Ernst Heitsch Gesammelte Schriften I Zum frühgriechischen Epos Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Michael Erler, Dorothee Gall, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 152 Κ · G · Saur München · Leipzig Gesammelte Schriften I Zum frühgriechischen Epos Von Ernst Heitsch Κ · G · Saur München · Leipzig 2001 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heitsch, Emst: Gesammelte Schriften / von Emst Heitsch. - München ; Leipzig : Saur 1. Zum frühgriechischen Epos. - 2001 (Beiträge zur Altertumskunde ; Bd. 152) ISBN 3-598-77701-9 © 2001 by Κ. G. Saur Verlag GmbH, München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza Vorwort Der hier vorgelegte Band I einer auf drei Bände geplanten Sammlung enthält meine kleineren Beiträge aus den Jahren 1967 bis 2000 zum frühgriechischen Epos. Band II wird Beiträge zur griechischen Philosophie enthalten, Band III solche zur griechischen Literatur bis hin zum Frühchristentum. Der Band beginnt mit der Skizze einer Gesamtdeutung der Ilias, die versucht, Ana- lyse und Interpretation in gleicher Weise zu ihrem Recht kommen sollen. Die Analy- se setzt an, wie sollte es anders sein, bei Unstimmigkeiten des uns überlieferten Tex- tes und versucht dann Schritt fiir Schritt Einblick zu gewinnen in die Genese des Großepos. Die Interpretation gilt den unterschiedlichen Konzeptionen, nach denen verschiedene Erzähler, die in unserem Text greifbar sind, den gewaltigen Stoff gestal- tet haben. Der Wertschätzung der Dias tut es keinen Abbruch, wenn in ihr Varianten erkennbar werden, die ursprünglich in einem 'entweder so oder so' zueinander gestan- den haben. Ich denke, das Wunder der Ilias wird in einer analytischen Interpretation erst eigentlich deutlich. Die weiteren Beiträge gelten spezielleren Fragen und reichen von einer 'Theologie' der Ilias bis hin zur Deutungsgeschichte eines homerischen Zetemas, die an einem kon- kreten Beispiel immerhin das eine zeigen möchte, daß gelegentlich dort, wo wir keine Lösung finden, auch unsere antiken Vorgänger schon angestoßen sind. Bis auf wenige Ausnahmen erscheinen die Arbeiten hier in unveränderter Form. Alle sind von der Überzeugung bestimmt, daß es für das Tun der Philologen und für die Verständigung unter den Interpreten von Vorteil sei, wenn zwischen der Beschreibung eines philologischen Befundes und dessen Deutung klar geschieden wird. Mögen die Interpreten fiir ihre Deutungen dann auch verschiedene Wege gehen: in der Absicht, den Befund jedenfalls so zu beschreiben, daß auch andere die Möglichkeit haben zuzu- stimmen, könnten, wie ich denke, alle einig sein. Regensburg, im August 2000 Ε. H. Inhaltsverzeichnis 'Homer' eine Frage der Definition 9 K. Gärtner/H.-H. Krummacher (Hrsg): Zur Überlieferung, Kritik und Edition alter und neuerer Texte. Beiträge des Colloquiums zum 85. Geburtstag von Werner Schröder am 12. und 13. März 1999 in Mainz. Abh. Akad. Mainz 2000, Nr. 2, 37-93. Der Anfang unserer Ilias und Homer 66 Gymnasium 87, 1980, 38-56. Der Ausbruch der Troer in unserer Ilias 85 S. Doering/W. Maierhofer/P. Ph. Riedl (Hrsg.): Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Würzburg 2000, 15-25. Die Welt als Schauspiel. Bemerkungen zu einer Theologie der Ilias 96 Abh. Akad. Mainz 1993, Nr. 10. Erfolg als Gabe oder Leistung 126 Fr. Maier/W. Suerbaum (Hrsg.): Et scholae et vitae. Humanistische Beiträge zur Aktualität der Antike für Karl Bayer zu seinem 65. Geburtstag. München 1985, 7-13. Ilias Β 557/8 131 Hermes 96, 1969, 641-660. Eine junge epische Formel 151 Gymnasium 76, 1969, 34-42. Der Delische Apollonhymnos und unsere Ilias 160 H. G. Beck/A. Kambylis/P. Moraux (Hrsg.): Kyklos. Griechisches und Byzantinisches. Rudolf Keydell zum neunzigsten Geburtstag. Berlin 1978, 20-37. Der Zorn des Paris. Zur Deutungsgeschichte eines homerischen Zetemas .... 178 E. Fries (Hrsg.): Festschrift für Joseph Klein zum 70. Geburtstag. Göttingen 1967, 216-247. Homerische Dreigespanne 210 W. Kullmann/M. Reichel (Hrsg.): Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur der Griechen. Tübingen 1990, 153-174. Die epische Schicksalswaage 232 Philologus 136, 1992, 143-157. Rezension von: J. B. Hainsworth. The Flexibility of the Homeric Formula . . . 247 Gnomon 42, 1970, 433-441. Rezension von: Joachim Latacz (Hrsg.), Tradition und Neugestaltung 256 Indogermanische Forschungen 87, 1982, 301—303. Rezension von: Martin L. West. Hesiod, Theogony 259 Göttingische Gelehrte Anzeigen 220, 1968, 177-190. - 7- ERNST HEITSCH 'Homer' eine Frage der Definition I Aus den 'Nibelungenlied-Studien', die der Jubilar vor dreißig Jahren veröf- fentlicht hat,1 geht für den Klassischen Philologen u. a. auch hervor, daß Ilias und Nibelungenlied den Interpreten durchaus auch heute noch vor ähnliche Probleme stellen, Probleme, die sowohl bei dem Versuch, diese Texte zu ver- stehen, als auch bei dem, sie zu edieren, zu berücksichtigen sind, und zwar selbst dann, wenn die Ehrlichkeit möglicherweise das Eingeständnis verlangt, daß gewisse Fragen, deren Beantwortung nicht nur wünschenswert, sondern für weitergehende Überlegungen überhaupt erst die Voraussetzung wäre, für uns ohne eindeutige Antwort bleiben müssen. Jeder der beiden Texte - hier zunächst verstanden als jene Texte, wie sie uns überliefert sind - hat einen Autor, von dem wir nur das wissen, was aus dem Werk selbst über ihn zu gewinnen ist.2 Wie denn auch der Augenblick der Entstehung, d. h. der schriftlichen Fixierung des uns vorliegenden Textes, nur aus eben diesem Text erschlossen werden kann. Hier und dort ferner ein Werk, das von preisenswerten Helden erzählt, deren Verhalten von Wert- maßstäben einer Lebensordnung bestimmt wird, die zur Zeit des Dichters längst der Vergangenheit angehört. Hier und dort eine Erzählung, die nicht in einem fiktiven Raum der Phantasie, sondern an Orten spielt, die jedenfalls in ihrer überwiegenden Mehrheit dem damaligen Hörer bekannt waren und die auch der heutige Leser noch aufsuchen kann. Erzählt wird, was an diesen Orten einst geschehen ist; hier und dort also wird vergangenes Geschehen, werden Geschichten erzählt, und diese Geschichten wollen für den zeit- genössischen Hörer Geschichte sein. Hier und dort lassen Risse und Span- nungen innerhalb des überlieferten Textes ältere Traditionsschichten erken- nen, ohne daß deshalb im einzelnen deren Rekonstruktion möglich wäre; mit anderen Worten: Beide Werke erzählen ihre Geschichten nicht zum ersten- mal, ihre Autoren kennen und verwenden großzügig frühere Versionen, auch wenn das innerhalb ihrer neuen Komposition gelegentlich zu Verwerfungen führt. Und schließlich, beide Werke führen einen Titel, der für sie, wie sie nun einmal sind, nur noch bedingt paßt. Im Nibelungenlied werden so ver- schiedene Stoffe wie die Geschichte Siegfrieds und seines Todes, der Nibe- 1 WERNER SCHRÖDER: Nibelungenlied-Studien. Stuttgart 1968. 2 Anders als beim Nibelungenlied haben wir zwar für die Ilias einen Verfasserna- men, doch 'Homer' bleibt ein bloßer Name ohne jedes biographische Detail. - 9- 38 lungenhort, Gunthers Werbung um Brunhild und der Betrug, der Untergang der Burgunden am Hofe Etzels nur dadurch zusammengehalten, daß alles um Kriemhild herum gruppiert ist. In ihr hat der Autor eine Gestalt kon- zipiert, die unter der Einwirkung des Geschehens, in das sie hineingestellt ist, zunächst in ihrer Liebe, dann im Haß zu ihrer Größe findet und zuletzt von ihrem Willen zur Rache über jedes menschliche Maß hinausgetrieben wird. Insofern erzählt unser Nibelungenlied nicht, wie der Name zu behaupten scheint, die Geschichte der Nibelungen, sondern die Geschichte Kriemhilds. Und ähnliches gilt von der Komposition unserer Ilias. Mit einem Unter- schied. Während das im Nibelungenlied erzählte Geschehen sich über Jahr- zehnte erstreckt, wird in der Ilias der zehnjährige Krieg um Troja auf die Erzählung einer kurzen Zeitspanne von etwa fünfzig Tagen zusammenge- rafft, und selbst von ihnen dient weit mehr als die Hälfte der Angabe bloßer Dauer: Neun Tage wütet die Seuche, elf Tage sind die Götter bei den Ai- thiopen, elf Tage schleift Achill die Leiche Hektors um das Grab seines Freundes Patroklos, neun Tage errichten die Troer einen Scheiterhaufen für Hektor. Die erzählte Handlung füllt demgegenüber nur wenige Tage. Weder die Vorgeschichte, noch den Aufbruch der Achaier, noch den Beginn der Belagerung, noch die schließliche Eroberung der Stadt erleben die Hörer oder Leser. Doch indem die Ereignisse vergangener Jahre in gelegentlichen Rückblicken angedeutet oder auch ausführlicher erzählt werden, indem man- ches zukünftige Geschehen, vor allem das drohende Ende Trojas, aber auch der Tod Achills jedenfalls andeutungsweise zur Sprache kommt, gelingt es doch, vom Kampf um Troja so etwas wie ein Gesamtbild zu entwerfen. Doch gibt all das nur den Rahmen, innerhalb dessen jenes dramatische Ge- schehen weniger Tage abläuft, auf dessen Gestaltung der Erzähler es eigent- lich abgesehen hat: Der Streit Agamemnons und Achills und dessen Begrün- dung, die Demütigung Achills, sein berechtigter Groll, dessen Folgen für Achaier und Troer und besonders für ihn selbst. Insofern erzählt unsere Ilias nicht die Geschichte vom Untergang Trojas, sondern die Geschichte Achills. -10-