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Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300–2000 PDF

604 Pages·2009·2.122 MB·German
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Klaus von Beyme Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300–2000 Klaus von Beyme Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300 – 2000 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn e der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16806-7 Inhaltsverzeichnis Einleitung: Geschichte der politischen Theorien in Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern 9 a. Politische Theorie-Geschichte als „Gedächtniskunst“ 10 b. „Was ist des Deutschen Vaterland“? Das „Reich“, Germanien und Deutschland 12 c. „Die verspätete Nation“ in der Theoriebildung 16 Teil I: Politisches Denken im Mittelalter 19 1. Politische Theorie im Spätmittelalter 19 a. Kirche und Staat in der politischen Theorie des Mittelalters und die Theoriehilfe aus dem Ausland: Alexander von Roes, Dante, Marsilius von Padua, Ockham, Lupold von Bebenburg 23 b. Nikolaus Cusanus und der Konziliarismus 32 Teil II: Reformation und Aufklärung 45 2. Das Zeitalter der Reformation 45 a. Martin Luther 50 b. Erasmus von Rotterdam, Ulrich von Hutten, Thomas Murner 63 c. Thomas Müntzer 70 d. Philipp Melanchthon und das Luthertum 76 3. Föderative Staatskonzeption und Widerstandsrecht im Geist des Calvinismus: Johannes Althusius 81 4. Souveränitätstheorien und Staatsräsonlehren im Zeitalter der Glaubenskriege und der Krise der Reichsverfassung 90 a. Staatsräson, Souveränität, „gute Policey“ und Widerstandsrecht 92 b. Der Kampf um die Reichsverfassung: Reinkingk, Bogislaw von Chemnitz, Limnaeus, Seckendorff 99 c. Hermann Conring 105 d. Samuel Pufendorf 110 5. Politische Theorie und Kameralistik im Zeitalter der Aufklärung 128 a. Gottfried Wilhelm Leibniz 133 b. Christian Thomasius 142 c. Christian Wolff 151 6. Spätaufklärung und Mediokrisierung der Theorie am Ende des Deutschen Reiches im 18. Jahrhundert 155 a. Johann Jakob Moser 157 b. Justus Möser 161 6 Inhaltsverzeichnis c. Die Göttinger Schule: Johann Stephan Pütter, Gottfried Achenwall 168 d. Die kameralistischen Wohlfahrtslehren der Wiener Schule: Johann Heinrich von Justi und Joseph von Sonnenfels 171 Teil III: Die Ära der Revolutionen 175 7. Politische Theorien zur Zeit der französischen Revolution 175 a. Liberalismus und Radikalismus in Deutschland 175 b. Die deutschen Jakobiner 180 8. Der deutsche Idealismus 183 a. Immanuel Kant 184 b. Wilhelm von Humboldt 197 c. Johann Gottlieb Fichte 201 d. Georg Wilhelm Friedrich Hegel 214 9. Der Status-quo-ante-Konservatismus 243 a. August Wilhelm Rehberg und Ernst Brandes 244 b. Carl Ludwig von Haller 248 10. Der nationalistische Reformkonservatismus 252 a. Deutscher Nationalismus gegen napoleonische Fremdherrschaft 252 b. Ernst Moritz Arndt 256 11. Der romantische Konservatismus 259 a. Novalis 261 b. Adam Heinrich Müller 262 c. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling 267 d. Joseph (von) Görres 273 e. Franz von Baader 275 12. Die Apologie des Status quo der konstitutionellen Monarchie: Lorenz von Stein 280 13. Konservative Auftragspublizistik: Gentz, Friedrich Schlegel, Jarcke, Frantz 287 14. Die Junghegelianer: Rechtshegelianismus = liberal, Linkshegelianismus = radikal? Feuerbach, Strauss, Bauer, Ruge, Oppenheim, Rosenkranz, Michelet 292 15. Der Anarchismus in Deutschland: Max Stirner 301 16. Der konstitutionelle Liberalismus: Rotteck, Welcker, Dahlmann, Zachariae, die Sozialliberalen, Mohl 308 a. Karl von Rotteck und der Liberalismus im Vormärz 309 b. Friedrich Christoph Dahlmann 315 c. Robert von Mohl 318 17. Der Frühsozialismus 328 a. Wilhelm Weitling 329 b. Moses Heß 333 18. Karl Marx und Friedrich Engels 337 19. Apologie des monarchischen Prinzips: Friedrich Julius Stahl 367 Inhaltsverzeichnis 7 20. Radikaler Konservatismus wider das Geläufige 374 a. Arthur Schopenhauer 374 b. Friedrich Nietzsche 378 Teil IV: Das Zeitalter der Weltkriege 393 21. Liberalismus und Nationalismus: Naumann, Max Weber 393 a. Friedrich Naumann 393 b. Max Weber 398 22. Sozialdemokratismus 415 a. Ferdinand Lassalle 415 b. Karl Kautsky und Eduard Bernstein 423 23. Marxismus 436 a. Rosa Luxemburg 436 b. Georg Lukács 445 24. Die konservative Revolution: Moeller van den Bruck, Spengler, Jung, Jünger, Freyer, Niekisch, Tatkreis 454 25. Carl Schmitt 467 26. Adolf Hitler und der Nationalsozialismus 474 27. Der Existentialismus 480 a. Martin Heidegger 480 b. Karl Jaspers 486 28. Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule 496 29. Jürgen Habermas 511 30. Autopoietische Systemtheorie: Niklas Luhmann 526 Konklusionen: Sozialgeschichte der politischen Theorien in Deutschland 543 a. Sozialstruktur und politisches Engagement der Theoretiker der Politik 544 b. Rezeptionswellen und Einflussströme des politischen Denkens in Europa. 553 c. Politische Theorien in Deutschland im internationalen Vergleich: Normalentwicklung und „Sonderweg“ der Theorieentwicklung 574 d. Historische Belastungen der deutschen Politikwissenschaft nach 1945 582 Danksagung 598 Index 599 Einleitung: Geschichte der politischen Theorien in Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern Einleitung Literatur W. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. Stuttgart, Hiersemann, 1938, Nachdruck 1952. K. von Beyme: Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789-1945. Wiesbaden, West- deutscher Verlag, 2002: 13- 55. W. Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München, Beck, 2001. W. Bleek/H. J. Lietzmann (Hrsg.): Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton. München, Beck, 2005. E. von Borries: Wimpheling und Murner im Kampf um die ältere Geschichte des Elsasses. Ein Beitrag zur Charakteristik des deutschen Frühhumanismus. Heidelberg, Winter, 1926. K. Flasch: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. Frank- furt, Klostermann, 2008. J. Fried: Otto der Große, sein Reich und Europa. Vergangenheitsbilder eines Jahrtausends. In: Ders.: Zu Gast im Mittelalter. München, Beck, 2007: 81-124. P. Joachimsen: Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Natio- nalbewusstseins. Berlin, Teubner, 1916. I. Kant: Werke. (Hrsg. W. Weischedel) Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, Bd. VI. G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.): Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Heidelberg, C. F. Müller, 1983, 2.Aufl. E. Kretschmer: Geniale Menschen. Berlin, Julius Springer, 1931, 2. Aufl. K. Leider: Deutsche Mystiker. Lübeck, Lübecker Akademie, 2000. M. Llanque: Politische Ideengeschichte – Ein Gewebe politischer Diskurse. München, Olden- bourg, 2008. W. M. McGovern: From Luther to Hitler. The History of Fascist-Nazi Political Philosophy. (1941). London, George G. Harrap, 1946. R. von Mohl: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. Erlangen, Enke, 1855, Nach- druck: Graz akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1960, Bd. 1. H. Münkler u.a.: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Berlin, Akademie Verlag, 1998. H. Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin. Rowohlt, 2009. P. Nitschke: Einführung in die politische Theorie der Prämoderne 1500-1800. Darmstadt, Wissen- schaftliche Buchgesellschaft, 2000. H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 2 Das Mittelalter. Stuttgart, Metzler, 2004. Bd. 3: Die Neuzeit, 2 Bde. 2006, 2008. F. R. Pfetsch: Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas. München, Fink, 2003. L. von Ranke: Weltgeschichte. Auswahlband. Berlin, Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1938. A. Reibmayr: Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies. Bd. II. Zusätze, historische, genealogische und statistische Belege. München, J. F. Lehmanns Verlag, 1908. 10 Einleitung H. Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz. München, Siedler, 2008. A. Schopenhauer: Anhang Kritik der Kantischen Philosophie zu: Die Welt als Wille und Vorstel- lung. Sämtliche Werke, Bd. 1. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968: 561-715 J. von Sonnenfels: Politische Abhandlungen. Wien, 1777. Nachdruck: Aalen, Scientia, 1964. F. Stadler (Hrsg.): Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne. Wien, Springer, 1997. M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. München, Beck, 1988,,1992, 1999, 3 Bde. H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. 1700-1815. München, Beck, 1987. E. Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Tübingen, Mohr, 1951, 3. Aufl. a. Politische Theorie-Geschichte als „Gedächtniskunst“ In den wichtigsten Ländern Europas gibt es – zum Teil mehrbändige – Geschichten des politischen Denkens (Auflistung in: v. Beyme 2002: 21-24). In Deutschland liegen allen- falls Monographien zu einzelnen Epochen vor. Altkanzler Helmut Schmidt (2008: 77) behauptete sogar pauschal: „Das Staatsdenken, auch das ökonomische Denken hat in Deutschland nie sehr viel gegolten“. Er vermisste herausragende Gestalten wie Locke oder Rousseau und übersah, dass es durchaus Denker gab, welche die Erziehung zu bewussten Staatsbürgern auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Es gibt für Deutschland wichtige Werke über die Geschichte des Staatsrechts (Stolleis 1988ff, 3 Bde.) und über die großen Rechtsdenker (Wolf 1963). Sie sind für eine politische Theoriegeschichte bahnbrechend, können diese aber nicht völlig ersetzen, weil andere Akzente bei den Autoren und Werken gesetzt werden müssen. Daher wagt der Autor den vermessenen Versuch, eine Geschichte der politischen Theorien in Deutschland vorzulegen, die vom Spätmittelalter bis ans Ende des 20. Jahrhundert – von Cusanus zu Luhmann – reicht. In den allgemeinen Werken zur „Ideengeschichte“ im Ausland kommen deutsche Publizisten mit Ausnahme der Idealisten von Kant bis Hegel und Marx oder Nietzsche meist nur beiläufig vor. Eine rühmliche Ausnahme in Deutschland ist das Werk von Henning Ottmann (2004, 2006, 2008), das deutsche Denker auch zweiten Ranges stärker berücksichtigt. In den Überblickssammelbänden werden neben den großen internatio- nal beachteten Denkern meist nur einzelne deutsche Theoretiker, die international we- niger bekannt sind, in die Ahnenreihen von „Platon bis Habermas“ aufgenommen wie Dahlmann (Bleek/Lietzmann 2005), Müntzer und Friedrich der Große (Nitschke 2000) oder Michels (Pfetsch 2003), denen vermutlich der Umstand zur Beachtung verhalf, dass die Autoren über sie einmal monographisch gearbeitet hatten. Für eine Sozialge- schichte der politischen Theorien aber sind die Denker der zweiten Reihe oft typischer für ihr Zeitalter als die Großen. Ein gewisser Vollständigkeitsdrang ist daher nicht notwendiger Weise bloßer Selbstzweck. In doppelter Hinsicht ist jedes dicke Buch ein Wagnis. Einmal in dem Sinne, wie Erasmus (1948: 221; Kap. 2 b) im „Lob der Torheit“ den Unsinn geißelt, sich mit Bü- chern Unsterblichkeit sichern zu wollen. Der „trügerische Lohn der Anerkennung“ schien Erasmus teuer erkauft mit „Zerrüttung der Gesundheit, äußerer Verkümme- rung, Triefäugigkeit oder gar Blindheit, Armut, Neid, Verzicht auf Vergnügen, vorzei- Einleitung 11 tiges Altern, früher Tod und was dergleichen ’Köstlichkeiten’ sind.“ Dieser Autor fühlt sich von all diesen Publikationsfolgen kaum betroffen. Der vielfach kränkelnde Eras- mus hat nicht einkalkuliert, dass Bücher schreiben in Verbindung mit der Lehre einfach Spaß machen kann. Gleichwohl ist die Anerkennung bei der Behandlung von sieben Jahrhunderten dieses Überblicks, in dem jede Epoche von Spezialisten argusäugig be- wacht wird, keineswegs sicher. Vorliegendes Wagnis könnte darüber hinaus zu dem gerechnet werden, was Kant (1964: 489) mit spöttischem Lob unter „Gedächtniskunst“ abhandelte: „Von den Wundermännern des Gedächtnisses…den Polyhistoren, die eine Ladung Bücher für hundert Kamele als Materialien in ihrem Kopf herumtragen, muss man nicht verächtlich sprechen“. Zu ergänzen wäre, dass Kants Bewunderung sich in Grenzen hielt, solange die „Urteilskraft“ „diese Ladung“ nicht verarbeitet hat. Ganz ohne Urteilskraft lassen sich jedoch bei den Polyhistoren die Materialien für hundert Kamele nicht bearbeiten. Es werden Urteile bei der Auswahl gefällt, und es werden Urteile bei der Einordnung und der Bewertung der Bedeutung von Denkern unerläss- lich. Für die staatsrechtlichen Theoriehistoriker ist es vielleicht verwunderlich, dass viele systemversessene – und damit meist langweilige – Kompendienschreiber der frühen Neuzeit so kurz auftauchen, und Publizisten, die eher feuilletonistische Wissen- schaft in politischer Absicht vorgelegt haben – von den Junghegelianern bis zur kon- servativen Revolution – ausführlicher bedacht werden. Das ist in einer Sozialgeschichte politischer Theorien vertretbar, in der auch Einordnungen der Rolle von Theoretikern in die politischen und sogar in die parteipolitischen Kämpfe vorgenommen werden (vgl. Konklusionen). Die „Urteilskraft“ stößt in der Theoriegeschichte auf vielfältige Hindernisse, wie Schopenhauer (1968: 561) bereits bedauerte. Urteilskraft erschöpft sich vielfach in har- ter Kritik. Aber: „Es ist viel leichter, in dem Werke eines großen Geistes die Fehler und Irrtümer nachzuweisen als von dem Werte desselben eine deutliche und vollständige Entwickelung zu geben. Denn die Fehler sind ein Einzelnes und Endliches, das sich daher vollkommen überblicken lässt. Hingegen ist eben das der Stempel, welchen der Genius seinen Werken aufdrückt, dass diese ihre Trefflichkeit unergründlich und uner- schöpflich ist; daher sie auch die nicht alternden Lehrmeister vieler Jahrhunderte nach- einander werden.“ Eine Form der viel bemühten Urteilskraft in der Geschichte der politischen Theo- rien ist die Suche nach Vorläufern. Die „Vorläuferitis“ grassierte gerade bei deutschen Theoretikern außerordentlich, weil sie durch das Fehlen großer Systeme der politischen Theorie und durch widrige Umstände in der politischen Entwicklung im zerfallenden „Römischen Reich deutscher Nation“ nicht immer schulbildungstauglich waren, oder wenigstens nachweisbaren Einfluss bei späteren Denkern hinterlassen haben. Marsilius von Padua wurde gleichsam wie ein Positivist des säkularisierten Staates der Neuzeit behandelt, wogegen sich berechtigter Widerspruch erhob (Ottmann 2004: 269). Die Größe eines Cusanus bedarf wohl nicht des Versuchs, ihn zugleich als großen Mystiker und innovativen Renaissance-Philosophen darzustellen (Leider, 2000: 31; vgl. Kap. 1). 12 Einleitung b. „Was ist des Deutschen Vaterland“? Das „Reich“, Germanien und Deutschland „Was ist des Deutschen Vaterland“ sang fragend Ernst Moritz Arndt (vgl. Kap.10 b) im Zeitalter des Nationalismus. Seine Antwort: „Soweit die deutsche Zunge klingt“. Der deutschen Sprache fehlte aber die disziplinierende Wirkung, welche die französische Akademie für die französische Schriftsprache entfaltet. „Die deutsche Zunge“ klang daher in vielen Regionen höchst verschieden. Plattdeutsch und bayrisch Sprechende wurden erst mühsam durch die Wiener Hofkanzlei und schließlich durch die säch- sische Hofkanzleisprache im Gefolge der Reformation dem wechselseitigen Verständ- nis näher gebracht. Problem war auch, dass das „Reich“ – erst spät im 15. Jahrhundert fügte es den Zusatz „deutscher Nation“ hinzu (beschränkt auf die deutschen Gebiete ohne Italien und Burgund) – größer war als das deutsche Sprachgebiet. Es legitimierte sich nicht ethnisch, sondern durch die Fiktion der Kontinuität der vier biblischen Reiche. Es gab in der frühen Neuzeit keine politische Theorie in Deutschland, die Iden- titätsfragen klären konnte. Die deutsche Historiographie war besonders ideologisiert durch die Konflikte: (cid:2) zwischen den Konfessionen einerseits und später durch den Gegensatz von „Groß- deutschen und Kleindeutschen“, Austrophilen und Preußen-Verehrern anderer- seits. Um 1600 haben vor allem die Protestanten die Neigung entwickelt, die kon- fessionelle Frage ins Nationale zu wenden. (cid:2) Als der Nationalismus die Wissenschaft zu vergiften begann, kam es nach der Auf- findung der Germania von Tacitus in den 1450er Jahren zu ahistorischen Gleichset- zungen zwischen Germanien und Deutschland. In der römischen Terminologie hieß „Germania“ das Gebiet rechts des Rheins, aber diesem Verwaltungsterminus ent- sprach keine ethnische Einheit. Der Germanenbegriff wurde als Erfindung des deut- schen Humanismus angesehen, der bis 1945 unselige Folgen zeitigen sollte. Deutsch- land war aufgrund seiner Heterogenität besonders auf einigende Mythen angewie- sen (Münkler 2009). Was war das Verbindende in diesem Konglomerat germanischer Stämme, die sich be- kriegten? Die Vorherrschaft der Sachsen in der Frühphase des Reiches hat zweifellos verhindern helfen, dass eine logischere Aufteilung denkbar wurde: etwa die Vereinigung der Niederdeutschen in einem Staatsgebilde, das von Brügge bis Königsberg – im Aus- maß der Hanse – hätte reichen können, und die Sammlung der Mittel- und Oberdeut- schen in einem zweiten oder in mehreren Staatsgebilden. Ein wichtiges Bindeglied war der Reichsgedanke. Die Kaiserkrone konnte nur eine römische, keine fränkische oder gar deutsche sein. Karl der Große stand in dieser Hinsicht am Ende einer langen Entwick- lung. Von Arminius an haben alle Germanen, die mit den Römern kämpften, nicht die Absicht gehabt, das Römische Reich zu zerstören. Wie ein französischer Autor einmal witzelte: „Das Römische Reich war nicht ein Feind sondern eine Laufbahn“ (zit. Joachim- sen 1916: 11). Drei Faktoren sind für die erstaunliche Vereinigung germanischer Stämme zu ei- nem akzeptierten Konstrukt, das „Deutschland“ genannt werden konnte, zur Erklä- rung herangezogen worden:

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