz aller politischen Wechsellagen, unter der Monarchie, in der Republik und unter der Diktatur, im Krieg und Frieden, im Aufschwung und im Elend Deutschlands durchgehalten hatte, ohne jemals den guten Ruf, den es im Inland und Ausland genoß, verloren zu haben. Neben der großzügigen Unterstützung durch Behörden und der dan kenswerten Mitarbeit inländischer und ausländischer Fachleute war dies das Ver dienst Alfred von der Leyens gewesen, der die fast unvorstellbare lange Zeit von 50 Jahren Hauptschriftleiter der Zeitschrift war. Von der Leyen war im Jahre 1844 geboren. Er hatte seine Verwaltungslaufbahn als Syndikus der Handels kammer Bremen begonnen und war von dort schon in jungen Jahren durch May bach in dessen Ministerium geholt worden. Mit 33 Jahren wurde er Vortragender Rat, und als Schriftleiter des Archivs gab er diesem von Anfang an eine persön liche Note. Es findet sich kaum ein Jahrgang, in dem von der Leyen nicht durch eigene Beiträge vertreten gewesen wäre, wenn er es auch als Hauptaufgabe eines Schrift leiters ansah, gute Beiträge zu erwerben und Anregungen für die Stoffsammlung und die Behandlung bestimmter Themen zu geben. Im Jahre 1912 schied von der Leyen, 68 Jahre alt, aus dem aktiven Dienst des Preußischen Ministeriums der öffentlichen Arbeiten aus, behielt aber seine Tätigkeit als Hauptschriftleiter des Archivs bei. Als seine Kräfte nachließen, er hielt er Unterstützung durch weitere Schriftleiter, doch hat er bis zu seinem 90. Lebensjahre den Posten des Hauptschriftleiters nicht aufgegeben. Er starb 1934. Die Schriftleitung ging in die Hand eines Kollektivs über, in dem Theodor Kittel die führende Rolle zufiel. Damit war die Fortführung der Arbeiten in der gleichen, streng sachlichen Weise, die von der Leyen dem Archiv zur Auf gabe gemacht hatte, gewährleistet. Betrachtet man die Autoren, die für das Archiv tätig waren, so stellt man überwiegend Eisenbahner fest. Darunter sind Namen, die heute noch vielen Eisen bahnern geläufig sind. Aus der weiter zurückliegenden Vergangenheit sind zu nennen: F. Ulrich, der ein klassisches Werk über die Tariflehre geschaffen hat; Gleim, der Schöpfer und Kommentator des Preußischen Kleinbahngesetzes; G. Eger, der Verkehrsrechtler. In den letzten Jahrgängen der Zeitschrift finden sich Namen von Eisenbahnern, die heute noch unter den Lebenden weilen, so daß es kaum Schwierigkeiten macht, bei der Neuherausgabe des Archivs an die alte Tradition anzuknüpfen. Von bekannten Volkswirtschaftlern, die dem Archiv Beiträge lieferten, seien erwähnt: Adolph Wagner, Gustav Cohn, Emil Sax, Hermann Sehn macher, Kurt Wiedenfeld und Friedrich v. Gottl-Ottlilienfeld. Von den Verkehrswissenschaftlern an Technischen Hochschulen, die sich um das Archiv verdient gemacht haben, mögen Launhardt, Otto Blum und Carl Pirath genannt werden. 4 Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen Ursprünglich war das Archiv im Verlag Heymann, Berlin, erschienen. Vom Jahrgang 1888 ab erschien es im Verlag von Julius Springer, Berlin, in dem es, die alte Tradition fortsetzend, auch in Zukunft wieder erscheinen wird. Es war charakteristisch für das Archiv und seine traditionsbewußte Schrift leitung, daß der Aufbau im Grundsätzlichen gleich blieb, nachdem sich etwa mit dem Jahre 1888 eine bestimmte Form herausgebildet hatte. Nur im Umfang ergaben sich Schwankungen, die in den Zeitläufen begründet waren. Der erste Jahrgang hatte nur 150 Seiten umfaßt. Der letzte Jahrgang wartrotz der Mate rialschwierigkeiten des zweiten Weltkrieges 1000 Seiten stark. Inzwischen hatte es aber auch Jahrgänge mit 1500 Seiten gegeben. Das Archiv brachte Rückblicke auf die Entwicklung des Eisenbahnwesens, Übersichten über die Eisenbahnen fremder Länder, die Auswertung von Geschäfts berichten und amtliches statistisches Material, systematische Abhandlungen über Verwaltungsprobleme, eine Sammlung wichtiger Gerichtsurteile und den wort getreuen Abdruck von Gesetzen und Verordnungen, wobei ausländische Quellen in mustergültiger deutscher Übersetzung geboten wurden. Das Archiv trug damit überwiegend dokumentarischen Charakter. Aber auch in einer solchen Sammlung objektiven Materials spiegelte sich der wechselnde Zeitgeist. Wenn man die statt liche Reihe von 66 Jahrgängen durchgeht, sind es drei verschiedene Phasen, in denen die deutsche Eisenbahngeschichte abrollte, und die auch im Archiv ihre Spuren hinterließen. Die erste Phase reicht von 1878 bis 1920. Sie wird von dem Staatsbahnge danken im Sinne von Ländereisen bahnen beherrscht. Im Jahre 1920 kommt der Reichsbahngedanke zum Siege und findet seine Krönung in einer autonomen Reichsbahn, die noch bis 1930 eine Art monopolistischer Machtstellung besaß. Von 1930 ab datiert die dritte und vorläufig letzte Phase der geschichtlichen Entwicklung, die durch den Verlust des Monopols und eine Einbuße der Macht stellung gekennzeichnet ist. Die hieraus resultierenden Gleichgewichtsstörungen machen diese Phase zu einer Zeit der Wirren. Seitdem dieser Ausdruck von russischen Historikern für eine Periode der Anarchie im 17. Jahrhundert geprägt wurde, ist er zum geflügelten Wort geworden. Wir verwenden ihn hier zur Kenn zeichnung einer Übergangszeit, in der um Klarheit gerungen wird, ohne daß sich die künftige Ordnung des Verkehrswesens schon eindeutig zeigt. II. Die Zeit der Länderbahnen Am deutlichsten würde sich vielleicht die eisenbahngeschichtliche Entwick lung in den Gesetzestexten abzeichnen, wenn das Archiv die einschlägigen Gesetze von Anfang an immer im Wortlaut und möglichst mit der Gesetzesbegründung gebracht hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. So ist das für die Wendung zum Staatsbahnsystem in Preußen bezeichnende Gesetz von 1879 und seine sehr auf schlußreiche, weitgehend von Maybach selbst formulierte Begründung nicht im Archiv zu finden. Erst einige Jahre später begann man mit dem Abdruck von Gesetzen, und zwar zunächst auch nur mit dem Abdruck von Gesetzentwürfen, während man hinsichtlich der in Kraft getretenen Gesetze auf die amtlichen Ver öffentlichungsblätterverweisen zu können glaubte. Im Jahrgang 1888 findet sich Geschichte des Archivs für Eisenba.hnwesen 5 erstmalig ein Gesetz voll abgedruckt. Es war aber das Preußische Eisenbahn gesetz von 1838, das damals sein 50jähriges Jubiläum feierte! Der Abdruck er folgte in Verbindung mit einer Abhandlung, die dem Gesetz gewidmet war, denn man sah ein, daß eine solche Abhandlung vollen Wert für den Leser nur dann hat, wenn ihm der Gesetzestext im Wortlaut vorliegt. Der Leser hat nicht immer die amtlichen Gesetzesblätter zur Hand. Dieser Gedanke wurde später bestim mend, Gesetze grundsätzlich im Wortlaut zu bringen und auch Gesetze fremder Länder in diese Sammlung einzubeziehen. Damit wurde das Archiv zu einem Kompendium, das sowohl dem Praktiker wie dem Verkehrswissenschaftler ein Material an die Hand gab, das als einmalig in seiner Art bezeichnet werden konnte. Sehr gut spiegeln sich die Strömungen der Zeit natürlich auch in der Urteils sammlung wider, die das Archiv neben der Gesetzessammlung brachte. Doch würde ein näheres Eingehen auf diese Spruchpraxis uns zu tief in den Irrgarten des juristischen Fachgebietes führen, mit ihrem Wechsel der Anschauungen und den Eigenheiten der Rechtssprache. Richten wir daher die Aufmerksamkeit auf die "Abhandlungen", in denen bestimmte Themen systematisch erörtert wurden. Diese Abhandlungen waren nicht für den Fachjuristen, aber auch nicht für den Eisenbahningenieur im engeren Sinn, sondern für den Verwaltungsbeamten und Verkehrswissenschaftler bestimmt. Sie hatten durchweg ein beachtliches Niveau. Deshalb glaubte die Schriftleitung sich einmal besonders entschuldigen zu müssen, als sie das Feuil letonistische streifend, einen Artikel "Die Eisenbahnen in der deutschen Dich tung" brachte. Wissenschaftlichen Streitgesprächen wich das Archiv nicht aus. Man brachte also, wo es zweckmäßig erschien, Meinung und Gegenmeinung, hielt jedoch dar auf, daß die Ausführungen streng sachlich blieben. Da die grundsätzliche Entscheidung für das Staatsbahnsystem bei der Grün dung des Archivs gefallen war, also eine vollendete Tatsache darstellte, erübrigten sich Diskussionen, ob das Privatbahn- oder Staatsbahnsystem den Vorzug ver diene. Die Vorteile und Nachteile des Systems wurden nur noch in Abhandlungen gewürdigt, die den typischen Privatbahnländern der damaligen Zeit, insbesondere England und den Vereinigten Staaten von Amerika gewidmet waren und die man trotz oder gerade wegen der Verschiedenheit der Verhältnisse mit Aufmerksam keit verfolgte. Von der Leyen schrieb: "Bei der zunehmenden Entwicklung der englischen und vornehmlich auch der amerikanischen Eisenbahnen ist eine genaue Kenntnis dieser mÜ: den kontinentalen im direkten Gegensatz stehenden Verhältnisse von besonderer Bedeutung, wenn vielleicht auch nur von sozusagen negativer Wich tigkeit." Während aus der Feder von der Leyens, der die nordamerikanischen Ver hältnisse an der Quelle studiert hatte, Berichterstattungen über die dortigen Eisenbahnen im Archiv erschienen, widmete sich Gustav Cohn dem Thema England. Die Älteren der heutigen Generation werden sich, soweit sie in Göt tingen studiert haben, noch an Gustav Cohn erinnern. Er gehörte zur Schule der Kathedersozialisten und war ein entschiedener Vertreter des Staatsbahn gedankens. Für ihn waren die englischen Bahnen also auch nur von "negativer Wichtigkeit". In diesem Sinne ist daher eine umfangreiche Abhandlung gehalten, die wir im Jahrgang 1883 finden mit Ergänzungen in späteren Jahrgängen. Cohn 6 Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen beginnt mit einer meisterhaft geschriebenen Erörterung der Grundsätze, die für die Verwaltung staatlicher Verkehrsanstalten überhaupt zu gelten haben. Dann folgt die besondere Behandlung der Eisenbahnfrage mit der Schlußfolgerung, daß auch in England nur eine Verstaatlichung der Eisenbahnen jene zahlreichen Nachteile zu überwinden in der Lage sein würde, die sich in England feststellen ließen. Einen breiten Raum nimmt dabei die Behandlung der Eisenbahntarife ein. Gerade hier glaubte Gustav Cohn daß nur eine Staatsbahn dem Grundsatz der Gemeinwirtschaftlichkeit Rechnung zu tragen imstande sei, da nur eine Staats bahn an Stelle der höchstmöglichen Gewinnerzielung das Prinzip der bestmög lichen Verkehrsbedienung durchsetzen könne; und daß nur bei einer Staatsbahn versteckte Transportvergünstigungen wirksam unterbunden werden können. Ähn lich, wie es in der obenerwähnten Begründung zu dem Preußischen Verstaat lichungsgesetz von 1879 formuliert war, erschien ihm die Gewährung versteckter Transportvergünstigungen als der verderblichste Mißbrauch der den Eisenbahn unternehmungen erteilten Konzession. "Die geheimen Refaktien machen die staat liche Kontrolle der Tarifstellung unmöglich. Die Konkurrenz sowohl der Eisenbahnen untereinander wie der Produzenten, die sich der Eisenbahn bedienen, wird unehrlich und unwürdig. Die Korruption wird in die Kreise des Eisenbahnpersonals getragen und führt dahin, die Verwaltung der Eisenbahnen in immer höherem Maße den Sonderinteressen einzelner mächtiger Koterien unterzuordnen." Es gibt zu denken, daß Gustav Cohn in Übereinstimmung mit der damals herrschenden Meinung an der Möglichkeit, eine beschränkte Zahl von privaten Eisenbahngesellschaften tarifarisch wirksam unter Kontrolle zu bringen, zweifelte; während man heute bisweilen noch glaubt, bei den viel zahlreicheren und wegen ihres kleineren Verwaltungsapparates mit einer weniger entwickelten Rechnungs legung arbeitenden Kraftfahrunternehmungen eine wirksame Tarifkontrolle durch setzen zu können. Für Gustav Cohn bestand andererseits kein Zweifel daß Staatsbahnen keine Wohltätigkeitsanstalten sein sollten sondern daß "im Interesse der Gerechtigkeit und gerade vom Standpunkt der Gemeinwirtschaft der Grundsatz von Leistung und Gegenleistung bei der Festsetzung der Tarife auch unter staatlicher Verwaltung auf rechtzuerhalten ist". Auch eine Staatseisenbahn muß für ihre Leistungen also stets einen angemessenen Gegenwert erhalten, oder anders ausgedrückt: Die Selbst kosten des Bahnunternehmens müssen insgesamt gesehen gedeckt werden. "Denn", so argumentiert Cohn, "es ist gegenüber der steuerzahlenden, aber nicht die Eisen bahn gleichmäßig benutzenden Gesamtheit eine Pflicht der Gerechtigkeit, daß der Staat sich die Selbstkosten in den Tarifen ersetzen läßt. Es ist deshalb nicht zu billigen, wenn unter dem Schlagwort der Gemeinwirtschaftlichkeit eine weitergehende (d. h. zum Defizit führende) Ermäßigung der Tarife verlangt wird. In solchen Fällen sind es häufig nicht die allgemeinen Interessen, die diese Forderung stellen, sondern die Interessen einzelner einflußreicher Kreise." Cohn legt ausführlich dar, daß sich die niedrige Tarifierung der entfernten und geringwertigen Güter gegenüber den nahen und hochwertigen historisch und wirtschaftlich rechtfertigen läßt, wenn er auch in keinem Fall für eine Tarifierung unter den speziellen Selbstkosten eintritt. Nur ist er der Auffassung, daß die nahen und wertvollen Transporte einen größeren Aufschlag über den Selbst kosten vertragen, also einen größeren Anteil an den Gemeinkosten übernehmen Geschichte des Archivs für Eisenbahnwesen 7 oder größere Überschüsse abwerfen können. Lange Zeit war dies die schwierigste Frage des ganzen Tarifwesens, von deren Entscheidung die Rechtfertigung der Wertklassifikation sowie der Differenzialtarife abhing. Cohn argumentierte, daß die verschiedene Belastung der Reisenden und Verfrachter nach der Zahlungs fahigkeit eine an sich gerechtfertigte Besteuerung darstellt, und daß nichts dagegen einzuwenden ist, sofern diese Besteuerung durchführbar erscheint und keine unerwünschten Rückwirkungen auf die Gesamtverkehrsgestaltung zeitigt. Für die Tarifgleichheit im Raum, die heute vielfach als wichtigstes Merkmal der Gemeinwirtschaftlichkeit angesehen wird, trat Gustav Cohn jedoch nicht ein. Er ist also nicht der Ansicht, daß schwache Verkehrsstrecken unbe dingt die gleichen Einheitssätze haben müßten, wie stark belegteStrecken,genau so wie Cohn Mengenrabatte oder die Gewährung tarifarischer Vorteile bei Aus nutzung der Ladefahigkeit von Güterwagen für zulässig hielt, weil sie ihm eigen wirtschaftlich gerechtfertigt und volkswirtschaftlich tragbar erschienen. Man sieht, daß diese Ausführungen aus dem Jahre 1883 heute noch aktuell sind, wenn man sie auch nach dem Verlust der Monopolstellung der Bahn zeit gemäß umdenken muß. Im Jahrgang 1884 des Archivs nahm Franz Ulrich in einem Aufsatz "Ge meinwirtschaftliche Tarifgestaltung" zu den Ausführungen Cohns Stellung. Auch dieser Aufsatz verdient heute noch Beachtung. Er enthält das Credo der damaligen amtlichen Tarifpolitik, die, von Maybach selbst inauguriert, mehreren Gene rationen von Eisenbahnern Richtschnur war. Das Fundament dieses Credos war allerdings, wie immer wieder betont werden muß, das damals außer Zweifel stehende Beförderungsmonopol der Bahn. Im Gegensatz zu Gustav Cohn wird von Ulrich, der Tarifreferent im Preußi schen Ministerium der Öffentlichen Arbeiten war, ehe er Eisenbahndirektions präsident wurde, und dessen Ansichten sich sonst durchaus mit denen des Theo retikers Cohn deckten, die Tarifgleichheit im Raum verteidigt. Doch bleibt fest zustellen, daß der Praktiker hier in erster Linie in den gleichen Einheitssätzen eine Erleichterung der Geschäftsführung der Eisenbahnen sah, sie also kaum anders als die von Cohn gebilligten Mengenrabatte usw. eigenwirtschaftlich, nicht gemeinwirtschaftlich begründete. Er wandte sogar besondere Sorgfalt auf den Nachweis, daß sich aus der Tarifgleichheit im Raum keine volkswirtschaft lichen Nachteile zu ergeben brauchen. So heißt es bei Ulrich: "Ein Schaden für die Volkswirtschaft wird bei Einführung gleicher Einheitssätze im allgemeinen sicher nicht erwachsen. Die Erleichterungen für die Eisenbahn aber sind erheblich. Aus der Praxis heraus, fährt Ulrich an anderer Stelle fort, kann ich feststellen, daß, während früher die Tätigkeit der Verkehrsdezernenten auch bei den Preußischen Staatsbahnen vorwiegend durch Konkurrenzierung und lnstradierung in Anspruch genommen wurde, heute eine Erleichterung nicht nur der Verkehrsdezernenten eingetreten ist". Ohne Zweifel sah Ulrich die ungeheuren betrieblichen Vorteile, die entstehen, sobald bei der Festlegung des Leitungsweges nicht auf Konkurrenzgesichtspunkte und tarifarische Überlegungen Rücksicht genommen zu werden braucht, sondern einzig und allein betriebliche Überlegungen über zweckmäßige Zugbildung und vorteilhafte Streckenauslastung Platz greifen können. Wenn man aus betriebswirtschaftliehen Gründen den Verfrachtern das Recht nehmen will, den Leitungsweg zu bestimmen, ist die Herstellung der Tarif- 8 Geschichte des .Archivs für Eisenbahnwesen gleichheit im Raum eine Vorbedingung. Bei der Vielzahl der Eisenbahnverwal tungen im damaligen Deutschland blieb die Tarifgleichheit im Raum allerdings eine nicht über die Grenzen der einzelnen Verwaltungen hinausreichende Maß nahme. Selbstverständlich vertrat auch Ulrich den Grundsatz, daß die tarifarischen Einnahmen insgesamt ausreichen müssen, um die Kosten des Eisenbahnbetriebs zu decken. Eine defizitäre Tarüpolitik ist in Preußen niemals als gemeinwirtschaft lieh, sondern als volkswirtschaftliche Gefahr angesehen worden. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch alle Jahrgänge des Archivs. Gustav Cohn und Franz Ulrich haben in den späteren Jahrgängen konsequent ihre Grundsätze weiter vertreten und sind sich nur über die Tarügleichheit im Raum nie einig geworden, weil Cohn sie volkswirtschaftlich für suspekt, Ulrich sie aber volks wirtschaftlich für tragbar und eigenwirtschaftlich für notwendig hielt. Die Argu mentation, daß sie volkswirtschaftlich nützlich, ja geradezu unentbehrlich sei, kam erst nach der Jahrhundertwende auf. Wie die genannten Abhandlungen auf dem Tarifgebiet den Zeitgeist wider spiegeln, so verhielt es sich auch auf zahlreichen anderen Gebieten. Aber es ist wie bei der Spiegelung auf einer W asserfläche, in die ein Stein geworfen ist. Wir erkennen die Probleme alle wieder. Es sind dieselben Fragen, vor denen wir heute stehen, nur ist manches in der Spiegelung verzerrt. Die Verhältnisse haben sich gewandelt, und viele Dinge sind in Bewegung gekommen, die man früher als feststehend ansehen durfte. Etwas anders als früher sehen wir heute auch das Problem des Nachwuchses und der Ausbildung der höheren Beamten. Mit dem Staatsbahnsystem war der Assessorismus hochgekommen. Viele verdiente Eisen bahner aus der Privatbahnzeit wurden bei der Verstaatlichung abgefunden, weil sie nicht zwei juristische Staatsexamina abgelegt hatten. Die Staatsbahnverwal tung sah in dem Verwaltungsjuristen den zentralen Typus des "höheren Beamten". Dabei hatten Bayern, Baden und Hessen eine gleichmäßige Ausbildung für den Gerichts- wie für den Verwaltungsdienst. In Preußen war die Ausbildung für Gerichtsassessoren und Regierungsassessoren getrennt, doch bevorzugte die Staatsbahn die Annahme von Gerichtsassessoren, also die volljuristische Aus bildung. Man hat schon bei den Verstaatlichungen das Bedenken geltend gemacht, daß die Juristentechnik des Auslegensund Aufschiebens eine Gefahr für ein Unter nehmen bedeuten kann, in dem es auf schnelle und praktische Entscheidungen ankommt. Es wäre verwunderlich gewesen, wenn Männer wie Maybach und von der Leyen solche Stimmen überhört und sich mit dem Problem nicht auseinander gesetzt hätten. Beide glaubten, durch eine entsprechende Auswahl geeigneter Kräfte und ihre Fortbildung bei der Eisenbahn (das Wort Umschulung gab es damals noch nicht) die Schwierigkeiten überwinden zu können. Im Jahrgang 1882 erschien von Maybach und von der Leyen inspiriert eine Abhandlung: "Die Vor lesungen über Eisenbahnwesen aufpreußischen Universitäten". Das Thema wurde später noch einmal aufgegriffen. Im Jahrgang 1894 finden wir eine Abhandlung "Vorbildung der höheren Eisenbahnbeamten" und im Jahrgang 1900 einen Auf satz über "Staatswissenschaftliche Vorbildung zum höheren Verwaltungsdienst in Preußen".

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