GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE CHRISTOPH HELFERICH GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken Dritte Auflage mit 192 Abbildungen mit einem Beitrag von Peter Christian Lang VERLAG J. B. METZLER STUTTGART · WEIMAR Umschlagabbildung siehe Bildlegende auf S. 5 Die Deutsche Bilbliothek -CIP-Einheitsaufnahme Geschichte der Philosophie: von den Anfängen bis zur Gegenwart und östliches Denken /Christoph Helferich. Mit einem Beitr. von Peter Christian Lang. 3. Aufl. - Stuttgart; Weimar: Metzler, 2001 1. Aufl. u. d. T.: Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie ISBN 978-3-476-01522-8 NE: Helferich, Christoph; Lang, Peter Christian ISBN 978-3-476-01522-8 ISBN 978-3-476-03175-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03175-4 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfllmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2001 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2001 www.metzlerverlag.de [email protected] V INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Die Philosophen der neuen, der bürgerlichen Zeit Neuzeit-washeißtdas? ............... 158 Die großen Systeme der konstruierenden Die Philosophie der Antike Vernunft und ihre Kritiker Pascal undVico .. 160 Die Anfänge der griechischen Philosophie . . 1 Der englische Empirismus-Philosophie Der Mensch als neues Problem: der Erfahrung und des »gesunden«, Sokrates und die Sophisten . . . . . . . . . . . . . 13 d. h. bürgerlichen Menschenverstandes ... 187 Die Ausprägung der klassischen Die Aufklärung-eine gesamteuropäische griechischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 24 Bewegung .......................... 203 Die philosophischen Schulen im Zeitalter Die Abenteuer der Vernunft des Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 im deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . 245 Der Neuplatonismus, die Philosophie der heidnischen Spätantike . . . . . . . . . . . . . 63 Das neuzeitliche Jahrhundert: Philosophie Die Philosophie in der Maschinenwelt des christlichen Mittelalters Fortschritt-Stichwort zur Zeit 293 Philosophie und Theologie Der »alte Positivismus« in Frankreich, in der Spätantike. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 England und Deutschland .............. 295 Die Spannung zwischen Glaube Die kritisch träumende Vernuft und Vernunft in der Scholastik . . . . . . . . . . . 85 der (utopischen)(Früh-)Sozialisten ....... 303 Vormärz-Es gärt in Deutschland: Die He gelschule spaltet sich: Ludwig Feuerbach will den »ganzen Menschen« ............... 308 Humanismus, Reformation Begreifen der Praxis-Karl Marx und Friedrich Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 und die Umwälzung Einspruch der Anarchisten ............. 335 des Wissens von der Natur Drei Einzelgänger .................... 338 Exakte Naturwissenschaften, geschicht- »Rinascita«, Wiedergeburt der Antike liche Welt, der handelnde Mensch- im italienischen Humanismus . . . . . . . . . . . 117 Themen der Universitätsphilosophie Reformation der Kirche oder Reich Gottes um die Jahrhundertwende ............. 358 aufErden oder »Geist des Kapitalismus«? . . 122 Träumende Vernunft, männliche Vernunft, private Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Erde ist gar nicht Mittelpunkt der Welt! -Über die Umwälzung von Weltbildern Die Philosophie unserer Zeit durch wissenschaftliche Revolutionen. . . . . 136 Die faustische Renaissance . . . . . . . . . . . . . 14 7 Albert Einstein, Sigmund Freud, »Knowledge is power«: Francis Bacon Wassily Kandinsky-drei Namen für und die Royal Society ofLondon die Erweiterung und Verrätselung forlmprovingNaturalKnowledge ........ 152 der Wirklichkeit im 20. Jahrhundert ...... 373 VI Inhalt »Linguistic turn«, d. h. die Wendung Wegweiser in die Philosophie zur Sprache in der modernen Philosophie des Ostens englischer Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Formen des Marxismus ................ 389 Ostund West ........................ 484 ExistenzalsThema ................... 399 Indien: Das Abenteuer der Suche Erkenntnis wird »Erkenntnis«, nach dem Selbst ..................... 487 »völkische Weltanschauung« oder Nirväna-»Verwehen« ................ 496 »Seelenmystik« im Faschismus .......... 409 Yin und Yang, »einander entgegengesetzt, Stichwörter zur Gegenwart ............. 416 einander ergänzend«. Die Ordnung der Welt im chinesischen Denken ........ 512 IndenGärtendesZen ................. 534 Lebendige Philosophie: Debatten und Kontroversen der siebzigerund achtziger Jahre Anhang (von Peter Christian Lang) Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Eine neue Generation tritt auf ........... 447 Einführende Bibliographie . . . . . . . . . . . . . 555 Positionen der praktischen Philosophie Personen-und Werkregister ............ 557 und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Positionen der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Bildquellen ......................... 571 VII VORWORT Auf den ersten Blick mag die Geschichte der Philosophie wie ein Labyrinth erscheinen, so viele Gestalten hat sie in ihrem Verlauf hervorgebracht und so fremdartig mag die Sprache wirken, die diese sprechen. Man sollte sich davon jedoch keinesfalls beirren lassen. Denn sehr schnell wird man die Erfahrung machen, daß diese scheinbar verwirrende Vielfalt in Wirklich keit ein großes Angebot ist. Das Angebot, teilzunehmen an dem spannen den Versuch, Antworten zu finden auf Lebensfragen, wie sie anderen Zeiten sich gestellt haben und wie unsere Zeit sie stellt. Die Geschichte der Philosophie ist die gespeicherte Erfahrung dieser Versuche. Und man wird sehr schnell spüren, daß man in der Auseinandersetzung mit ihnen nicht derselbe bleibt. Denn gerade der Abstand zur Gegenwart, den man da durch gewinnt, bietet die Chance, sich selbst und die eigene Zeit in einem neuen Licht zu sehen. Indem so viele Denk-und Verhaltensgewohnheiten, das scheinbar Normalste plötzlich fragwürdig werden, eröffnet die Ge schichte der Philosophie einen neuen Raum. Sie schafft Luft, kritische Distanz, neben dem Willen dazu die vielleicht wichtigste Voraussetzung von Freiheit. In ihrem Aufbau, der Epochengliederung und der Auswahl der repräsen tativen Namen folgt die vorliegende Darstellung einer überlieferten Form von Philosophiegeschichtsschreibung. Mit voller Absicht, denn sie ist für einen breiten Kreis von Lesern gedacht, die einen Zugang zur Philosophie gewinnen wollen über ihre geschichtliche Gestalt. Wohl aber habe ich versucht, in der Darbietung selbst das Bewußtsein wachzuhalten, daß diese überlieferte Form, ihr Bestand und die Art seiner Gliederung nichts Selbstverständliches ist. Die Frage z. B., ob das östliche Denken überhaupt in den Zusammenhang einer Geschichte der Philosophie hineingehört, zeigt das nur besonders deutlich. Es ist außerdem klar, daß sowohl bei den Epochen als auch den einzelnen Philosophen selbst immer eine Auswahl getroffen werden mußte. Mein Ziel war dabei, die Schwerpunkte,so zu setzen, daß jeweils ein möglichst breites und interessantes Spektrum von philosophischen und geschichtlichen Fragestellungen, Problemen und Per spektiven zur Sprache kommt, von denen jeder einzelne Aspekt im Idealfall geeignet ist, zum Nachdenken über bestimmte grundlegende Sachverhalte anzuregen. Denn meist hat die Philosophie ihre Fragen beim ersten Auftau chen bereits so klar und zugespitzt gestellt, daß die Auseinandersetzung mit diesen klassischen Formulierungen für den Anfänger den größten Erkenntnisgewinn verspricht. Das ist der entscheidende Vorteil der Ge schichte der Philosophie. Und wenn einige ihrer Probleme und Denkfor men heute nicht mehr oder so nicht mehr da sind oder dazusein scheinen umso mehr Anlaß, stutzig zu werden, umso mehr Anlaß zur Verwunde rung. Womit, nach einem alten Wort des Aristoteles, die Philosophie be ginnt. Es liegt in der Natur der Sache, daß alle bedeutenden Philosophen große Meister der Sprache und oft sogar Sprachschöpfer gewesen sind. Gegen über der gefahrliehen Sorglosigkeit, die in unserer Zeit im Umgang mit der Sprache herrscht, ist diese Aufmerksamkeit der Philosophie auf die Spra che vielleicht wichtiger als je zuvor. Dabei hat sie auch eine eigene Sprache VIII Vorwort entwickelt, in der sie ihre Probleme behandelt. Hält man sich die Entwick lung anderer Wissenschaften vor Augen, so ist das eigentlich selbstver ständlich. Aber gerade diese besondere philosophische Terminologie ist es, die von dem Laien häufig als Barriere empfunden wird. Ich habe versucht, beiden Ansprüchen zu genügen, d. h. die Anzahl der Fachwörter begrenzt zu halten und diese so zu erklären bzw. zu übersetzen, daß sie verständlich sind. Andererseits aber die Fachwörter, wo es sinnvoll und notwendig ist, auch wirklich einzubringen, denn die Bekanntschaft mit ihnen, das Sach wissen, gehört zur Sache hinzu. Darüber hinaus sind die Schriften der Philosophen reich an manchmal komischen und amüsanten, oft aber auch wunderbar dichten und bildkräftigen Formulierungen. Diese Seite der Philosophie, der Umgang mit ihren gelungenen sprachlichen Bildern, hat mir bei der Arbeit an diesem Buch besondere Freude bereitet; ich wünsche mir, daß sie sich auf die Leser überträgt. Bleibt noch die angenehme Aufgabe, allen zu danken, die mir geholfen haben, indem sie Teile gelesen und mit mir besprochen haben. Mein beson derer Dank gilt dem J. B. Metzler Verlag und seinem Lektor Bernd Lutz, mit dessen »altem Plan« alles anfing. Soviel Dank Nicola, daß sie mich so oft so nachsichtig »an den Büchern« gelassen hat und auch nicht, zum Glück. Florenz, im März 1985 Christoph Helferich Vorwort zur zweitenAuftage Die Zustimmung, die das Buch in der Kritik der Fachwelt erhielt, und die Aufnahme, die es in einer breiten Leserschaft bis in die Praxis des Philo sophieunterrichts selbst hinein erfuhr, haben mir große Freude bereitet. Sie bestätigen, daß Auswahlprinzip, Themenfassung und Darstellungswei se insgesamt als gelungen betrachtet werden dürfen. Daß dabei manchem Kritiker dieser oder jener Autor bzw. die von ihm vertretene Richtung als zu kurz gekommen scheint, kann in diesem Zusammenhang eigentlich nicht verwundern. Es verweist aber auf das Risiko, dem. das Unternehmen einer Geschichte der Philosophie nach wie vor ausgesetzt bleibt. Die vorliegende zweite Auflage wurde um einige Beiträge zur italieni schen Philosophiegeschichte erweitert, die für eine italienische Ausgabe des Werkes geschrieben wurden; die Hineinnahme dieser interessanten Linie vermag nicht zuletzt den gesamteuropäischen Charakter der philo sophiegeschichtlichen Tradition zu unterstreichen. Weitere Veränderun gen und Ergänzungen betreffen vor allem die Philosophie unseres Jahr hunderts, wobei ja noch gar nicht abzusehen ist, welche tiefgreifenden Wandlungen die allgemeine Entwicklung- Stichwort 9. November '89- auch für das Denken nach sich ziehen wird. Die Überarbeitung dieses Kapitels wurde von Peter Christian Lang vorgenommen, der auch, ausge hend von der Entwicklung in Deutschland, in einem eigens für diese Ausga be verfaßten Beitrag die Diskussion der Gegenwartsphilosophie weiter führt, was auch dieser zweiten Auflage unverminderte Aktualität sichert. Sie erscheint in einem neuen graphischen Gewand, welches die Lesbarkeit erleichtert; darüber hinaus wurden das Bildmaterial vermehrt und eine einführende Bibliographie erstellt, die dem Leser eine rasche Orientierung erlaubt. Florenz, imApril1991 Christoph Helferich 1 DIE PHILOSOPHIE DER ANTIKE Die Anfänge der griechischen Philosophie Geburt der Philosophie Geburt der Philosophie - darf man sie mit der Geburt eines Menschen Problem des . vergleichen? Vielleicht insofern, als bei beiden gleich schwer auszumachen Ursprungs ist, wann eigentlich das Leben anfängt. Sicher ist der erste Schrei, der erste Atemzug ein entscheidendes Ereignis: ein Kind kommt »auf die Welt«. Es lebt jetzt-aber hat sein Herz nicht schon lange geschlagen? Und wie lange wird es noch in ganz anderen Kinder-Welten leben? Und als Erwachsener, wie viel hat dieser Mensch schon wieder verloren, wovon er oft gar nichts weiß oder dem er nachtrauert oder das er beiseite schiebt in den Entwür- fen, die er sich behelfsweise macht? Wir wollen den Vergleich nicht allzu- sehr ausweiten. Vielleicht kann er zeigen, wie fragwürdig-merkwürdig, komisch manchmal und ernst zugleich das ist, was wir »Geschichte der Philosophie« nennen und worum es dabei geht. Immer schon schien in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Ursprung ein hoffnungsvoller Weg, Klarheit über die Sache selbst zu erlangen. Aber je mehr der Ursprung sich im Dunkeln verliert, um so deutlicher zeigt sich, daß der Fragende selbst die Antwort geben muß! Ja, man kann sagen: wann und wo der Anfang der Philosophie gesehen wird, gibt weniger Auskunft über die Philosophie als über die Art und Weise, wie eine spätere Zeit sich selbst sieht. Dieser Pendelbezug, dieses nicht auflösbare Spannungs- oder Spie- gelverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit gehört zum Men- schen als einem geschichtlichen Wesen, das in seiner Geschichte Orientie- rung sucht über sich selbst. Das Wort Geburt meint: etwas Neues. Gemäß einer langen Übereinkunft Adelswelt und neue beginnt dieses Neue im griechischen Kulturraum des sechsten und fünften Lebensformen Jahrhunderts v. Chr. Dieser Kulturraum wurde schon im Altertum Magna Graecia genannt; Großgriechenland deshalb, weil er außer dem Mutter- land auch die von den Griechen besiedelten Teile Kleinasiens sowie Unter- italien und Sizilien umfaßt. Ilias und Odyssee, die beiden großen epischen Dichtungen Homers, geben ein anschauliches Bild von den Lebensformen und der Vorstellungswelt der griechischen Adelsgesellschaft um achthun- dert v. Chr. In den folgenden Jahrhunderten nun haben sich hier einschnei- dende Veränderungen ergeben. Im Zuge zum Teil heftiger Krisen haben sie zu einer tiefgreifenden Umwälzung sowohl der Lebensformen als auch der Vorstellungswelt geführt. Modellartig vereinfacht, kann man den Aus- gangs- und (vorläufigen) Endpunkt dieser Entwicklung gegenüberstellen im Bildzweier Architekturen: dem Palast des Gottkönigs und dem öffentli- chen Platz eines griechischen Stadtstaates. Der Palast des Gottkönigs, wie wir ihn z. B. in Mykene finden, ist Mittelpunkt der alten, gleichsam orienta- lischen Lebenswelt Wirtschaftliche, religiöse und militärische Macht sind in der Person des Herrschnrs vereinigt. Durch seine Mittlerstellung zwi- schen Göttern und MenschPn garantiert er im kultischen Ritual-etwa der 2 Die Philosophie der Antike feierlichen Aussaat im Frühjahr - den Bestand der Gemeinschaft. Dieser Typus von Königtum sowie die nachfolgende Adelsgesellschaft der homeri schen Welt verschwinden im Laufe der griechischen Geschichte und ma DiePolis chen einer neuen Lebensform Platz, dem Stadtstaat oder der p6lis. Ihr Zentrum ist der öffentliche Platz (agora). In einer der Idee nach gleichbe rechtigten Teilnahme aller Vollbürger werden hier alle gemeinsamen An gelegenheiten zum Gegenstand der gemeinsamen Erörterung und Ent scheidung - ein beständiges Ausbalancieren der Macht also, wobei der Rede als dem öffentlich gesprochenen Wort eine große Bedeutung zu kommt. Diese Form der.Polis ist eine wirkliche geschichtliche Neuschöp fung der Griechen. Sie hat ihr Bewußtsein so tief geprägt, daß einer ihrer größten Philosophen, Aristoteles, den Menschen definiert hat als z6on politik6n, als politisches, d. h. gemeinschaftlich lebendes Lebewesen oder direkter: als Polis-Tier. städtische Lebenswelt Wenn wir unseren eingangs angestellten Vergleich noch einmal aufgrei und rationales Denken fen, so ist klar, daß der Charakter eines Menschen immer das Ergebnis vieif<iltiger Einflüsse ist, die im Einzelnen oft kaum mehr ausgemacht werden können. Und doch bildet er sich nicht im luftleeren Raum, sondern entstammt einer konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Umgebung, ei nem bestimmten Milieu. Ebenso schwer ist es, den geschichtlichen Wech selbezug geistiger Gebilde oder Entwicklungen eindeutig her- oder gar abzuleiten. Wobei eine wesentliche Aufgabe von Erkenntnis gerade darin besteht, dies möglichst umsichtig zu tun! Bei all diesen Vorbehalten hat man zu Recht, was den Gesamtrahmen betrifft, die Geburt der Philosophie und die Entstehung der Stadt in einen engen Zusammenhang gebracht. Ein Zusammenhang, der »so deutlich [ist], daß wir nicht umhin können, die Ursprünge des rationalen Denkens in den für die griechische Stadt bezeich nenden geistigen und sozialen Strukturen zu suchen.« [1] Und wie das System der Polis erst durch einen langen und mühevollen Weg seine end gültige Form gefunden hat, so auch das rationale Denken. Philosophie und Nehmen wir diese Gleichsetzung von Philosophie und rationalem Den Mythos ken einmal vorläufig auf. Was ist damit gemeint? Vielleicht läßt es sich am ehesten in Abgrenzung von seinem Gegenteil fassen. Geschichtlich hat sich die Philosophie entwickelt in Konkurrenz zum Mythos. Mythos bedeutet eigentlich »Wort«, »Rede« und weiter »Sage«, »Erzählung«. Der Mythos kennt keinen Verfasser; er wird weitergegeben von Geschlecht zu Ge schlecht. Er gilt als unbedingte, namenlose, selbstverständliche Autorität. Als Kosmogonie (Lehre von der Entstehung der Welt) entwirft er eine Gesamtdeutung der Welt. Als einzelne Sage erklärt er bestimmte Erschei nungen der Natur und des Lebens überhaupt. So etwa Werden und Verge hen im Kreislauf des Jahres im ägyptischen Mythos von Isis und ihrem Bruder Osiris, der alljährlich stirbt und wieder zum Leben erwacht; so etwa in der biblischen Erzählung von Paradies und Sündenfall, der tiefen Deu tung des Zusammenhangs von Selbstbewußtsein und Schuld. In allen Fäl len ist wesentlich, daß Göttliches, Menschliches und Natur nie grundsätz lich getrennt werden. Wie im Traumerlebnis bleiben die Übergänge flie ßend, denn der Kosmos (wörtlich: Ordnung) wird immer als ein Ganzes, als Einheit wirkender Kräfte aufgefaßt. Die Welt des griechischen Mythos ist in den Epen Homers ausgebreitet und überliefert. Dabei stellt ihre schriftliche Fixierung im sechsten Jahrhundert bereits einen entscheidenden Schritt zum Untergang des Mythos als lebendiger Denkform dar (ein Vorgang, vergleichbar dem Sammeln und Drucken der Volksmärchen durch die Brüder Grimm Anfang des letzten Jahrhunderts). Wichtig neben Ilias und