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Gerechtigkeit - ein Vergleich zwischen Nancy Fraser, John Rawls und Amartya Sen PDF

13 Pages·2017·8.84 MB·German
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www.ssoar.info Gerechtigkeit - ein Vergleich zwischen Nancy Fraser, John Rawls und Amartya Sen Rudel, Denise Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with: Verlag Barbara Budrich Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Rudel, D. (2012). Gerechtigkeit - ein Vergleich zwischen Nancy Fraser, John Rawls und Amartya Sen. Soziologiemagazin : publizieren statt archivieren ; Sonderheft, 1, 32-45. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168- ssoar-391421 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer CC BY-SA Lizenz (Namensnennung- This document is made available under a CC BY-SA Licence Weitergabe unter gleichen Bedingungen) zur Verfügung gestellt. (Attribution-ShareAlike). For more Information see: Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Studentisches SOZIOLOGIE Gerechtigkeit 32 MA GA Z I N Gerechtigkeit Ein Vergleich zwischen Nancy Fraser, John Rawls und Amartya Sen von Denise Rudel Studentisches SOZIOLOGIE Denise Rudel Sonderheft 1 | 2012 Seite 33 MA GA Z I N Was bedeutet Gerechtigkeit? Gemäß Bornas Ebert gibt es eine Reihe von Gerechtigkeitsprinzipien, anhand deren schon seit der Antike versucht wur­ de, Gerechtigkeit zu beschreiben (vgl. Ebert 2010: 39). In diesem Artikel werden die 'ttie- orien auf Basis von drei dieser Kriterien ver­ glichen. Es handelt sich um Verteilungsge­ rechtigkeit, Chancengerechtigkeit und die gegenseitige Zuerkennung von Rechten. Das erste Kriterium, auf das eingegangen werden soll, ist jenes der Verteilungsgerech­ tigkeit: Inwiefern leisten die einzelnen 'ttie- orien Anhaltspunkte, wie Vermögen und Einkommen gerecht verteilt werden kön­ nen? Ein weiterer Aspekt der Gerechtigkeit ist die Gegenseitigkeit. Gerechtigkeit in die­ sem Sinne bedeutet, dass jedeR dem/der je­ weils anderen alle Rechte zubilligt, die er oder sie auch für sich beanspruchen möch­ Die Forderung nach Gerechtigkeit taucht seit te (vgl. ebd.). Was sagen die drei 'ttieorien Jahrhunderten in verschiedenster Form auf. zu diesem Prinzip der Gerechtigkeit? Das Was mit demSchlagwortgemeint ist, istgenau- dritte Kriterium, welches zum Vergleich so unterschiedlich wie die Epoche und die Ge­ der 'ttieorien herangezogen werden soll, ist sellschaft, in denen der Ruf danach laut wird. jenes der Chancengerechtigkeit. Welchen Was bedeutet Gerechtigkeit überhaupt und wie Beitrag leisten die "ftieorien, wenn es um die könnte eine gerechte Gesellschaft umgesetzt Verteilung von Möglichkeiten geht? Eine werden? Um dieseFragen zu beantworten, wer­ Frage, die abschließend beantwortet wer­ de ich versuchen, einen Vergleich von drei theo- den soll, ist jene, ob es die 'ttieorien über­ retischenKonzepten anzustellen. ImFolgenden haupt schaffen, diese drei Aspekte von Ge­ werden die Ansätze von Nancy Fraser, John rechtigkeit aufzugreifen. Rawls und Amartya Sen erläutert. Obwohl die Autorinnen sich in differenten Zeitspannen Zu Beginn jedes Ansatzes werde ich kurz und aus unterschiedlichen neorieströmungen auf die jeweilige 'ttieorietradition verwei­ heraus mit dem nema beschäftigt haben, sind sen, aus der die Autorinnen stammen. Da­ Ähnlichkeiten in ihrenAnsätzen anzutreffen. nach werden die Ansätze erläutert und die Studentisches SOZIOLOGIE Gerechtigkeit 34 MA GA Z I N Hauptargumente ausgearbeitet. Anschlie­ derung nach Anerkennung von Differen­ ßend soll der jeweilige Ansatz anhand der zen, vor allem in Hinblick auf Nationalität, definierten Kriterien durchleuchtet wer­ Ethnizität, Rasse, Gender oder Sexualität. den. Als Abschluss der Arbeit werden die Die Ausbeutung als primäre Form der Un­ drei Ansätze anhand der Kriterien der Ver­ gerechtigkeit wird durch die kulturelle Do­ teilungsgerechtigkeit, der Gegenseitigkeit minanz abgelöst. Als Resultat verdrängt die sowie der Chancengerechtigkeit miteinan­ kulturell zugesprochene Anerkennung zu­ derverglichen. nehmend die sozio-ökonomische Umvertei­ lung als Maßnahme gegen Ungerechtigkeit Nancy Frasers 'freorie der und als Ziel des politischen Kampfes. (Vgl. Anerkennung Fraser 2001: 23) Gerechtigkeit wird bei Fra­ Nancy Fraser bewegt sich in der Tradition ser sowohl als eine Frage der Umverteilung der neueren kritischen 'ttieorie, die aufjür­ als auch der Anerkennung begriffen. Daher gen Habermas zurückgeht. Die ursprüngli­ muss das Verhältnis beider Gerechtigkeits­ che kritische 'ttieorie hat das Ziel, die Gesell­ forderungen untersucht werden. Konkret schaft nicht mehr nur zu beschreiben, son­ bedeutet dies zum einen, die begriffliche Be­ dern durch Aufzeigen von Defiziten einen deutung der kulturellen Anerkennung und Wandel der Gesellschaft voranzutreiben der sozialen Gerechtigkeit so zu gestalten, (vgl. Kopp/Schäfers 2010:291). Ziel von Nan­ dass sich die beiden Konzepte gegenseitig cy Frasers Arbeit ist die Schaffung einer kri­ fördern. Zum anderen muss theoretisch ab­ tischen 'ttieorie, welche die politische Pra­ geklärtwerden, inwiefern ökonomische Be­ xis reflektiert betrachtet und sich an prak­ nachteiligung und kulturelle Nichtachtung tischen Eingriffsmöglichkeiten orientiert miteinander in Verbindung stehen (vgl. ebd.: (vgl. Fraser 1994: 2). Fraser ist eine Vertrete­ 24). rin der Gerechtigkeitstheorie, genauer ge­ sagt ist sie im Bereich der Anerkennungs­ Meine 'ttiese lautet, dass Fraser durch den theorie verortet. In ihrem Ansatz greift sie Aspekt der Umverteilung auf die Vertei­ meiner Interpretation zufolge Verteilungs­ lungsgerechtigkeit und durch den Aspekt gerechtigkeit, den Aspekt der Gegenseitig­ der Anerkennung auf das Kriterium der keit als auch die Chancengerechtigkeit auf. Gegenseitigkeit eingeht. Wenn beide For­ Aus diesem Grund wird ihrem Ansatz mehr derungen erfüllt sind, herrscht partizipato- Platz innerhalb der Arbeit eingeräumt. rische Gleichstellung vor. Dieser Zustand, In ihrem Buch „Die halbierte Gerechtigkeit“ so meine 'ttiese, beschreibt den Aspekt der beschreibt Fraser, dass sich der Kampf um Chancengerechtigkeit. Wie diese Kriterien Anerkennung im späten 20. Jahrhundert bei Fraser aufgegriffen werden, soll nun an­ zur beispielhaftesten Form des politischen hand der beiden nächsten Kapitel gezeigt Konflikts entwickelt hat. Es geht um die For­ werden. Studentisches SOZIOLOGIE Denise Rudel Sonderheft 1 | 2012 Seite 35 MA GA Z I N Umverteilung und Anerkennung turen entgegengewirkt werden. Diese Maß­ Das wesentliche Charakteristikum des nahmen werden von Fraser unter dem Be­ heutigen „post-sozialistischen“ Lebens be­ griff der „Umverteilung“ subsumiert. (Vgl. steht für Fraser darin, dass die Klasse ihren ebd.: 29f.) Durch die geforderte Umvertei­ essentiellen Stellenwert verloren hat. Die lung geht sie, meiner Lesart zufolge, auf den Mobilisierung sozialer Bewegungen voll­ Aspekt derVerteilungsgerechtigkeit ein. zieht sich nun auf unterschiedlichsten Ach­ sen der Differenz. Es kommt zu einer Vermi­ Um die kulturelle Ungerechtigkeit zu be­ schung der Forderungen nach kulturellem kämpfen, ist ein kultureller oder symbo­ undwirtschaftlichem Wandel. Zur Klärung lischer Wandel von Nöten, welcher un­ der Situation schlägt sie vor, zwei Arten der ter anderem durch die Aufwertung bisher Ungerechtigkeit auszudifferenzieren. Zum missachteter Identitäten und die kulturel­ einen erwähnt sie sozio-ökonomische Un­ le Sichtbarmachung verächtlich gemachter gerechtigkeiten wie etwa Ausbeutung, Gruppen passieren kann. Die Summe die­ Marginalisierung und Deprivation, welche ser Maßnahmen betitelt Fraser mit dem Be­ aufgrund der politisch-wirtschaftlichen griff der „Anerkennung“. (Vgl. ebd.: 30) Die Struktur der Gesellschaft auftreten. (Vgl. Forderung nach Anerkennung ist sehr weit ebd.: 27) Zum anderen benennt sie eine kul­ gefasst und kann als Aspekt der Gegensei­ turelle oder symbolische Ungerechtigkeit, tigkeit interpretiert werden. Die Anerken­ welche in den sozialen Mustern der Aner­ nung, welche das Individuum für sich erhal­ kennung, der Interpretation und der Kom­ ten will, muss es auch allen anderen zuteil­ munikation begründet ist und in kultureller werdenlassen. Dominanz sowie fehlender Anerkennung Gerechtigkeit als zweidimensionale zum Ausdruck kommt (vgl. ebd.: 28). Die bei­ Konzeption den Arten der Ungerechtigkeit sind in den modernen Gesellschaften weit verbreitet In Nancy Frasers Konzept werden Vertei­ und eng miteinander verflochten. Als Fol­ lung und Anerkennung als unterschiedli­ ge verstärken sie sich auf dialektische Wei­ che Dimensionen und Aspekte der Gerech­ se gegenseitig. Parallel zu diesen beiden Ar­ tigkeit verstanden. Den normativen Kern ten der Ungerechtigkeit benennt Nancy Fra­ bildet die partizipatorische Gleichstellung; ser zwei Arten der Gegenmaßnahmen. Der ein Gesellschaftszustand, in dem alle er­ ökonomischen Ungerechtigkeit kann durch wachsenen Gesellschaftsmitglieder eben­ eine politisch-wirtschaftliche Umstruktu­ bürtig interagieren können. (Vgl. ebd.: 54f) rierung in Form einer Einkommensumver­ DamitdieserZustanderreichtwerdenkann, teilung, einer Neustrukturierung der Ar­ müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: beitsteilung oder durch die Veränderung verschiedener ökonomischer Grundstruk­ Studentisches SOZIOLOGIE Gerechtigkeit 36 MA GA Z I N Erstens muss die Verteilung der materiel­ dem von Fraser beschriebenen Zustand aus­ len Ressourcen so gestaltet sein, dass alle, geschlossen. (Vgl. Fraser 2003:55) die partizipieren, unabhängig sind und eine „Stimme“ haben. Alle Formen der ökonomi­ Die zweite Bedingung beschäftigt sich vor schen Abhängigkeit und der Ungleichheit, allem mit jenen Belangen, welche die Sta­ die die partizipatorische Gleichstellung un­ tusordnung der Gesellschaft und die kultu­ möglich machen, beispielsweise Konstel­ relle Statushierarchie betreffen: Es geht um lationen, bei denen einigen Individuen die Fragen der Anerkennung. Die gegenseitige Mittel und die Möglichkeit verwehrt wer­ Anerkennung kann als Aspekt der Gegen­ den als Ebenbürtige zu handeln, wie etwa seitigkeit von Gerechtigkeit angesehen wer­ Deprivation, Ausbeutung, deutliche Ver­ den. mögens- und Einkommensunterschiede oder eine divergierende Verteilung der Frei­ Beide Bedingungen müssen gemäß Fraser zeit, sind somit durch diese „objektive“ Be­ erfüllt werden, um von Gerechtigkeit spre­ dingung ausgeschlossen. (Vgl. Fraser 2004: chen zu können. Als Ableitung daraus ent­ 460) Hierbei stehen Fragen der distributi­ steht ein zweidimensionales Konzept der ven Gerechtigkeit, das ^ema der Umver­ Gerechtigkeit, welches sowohl Anerken­ teilung und die ökonomische Struktur der nung als auch Umverteilung umfasst und Gesellschaft im Mittelpunkt. Das Kriteri­ um die partizipatorische Gleichstellung um der Verteilungsgerechtigkeit scheint so­ zentriert ist. (Vgl. Fraser 2004: 460f.) Meine mit für Fraser maßgeblich bei der Herstel­ 'ttiese lautet daher, dass partizipatorische lung von Gerechtigkeit zu sein. Die zweite Gleichstellung hergestellt ist, wenn das Kri­ Bedingung ist gemäß Fraser „intersubjek­ terium der Gegenseitigkeit, also die Aner­ tiv“ und verlangt institutionalisierte kultu­ kennung, sowie das Kriterium der Vertei­ relle Wertmuster, die allen Teilnehmerin­ lungsgerechtigkeit, die Umverteilung, er­ nen den gleichen Respekt entgegenbringen. füllt sind. Die partizipatorische Gleichstel­ Beim Erwerb gesellschaftlicher Achtung lung als Zustand der ebenbürtigen Teilhabe soll die Chancengleichheit aller Partizipie­ aller Gesellschaftsmitglieder ordne ich dem renden gewährleistet sein. Durch institu­ Aspekt der Chancengerechtigkeit zu. Dieser tionalisierte Wertmuster wird jedoch ei­ beschäftigt sich gemäß ^omas Ebert mit nigen Individuen oder Gruppen der Status der Verteilung von Möglichkeiten und Fä­ von vollwertigen Interaktionspartnerinnen higkeiten, mit dem Ziel, eine Gerechtigkeit abgesprochen. Dies passiert entweder, weil der Chancen herzustellen (vgl. Ebert 2010: den Individuen übermäßige Differenz zu­ 52). Wenn Einkommen und Vermögen ge­ geschrieben wird, oder weil die Besonder­ recht verteilt sind und gegenseitige Aner­ heit der Individuen nicht anerkannt wird. kennung vorherrscht, geht damit meiner Solche institutionalisierten Normen sind in Ansicht nach eine gerechte Verteilung von Studentisches SOZIOLOGIE Denise Rudel Sonderheft 1 | 2012 Seite 37 MA GA Z I N Möglichkeiten einher. Im Sinne der gesell­ aus, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit schaftlichen Teilhabe herrscht Chancenge­ in einer fairen Ausgangssituation beschlos­ rechtigkeit vor, da jedeR die gleiche Chan­ sen wurden. Diesen imaginären Zustand ce zur Interaktion hat. Meine Schlussfol­ der ursprünglichen Gleichheit bezeich­ gerung ist, dass bei Fraser alle drei Kriteri­ net Rawls als „Urzustand“. (Vgl. ebd.: 28f.) In en von Gerechtigkeit vorgefunden werden diesem Urzustand, so attestieren Horn und können. Scarano, haben die Beteiligten keine genaue Vorstellung davon, wer sie sein werden und Der Begriff der Gerechtigkeit bei John sind daher bei der Übereinkunft von sozia­ Rawls len Regeln nicht von ihren eigenen Interes­ John Rawls ist ein US-amerikanischer Phi­ sen beeinflusst (vgl. Hom/Scarano 2002:467). losoph, der seine Gerechtigkeitsvorstellung auf der 'ttieorie des Gesellschaftsvertrages Nach Rawls' Auffassung werden im Urzu­ von Locke, Kant und Rousseau auftaut (vgl. stand zwei Grundsätze der Gerechtigkeit ebd.: 222f.). Für ihn ist der Gesellschaftsver­ ausgehandelt. Zum einen soll jedeR „glei­ trag in seiner ursprünglichen Bedeutung ches Recht auf das umfangreichste System eine Übereinkunft über die Gerechtigkeits­ gleicher Grundfreiheiten haben, daß mit grundsätze, welche die gesellschaftliche dem gleichen System für alle anderen ver­ Grundstruktur betreffen (vgl. Rawls 1975: träglich ist“ (Rawls 1975: 81). Zum anderen 27f.). Es sindjene Grundsätze, „die freie und sind soziale und wirtschaftliche Ungleich­ vernünftige Menschen in ihrem eigenen In­ heiten so zu gestalten, „daß (a) vernünfti­ teresse in einer anfänglichen Situation der gerweise zu erwarten ist, daß sie zu jeder­ Gleichheit zur Bestimmung der Grundver­ manns Vorteil dienen, und(b) sie mit Positio­ hältnisse ihrer Verbindung annehmen wür­ nen und Ämtern verbunden sind, diejedem den“ (ebd.: 28). Gemäß Rawls wählen alljene, offen stehen“ (ebd.). Mit dem ersten Grund­ die an dieser Zusammenarbeit beteiligt sind, satz ist gemeint, dass die Freiheit des Einzel­ in einem gemeinsamen Akt ihre Grundsät­ nen maximal sein soll,jedoch dort endet, wo ze und legen die Grundrechte und -pflich­ die Freiheit der anderen beginnt. Diese Frei­ ten sowie die Verteilung der gesellschaftli­ heit wird meiner Ansicht nach bei Rawls chen Güter fest. Entscheidend ist, dass die als Recht für alle eingefordert. Aus diesem Beteiligten von Beginn an festlegen, was Recht für alle leite ich fortfolgend ab, dass für sie als Kollektiv gerecht und ungerecht damit das Kriterium der Gegenseitigkeit er­ bedeutet. Diese Entscheidungen, getrof­ fülltwird. fen von vernünftigen Menschen in Freiheit Rawls erkennt im zweiten Grundsatz an, und Gleichheit, bestimmen die Grundsätze dass es Ungleichheiten aufgrund von unter­ der Gerechtigkeit in dieser 'ttieorie. Der Be­ schiedlichen Ämtern und Positionen gibt. griff der Gerechtigkeit als „Fairness“ drückt Diese Ämter müssen jedoch allen offen ste- Studentisches SOZIOLOGIE Gerechtigkeit 38 MA GA Z I N hen und von allen erreicht werden können. den. Die Grundsätze, welche im Urzustand Des Weiteren sind die entstehenden Un­ ausgearbeitet werden, beinhalten aus mei­ gleichheiten transparent zu machen und so ner Sicht zum einen den Aspekt der Ver­ zu gestalten, dass sie den größtmöglichen teilungsgerechtigkeit und zum anderen Nutzen für alle Gesellschaftsmitglieder den Aspekt der Gegenseitigkeit. Rawls ge­ bringen. Der erste Grundsatz beschäftigt steht zwar ein, dass es zu ungleicher Vertei­ sich mit Freiheiten, die für alle gleich gelten lung von Einkommen und Vermögen kom­ sollen. Darunter fallen unter anderem die men kann, da diese jedoch zum Vorteil der politische Freiheit, die Rede- und Versamm­ Gesellschaft ausgestaltet sein soll, wider­ lungsfreiheit, die Gewissens- und Gedan­ spricht er nicht dem Aspekt der Verteilungs­ kenfreiheit, sowie die persönliche Freiheit. gerechtigkeit. Der Aspekt der Gegenseitig­ Der zweite Grundsatz behandelt die Vertei­ keit verwirklicht sich meiner Ansicht nach lung von Einkommen und Vermögen sowie durch die Vereinbarung der Rechte, welche die Ausgestaltung von Organisationen, in füralleGeltunghaben. denen es unterschiedliche Macht und Ver­ Amartya Sens Idee der Gerechtigkeit antwortung gibt, wobei die Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht gleich­ Amartya Sen erarbeitet seine 'ttieorie der mäßig sein muss, jedoch zum Vorteil von Gerechtigkeit aus der Auseinandersetzung jedem und jeder. Die Positionen, mit denen mit John Rawls' 'ttieorie heraus. Er entwi­ Macht und Verantwortung einhergehen, ckelte sein Konzept der Wege zur Gerechtig­ müssen für alle offen zugänglich sein. (Vgl. keit und Solidarität im Markt in den 1970er ebd.: 82) Jahren (vgl. Merkel 2005:13). Für Sen ist die Idee des Urzustandes, in dem die Beteilig­ Die Übereinkünfte, die im Urzustand ge­ ten in Unwissenheit ihre Regeln des Zusam­ troffen werden, gelten als Grundlagen für menlebens ausarbeiten, jedoch nicht zweck­ die Ausgestaltung der sozialen Institutio­ dienlich (vgl. Sen 2010:91). Er vertritt die "ftie- nen, wobei durch die „faire“ Ausgangssitu­ se, dass es einer 'ttieorie der Gerechtigkeit ation eine gerechte Ausgestaltung der Insti­ bedarf, „die sich weder auf die Auswahl von tutionen gewährleistet wird. Wichtig dabei Institutionen beschränkt noch auf die Fest­ ist für Rawls, eine gemeinsame Vorstellung setzung idealer sozialer Regelungen. Die­ der Bürgerinnen von Gerechtigkeit, da so­ se 'ttieorie muss vielmehr davon ausgehen, mit eine gemeinsame Basis für öffentliche dass Gerechtigkeit nicht indifferent gegen­ Diskussionen über politische Probleme und über dem Leben sein darf, dass Menschen hinsichtlich der Ausgestaltung der Instituti­ tatsächlich führen können. Die hohe Bedeu­ onen vorherrscht. (Vgl. ebd.: 82f.) tung menschlicher Lebensführung, Erfah­ Meine 'ttiese lautet nun, dass bei Rawls le­ rung und Verwirklichung ist nicht zu erset­ diglich zwei der Kriterien vorgefunden wer­ zen durch Informationen über bestehende Studentisches SOZIOLOGIE Denise Rudel Sonderheft 1 | 2012 Seite 39 MA GA Z I N Institutionen und funktionierende Regeln“ bewertet und verglichen, ein spezifischer (ebd.: 47). Die tatsächliche Freiheit, aus ei­ Hinweis zum Gebrauch dieser Informatio­ ner Vielfalt an möglichen Lebensweisen zu nen abernichtgegeben. (Vgl. Sen 2010:258ff.) wählen, ist für Sen wesentlich und besitzt ei­ nen Wert an sich. Mit der Freiheit der Wahl Die primäre Frage, die beim Capability-An- geht jedoch auch eine Verantwortung ein­ satz gestellt wird, ist jene nach den Bedin­ her. Daher ist es notwendig, nicht nur nach gungen, welche erfüllt sein müssen, damit den Befähigungen, sondern auch nach der das Individuum ein für sich hoch geschätz­ Verantwortlichkeit, also der Macht, welche tes Leben führen kann. Es kommt zu einer mit dem Vermögen einhergeht, zu fragen. Fokussierung auf die strukturell vorgegebe­ (Vgl.ebd.:47f.) nen Handlungs- und Verwirklichungsmög­ lichkeiten des Individuums. (Vgl. Otto/Zieg­ In Amartya Sens Konzeption der Gerech­ ler 2006: 108) Die Funktionsweisen sind Le­ tigkeit wird den individuellen Fähigkeiten, bensumstände und Aktivitäten, welche ein von ihm „capabilities“ genannt, eine wich­ Mensch fürwichtig erachtet undtatsächlich tige Bedeutung beigemessen (vgl. Merkel verwirklicht. Beispielhaft nennt Sen gesun­ 2005: 13). Für Sen ist es unabdingbar, dass de und gute Ernährung, uneingeschränkte sich jede 'ttieorie der Gerechtigkeit ent­ Bewegungsmöglichkeit oder auch Beteili­ scheidet, welche Merkmale bei der Beur­ gung am Leben der Gemeinschaft. Capabi­ teilung einer Gesellschaft hinsichtlich Ge­ lities sind dagegen die möglichen Verwirk­ rechtigkeit herangezogen werden. Von be­ lichungschancen, die Menge an möglichen sonderer Bedeutung ist die Frage nach der und wünschenswerten Funktionsweisen. Einschätzung des individuellen Vorteils. In Die Verwirklichungschancen stellen die seinem Capability-Ansatz wird der indivi­ tatsächliche Freiheit dar, sein Leben so zu duelle Vorteil an der Befähigung einer Per­ gestalten, wie man dies möchte. Für Sen be­ son gemessen, jene Dinge zu tun, die sie aus steht Freiheit darin, die Möglichkeit zu ha­ gutem Grund hoch schätzt. Wenn eine Per­ ben, unterschiedliche Lebensstile zu wäh­ son geringe Befähigung hat, jene Dinge zu len. (vgl. Ziegler 2009: 20), wobei zwischen tun, die sie für wichtig erachtet, werden ihre zwei Arten der Freiheit unterschieden wird. Vorteile und ihre realen Chancen, gemäß Zum einen gibt es die instrumenteilen Frei­ Sen, eher gering eingeschätzt. Sens Befähi­ heiten. Darunterfallenpolitische Freiheiten, gungsansatz ist eng mit dem Chancenas­ ökonomische Einrichtungen, soziale Chan­ pekt der Freiheit verbunden, wobei mehr cen, Transparenzgarantie und soziale Si­ Freiheit bedeutet, mehr Chancen zu haben, cherheit. Solche Arten der Freiheit können gewisse Ziele, die hoch eingeschätzt wer­ als Instrumente zur Erreichung bestimmter den, zu verfolgen. Die Gesamtheit der indi­ Ziele angesehen werden. Vor allem aber soll viduellen Vorteile wird in Sens Ansatz zwar damit das Ziel der selbstbestimmten Wahl SOZIOLOGIE Gerechtigkeit 40 Wege zur Gerechtigkeit - ein Vergleich der Lebensform erreicht werden. Die zwei­ zwischen den Ansätzen te Art der Freiheiten sind die konstitutiven Freiheiten. (Vgl. Merkel 2005:14) Diese sind Die drei 'ttieorien sollen nun in einem weite­ für Sen „die elementaren Fähigkeiten, Z.B.: ren Schritt anhand der Kriterien der Vertei­ die Möglichkeit, Hunger, Unterernährung, lungsgerechtigkeit, der Gegenseitigkeit und heilbare Krankheiten und den vorzeitigen der Chancengerechtigkeit verglichen wer­ Tod zu vermeiden, wie auch jene Freiheiten, den. die darin bestehen, lesen und schreiben zu können, am politischen Geschehen zu par­ Im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit tizipieren, seine Meinung unzensiert zu äu­ schlägt Nancy Fraser vor, dass ökonomi­ ßern, usw.“ (Sen 2000:50). Diese Fähigkeiten schen Ungerechtigkeiten durch eine poli- sollen gleichmäßig verteilt und für jeden er­ tisch-wirtsch aftliche Umstrukturierung weitert werden (vgl. Sen 1999:10). Um sozia­ entgegengewirkt werden soll (vgl. Fraser le Gerechtigkeit herzustellen, bedarf es der 2001: 27). Ökonomische Abhängigkeit ver­ Bereitstellung und Sicherung der oben er­ hindert eine ebenbürtige Interaktion der wähnten Freiheiten durch die Gesellschaft erwachsenen Gesellschaftsmitglieder, da­ (vgl. ebd.: 287). her muss die ökonomische Grundstruk­ tur der Gesellschaft in den Blickwinkel ge­ Durch die Bereitstellung der instrumentel­ nommen werden. Auf Basis dieser Analy­ len sowie der konstitutiven Freiheiten, so sen bedarf es Fraser zufolge einer Einkom­ meine Interpretation, wird die Wahlfrei­ mensumverteilung beziehungsweise einer heit hinsichtlich der Lebensform vergrö­ Neustrukturierung der Arbeitsteilung (vgl. ßert. Eine höhere Freiheit der Wahl bedeu­ Fraser 2004: 460). John Rawls definiert den tet in diesem Zusammenhang eine höhe­ Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit in­ re Befähigung, Chancen der Lebensgestal­ nerhalb seiner beiden Grundsätze, welche tung wahrzunehmen und ein für sich hoch im Urzustand getroffen werden. Der zwei­ geschätztes Leben zu wählen. Meine 'ttiese te Grundsatz beschäftigt sich mit der Ver­ lautet daher, dass durch die Bereitstellung teilung von Einkommen und Vermögen, der Freiheiten die Chancen des Individuums wobei Rawls Ungleichheiten bei Einkom­ vergrößert werden. Chancengerechtigkeit men und Vermögen nicht im Widerspruch wird, so meine Conclusio, in diesem Aspekt zu Gerechtigkeit sieht. (Vgl. Rawls 1975: 82) im Hinblick auf die Wahlfreiheit und die Be­ Verteilungsgerechtigkeit bedeutet in die­ fähigung derlndividuen aufgegriffen. sem Ansatz keine Gleichverteilung von Ein­ kommen und Vermögen, wie dies bei Fraser der Fall ist. Einkommensunterschiede sind akzeptabel, wenn alle Mitglieder der Gesell­ schaft die Möglichkeit haben, die mit höhe­

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Struktur der Gesellschaft auftreten. (Vgl. ebd.: 27) Zum anderen benennt sie eine kul turelle oder symbolische Ungerechtigkeit, welche in den sozialen
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