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Geschichte als Waffe : Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung PDF

176 Pages·2001·22.872 MB·German
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Edgar Wolfrum Geschichte als Waffe Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung V&R VANDENHOECK & RUPRECHT Edgar Wolfrum geboren 1960, ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte und derzeit DFG-Stipendiat an der TU Darmstadt. Zusammen mit Petra Bock hat er herausgegeben: Umkämpfte Vergangenheit. Ge- schichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internatio- nalen Vergleich (1999). 2001. 30908 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolfrum, Edgar: Geschichte als Waffe : vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung / Edgar Wolfrum. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht. 2001 (Kleine Reihe V & R ; 4028) ISBN 3-525-34028-1 KLEINE REIHE V&R 4028 © 2001, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren- zen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro- nischen Systemen. Printed in Germany. Umschlag: Jürgen Kochinke, Halle Schrift: Concorde regulär Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Bayerisch« ö2;Jlwc: SU» tsbiblio*"8* »ünchen Inhalt Einleitung 5 I. Von Preußens deutscher Sendung zu Deutschlands Weltmission 10 1. Der deutsche Nationalmythos 10 2. Revolutionsmythos und »Die Ideen von 1914« 21 II. Krieg der Erinnerungen in der Weimarer Republik 26 1. Verdrängte Niederlage 26 2. Republik, Räte, Reich 32 III. Pseudogeschichte und Ordnungswahn im »Dritten Reich« 39 1. Rassistische Geschichtsmystik 39 2. Mitkämpfende Historiker 47 IV. Deutschland im Jahr 1945 - Das Ende der Geschichte? 56 /. Geschichtsverlust 56 2. Historische Meistererzählungen West und Ost 62 V. Deutsch-deutscher Kampf um Nation und Revolution bis zum Mauerbau 70 1. „Die einige deutsche Republik" 70 2. „Einheit und Freiheit" 78 VI. Die Neue Ostpolitik und neue teilstaatliche Geschichtsbilder 86 1. Kontroverser Verfassungspatriotismus 86 2. Sozialistischer Patriotismus 96 3 VII. Zwei Erben einer nationalsozialistischen Vergangenheit 10''- 1. Die »Vergangenheitsbewältigung« im Westen 104 2. Verordneter und verinnerlichter Antifaschismus im Osten 116 VIII. Von der »Geschichtsnation« zum gegenwärtigen Nationalstaat 123 1. Die Flucht in die Geschichte 123 2. Deutsche Einheit, geteilte Vergangenheit 131 Die Zukunft der Vergangenheit 140 Anmerkungen 147 Literaturverzeichnis 158 Personenregister 174 Detailansicht des Bismarckdenkmals in Hamburg, gestaltet vom österreichi- schen Bildhauer Hugo Lederer (1902- 1908). Das Bismarckdenkmal in Ham- burg ist nur eins von über 700 anderen, die nach dem Tod Bismarcks in Deutschland entstanden sind. Es zeigt Bismarck in mittelalterlicher Rüstung mit Schwert und stilisiert ihn zum Schutzheiligen der Hansestadt und zum Symbol überzeitlichen Ranges. Foto: Thorsten Ahlf, Hamburg. Einleitung Wer Heinrich I. war, ist keineswegs sicher. Die Quellen lassen den Historiker hier im Stich. Angeblich soll der sächsische Herzog im Jahr 919 von den Sachsen und Franken zum König gekürt worden sein. Anfang des 19. Jahrhunderts entstand in Deutschland ein Heinrich I.-Mythos; fabelhafte und bizarre Legenden wurden um diese Gestalt gewoben. Die frühe deutsche Nationalbewegung suchte nach Heroen der nationalen Geschichte, und je weniger man historisch wußte, desto mehr kam die Phantasie ins Spiel. So fing mit Heinrich I. die deutsche Nationalgeschichte plötzlich im frühen Mittelalter an, bald darauf galt er als der Gründer des Deutschen Reiches und wurde gerühmt, weil er offenbar im Osten Länder er- obert und kolonialisiert hatte. Daraus wurde der »deutsche Drang nach Osten« abgeleitet, dessen Ursprung viele zeitgenössische Schriftsteller und Historiker in Heinrichs Epoche verorteten. Im er- sten Drittel des 20. Jahrhunderts entdeckte schließlich Heinrich Himmler, SS-Führer im »Dritten Reich«, den mittelalterlichen Kö- nig, dem man so vieles andichten konnte, für die nationalsozialisti- sche Bewegung und für den geplanten Vernichtungskrieg im Osten. Heinrich I. wurde zum Reichs-Urahn erkoren und zur Symbolge- stalt für die deutsche Ostexpansion gemacht, mit der die Nation wie angeblich schon tausend Jahre zuvor antreten sollte, die slawische Bevölkerung im Osten Europas zu vernichten und »Lebensraum« für die Deutschen zu schaffen.1 Das Beispiel zeigt: Die Geschichtswissenschaft besitzt kein Mo- nopol auf Geschichte und Erinnerung. Geschichte wurde und wird als Waffe, als politisches Kampfmittel gegen innere und äußere Geg- ner eingesetzt. Seit einigen Jahren widmet sich die Forschung ver- stärkt diesem Thema.2 Geschichte - oder die Konstruktion von Ver- gangenheit - ist offenbar eine geeignete Mobilisierungsressource im politischen Kampf um Einfluß und Macht. Sie kann als Bindemittel dienen, um nationale, soziale oder andere Gruppen zu integrieren. 5 Sie kann ausgrenzen, Gegner diffamieren und gleichzeitig das eige- ne Handeln legitimieren. Will man diese Mechanismen näher be- trachten, so empfiehlt es sich, vielfältige Formen der Geschichtsprä- sentation zu untersuchen, die von der Produktion von Mythen und Nationalhelden bis hin zur Sinnstiftung durch Museen und Denk- mäler reichen. Schulbücher und Romane, Rundfunk- und Fernseh- sendungen tragen ebenfalls zur Popularisierung bestimmter Sicht- weisen der Vergangenheit bei. Sie schaffen Erinnerungslandschaften - und Erinnerungslandschaften beeinflussen die Vorstellungen und Werte von Menschen. Nicht nur in obrigkeitsstaatlichen Regimen oder in Diktaturen wird eine solche Geschichtspolitik betrieben. Auch in demokrati- schen, auf Konkurrenz und Pluralismus basierenden Gesellschaften erkennt man schnell einen permanenten, interessengeleiteten Kampf um die Benennungsmacht. Wer sie geltend machen kann, wem es gelingt, eine bestimmte Erinnerung zu aktualisieren und da- durch andere abzudrängen oder dem Vergessen anheimfallen zu las- sen, vermag offenbar Orientierung zu geben und die Wahrnehmung der Realität zu steuern. Die Vermutung liegt nahe, daß auf diese Weise nicht nur Ereignisse und Situationen definiert sowie Emotio- nen angesprochen werden, sondern oft auch die Bereitschaft zum Handeln geschaffen wird. Historiker sind an dieser »Arbeit am na- tionalen Gedächtnis«3 führend beteiligt. Aber der Kreis der Träger eines Zugriffs auf Geschichte reicht - zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise - weit über sie hinaus, umfaßt Intellektuel- le, Publizisten und vor allem Politiker.4 Die professionelle Ge- schichtswissenschaft erzeugt historisches Wissen, und Historiker sind, wenn sie ihr Metier ernst nehmen, der wahrheitsgetreuen Re- konstruktion und der Traditionskritik verpflichtet.5 Doch das Ver- hältnis von Wissenschaft und politischer Macht ist vielschichtig und kompliziert, wie die aktuelle Debatte um das Verhalten deutscher Historiker im Nationalsozialismus verdeutlicht.6 Prinzipiell betrach- tet sagt die Nähe von Wissenschaft zur Politik noch nichts über ihre Qualität aus. Genauso unbestreitbar dürfte aber sein, daß Ge- schichte auch jenseits der historischen Wahrheit und Aufklärung eine große öffentliche Wirkung entfalten kann. Erinnern und Vergessen sind unauflöslich miteinander verbun- den, das Vergessen läßt sich sogar als ein Effekt des Erinnerns auf- 6 fassen: der Selektionsmechanismus des Erinnerns führt dazu, daß etwas auf Kosten von etwas anderem erinnert wird. Vergessen schafft erst Raum für die Erinnerung an das, was wichtig ist - wobei das. was als wichtig erscheint, sich im Zeitverlauf ändern kann und vom gesellschaftlichen Kontext abhängig ist. Gibt es einen Nutzen des Vergessens für das individuelle und kollektive Gedächtnis oder für das Leben allgemein? Wieviel Vergessen benötigt oder verträgt eine Kultur? Im 20. Jahrhundert hat die alte »Kunst des Vergessens« ihre Unschuld verloren und ist von einer »Kritik des Vergessens« eingeholt worden, weil angesichts der Diktaturen und deren Verbre- chen die Grenzen enger geworden sind, innerhalb derer vergessen werden darf, ohne moralische Schuld auf sich zu laden.7 In diesem Buch geht es um die Geschichtsdeutungen, die politi- sche Entscheidungen abstützten oder erzeugten, auch um die Dis- kurse und Praktiken, mit denen Geschichtsbilder formuliert und po- pularisiert wurden. Wie wurde in Deutschland zwischen dem Kai- serreich von 1871 und der aktuellen Gegenwart der Fundus an Ge- schichtsbildern und Deutungsmustern in der Öffentlichkeit genutzt? Die Geschichte Deutschlands kennzeichnen tiefe Brüche, Zäsurer- fahrungen und ein häufiger Wechsel der politischen Systeme. Oft mußten Fundamente überprüft und Geschichtsbilder revidiert wer- den. Aber in die jeweils neue Zeit ragten in unterschiedlichem Aus- maß auch Kontinuitäten aus der alten hinein. Das Bild von der »Ge- schichte als Waffe« soll als roter Faden diese Darstellung durchzie- hen, weil Gegnerschaft, Spaltung und Feindbilder ein tragendes Gei- stesgerüst der deutschen Geschichte waren. Eingebettet in den je- weiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontext versuchten die Produzenten von Geschichtsbildern, den Gegner zu schwächen, die eigenen Reihen geschlossen zu halten und Handlungsabläufe als alternativlos auszugeben. Durch das Deutsche Kaiserreich ging ein tiefer Riß, da sich die herrschenden Eliten als »Reichsgründer« empfanden, die sich über die bekämpften äußeren und inneren »Reichsfeinde« definierten. Das historische Argument spielte im historistischen 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle. Es entwickelte sich ein Mythos der Nation, des- sen Widerpart ein nicht minder kämpferischer Mythos der Revoluti- on war. Worauf rekurrierten sie? Warum wirkten beide Mythen am Vorabend des Ersten Weltkrieges kriegstreibend? Wodurch hatte 7 sich das Bewußtsein von einem eigenen deutschen Weg entwickelt, nach dem der »Geist von 1914« dem »Ungeist von 1789« gegenüber stand? Wie bestimmte der Erste Weltkrieg auch noch die Friedenszeit? Warum mißlang eine Abrechnung mit der Vergangenheit und war- um konnten neue Legenden Oberhand gewinnen? Während der Weimarer Republik lieferten sich die unversöhnlichen Teilkulturen einen Bürgerkrieg der Erinnerungen, in dem die Feinde der Repu- blik die Demokratie mit einer militanten und vereinnahmenden hi- storischen Symbolik bekämpften. Welches waren dabei die wirk- samsten Geschichtsvorstellungen? Zu einer brutalen Abrechnung mit der verhaßten »Systemzeit« holten die Nationalsozialisten im »Dritten Reich« aus. Ihr Denken und Handeln bestimmten mythi- sche Konstrukte und Utopien; der Mythos von Feindschaft und Tod erreichte seinen Höhepunkt. Wie war es möglich, daß ein pseudohi- storisches Gemisch auf große Resonanz stieß? Warum tendierten viele deutsche Historiker während dieser Zeit nicht nur zu einer Mythographie, sondern verstrickten sich in das Terrorregime und leisteten einen Beitrag zur Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft? Nach der Katastrophe und der Deformation des Gedächtnisses durch die NS-Diktatur kamen die geschichtspolitischen Vorgaben zunächst von den Siegermächten. Anders als nach dem Ersten Welt- krieg duldeten die Westalliierten keine autoritären Alternativen in den Westzonen. Im Osten Deutschlands wurde der Weg zu einer Art »Sowjetisierung« des Geschichtsbildes eingeschlagen. Aber wie sah dies alles im Einzelnen aus? Ab 1949 betraten zwei deutsche Staa- ten die Bühne und die Gegnerschaft verlagerte sich auf die zwi- schenstaatliche Ebene. Kalter Krieg, deutsche Teilung und deutsch- deutsche Systemkonkurrenz brachten in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR neue Geschichtsbilder hervor. Wie veränderten sie sich im zeitlichen Verlauf und in der generationellen Abfolge? In welchen zum Teil merkwürdigen Konstellationen von gegenseitiger Abstoßung oder Anziehung blieben sie aufeinander bezogen? Es entstand ein deutscher Erbschaftsstreit um die Ge- schichte bzw. um die »richtigen« Lehren aus der Vergangenheit. Wie wirkte dieser Konflikt auf die innenpolitischen Auseinanderset- 8 zungen in der Bundesrepublik zurück, in der verschiedene Vorstel- lungen über die Vergangenheit miteinander konkurrierten? Mit welcher Absicht sind in den Wiedervereinigungsdebatten des Jahres 1989 so vehement historische Argumente ins Feld geführt worden? Warum stritten sich die Deutschen nach der unverhofften Einheit von 1990 über den Stellenwert von zwei Diktaturen für das nationale Gedächtnis? In welcher Form und mit welchen Folgen setzen sich die vierzigjährigen Erfahrungen einer geteilten Vergan- genheit in einer gespaltenen Geschichtskultur fort? Der abschlie- ßende Blick auf die »Zukunft der Vergangenheit« soll die aktuellen geschichtspolitischen Konstellationen skizzieren, die auf mögliche Konflikte von morgen verweisen. I. Von Preußens deutscher Sendung zu Deutschlands Weltmission 1. Der deutsche Nationalmythos Rechts des Rheins war der Krieg von 1870/71 gegen Frankreich po- pulär, kein anderer Waffengang hätte die Deutschen durch »Eisen und Blut« zu einem kleindeutschen Reich zusammenschmieden können. Nur wenige Generationen zuvor war Napoleon Bonaparte bekämpft worden, und diese deutsche Erhebung gegen das »franzö- sische Joch« in den antinapoleonischen Freiheitskriegen von 1813 bis 1815 wurde nun von Publizisten, Professoren, Pastoren und Poe- ten nicht nur in Erinnerung gerufen, sondern in Analogie gesetzt zum neuen Krieg, dieses Mal gegen Napoleon III. Bereits wenige Jahre nach den Befreiungskriegen, 1819, waren erste Entwürfe für ein Denkmal zur Erinnerung an diese große Zeit diskutiert worden, das im Teutoburger Wald errichtet werden sollte, etwa dort, wo die Zeitgenossen die vernichtende Schlacht Hermanns des Cheruskers gegen die römischen Legionen des Varus im Jahre 9 vermuteten. Das Vorhaben zog sich über Jahrzehnte hin, erst 1875 war das ge- waltige Denkmal fertig gestellt, konnte unter großer Beteiligung ein- geweiht werden und das neue Deutsche Kaiserreich mit einem Stein gewordenen Gründungsmythos ausstatten. Unter einem Mythos ist eine textlich oder ikonisch fixierte Narra- tion zu verstehen, die um bestimmte Figuren der Geschichte kreist, denen idealisierte semantische Merkmale wie »ewig«, »göttlich«, »germanisch« zugesprochen werden. »Mythen bieten für Bedürf- nisse« der Gegenwart und Zukunft (z.B. >Einheit der Nation«) Lö- sungen«, die in der >Vergangenheit« liegen, durch diese >geheiligt< sind und die >darauf warten«, >wieder< zu >erwachen<«.' Bestimmte Trägerschichten - Dichter, Professoren, Politiker usw. - und Institu- tionen tragen den Mythos in die breite Öffentlichkeit, wo er durch 10

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