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Gerd Schwerhoff PDF

324 Pages·2004·1.55 MB·German
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Gott und die Welt herausfordern. Theologische Konstruktion, rechtliche Bekämpfung und soziale Praxis der Blasphemie vom 13. bis zum Beginn des 17. Jahrhundert. Habilitationsschrift vorgelegt an der Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie von Gerd Schwerhoff im November 1996 korrigierte und gekürzte Online-Fassung 2004 Inhalt: 0. Vorwort und Konkordanz zur Internet-Ausgabe 2004.....................................................................I 1. Gotteslästerung in Alteuropa: Forschungen, Probleme, Perspektiven...........................................1 1.1. Zum Forschungsstand...........................................................................................................3 1.2. Probleme, Fragestellungen und Methoden.........................................................................8 2. Der Diskurs der Theologen.................................................................................................................16 2.1. Ein exemplarischer Zugang: Johann Geiler von Kaysersberg.......................................17 2.2. Zur Begriffsbestimmung der Blasphemie.........................................................................23 2.2.1. Gott schelten........................................................................................................24 2.2.2. Die drei Spezies der Gotteslästerung................................................................29 2.2.3. Falsche Reden über Gott als Blasphemie?.......................................................33 2.2.4. Exkurs: Blasphemie-Vorwürfe gegen Häretiker.............................................37 2.3. Ambivalente Bewertung......................................................................................................45 2.3.1. Motivsuche und moralische Beurteilung..........................................................45 2.3.2. Spätmittelalterliche Dekalog-Auslegungen und Predigten............................49 2.3.3. Exemplarische Gotteslästerer und ihre Strafen...............................................56 2.3.4. Exemplarische Gotteslästerer und ihre unfreiwillige Komik........................65 2.4. Der Blasphemie-Diskurs im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert.............................68 2.4.1. Kontinuität und Intensivierung.........................................................................68 2.4.2. Ausweitung...........................................................................................................74 2.5. Theologie und Recht............................................................................................................84 3. Rechtliche Normen und Sanktionen..................................................................................................87 3.1. Die neue Gesetzgebung des 13. Jahrhunderts.................................................................88 3.2. Das späte Mittelalter............................................................................................................94 3.2.1. Zurückhaltung der kirchlichen Gerichtsbarkeit..............................................95 3.2.2. Offensive der Städte.........................................................................................100 3.3. Das ‘lange’ 16. Jahrhundert..............................................................................................115 3.3.1. Späte Initiative der deutschen Zentralgewalt................................................116 3.3.2. Die Ausstrahlungskraft der Reichsgesetzgebung.........................................121 3.3.3. Konfessionelle Unterschiede und christlicher Gleichklang........................129 3.3.4. Sanktionsinstrumentarien und Sanktionierungspraxis................................136 3.4. Gründe und Hintergründe der Blasphemie-Bekämpfung...........................................147 3.4.1. Majestätsverbrechen.........................................................................................147 3.4.2. Vergeltungstheologie........................................................................................153 3.4.3. Sensibilität der Städte.......................................................................................156 4. Erscheinungsformen der Gotteslästerung......................................................................................159 4.1. Blasphemische Schwüre...................................................................................................159 4.1.1. Der üble Schwur im Spiegel von Theologie und Recht..............................160 4.1.2. Eidestheologie und Schwurkritik...................................................................170 4.1.3. Christus zerstückeln - Gliederschwüre und Passionsfrömmigkeit............174 4.1.4. Die Bedeutung blasphemischer Schwüre und ihr sozialer Kontext..........178 4.2. Gotteslästerliche Flüche...................................................................................................184 4.3. Die Verletzung der göttlichen Ehre: Formen und Adressaten...................................195 4.3.1. Blasphemische Worte und Taten...................................................................195 4.3.2. Adressaten: Gott, Maria und die Anderen....................................................200 4.4. Gotteslästerung als Ausdruck von Zweifel und Unglauben.......................................209 5. Gotteslästerung im sozialen Kontext..............................................................................................226 5.1. Sozialer Status und Geschlecht der Lästerer.................................................................226 5.2. Soziale Kontexte: Trunk und Spiel.................................................................................235 5.3. Blasphemie als theatralische Selbstinszenierung...........................................................245 6. Resümee..............................................................................................................................................253 7. Exkurse................................................................................................................................................263 7.1. Kirchliche und weltliche Blasphemie-Gesetzgebung bis zum 13. Jahrhundert.......263 7.2. Blasphemie, Häresie und Inquisition..............................................................................269 7.3. Gotteslästerliches Fluchen als magische Usurpation göttlicher Macht?...................272 7.4. Blasphemie und Ikonoklasmus.......................................................................................277 8. Übersicht: Frühe städtische Rechtsbestimmungen gegen Gotteslästerung im Gebiet des Deutschen Reiches...................................................................................................................282 9. Quellen und Literatur........................................................................................................................283 9.1. Ungedruckte Quellen........................................................................................................283 9.1.1. Archive...............................................................................................................283 9.1.2. Bibliotheken......................................................................................................284 9.2. Gedruckte Quellen............................................................................................................285 9.2.1. Drucke vor 1800...............................................................................................285 9.2.2. Drucke nach 1800.............................................................................................286 9.3. Sekundärliteratur und Nachschlagewerke......................................................................296 I 0. Vorwort und Konkordanz zur Internet-Ausgabe 2004 Nicht nur Bücher, sondern auch online präsentierte Dateien haben ihre Schicksale. Das vorliegende Habilitationsmanuskript hatte ein zwar kompliziertes, aber nicht weiter aufregendes fatum – vielen Leidensgenossen in ähnlicher Lage wird es bekannt vorkommen. Auf einen stenographischen Nenner gebracht: unter Zeitdruck abgeschlossen; die notwendige Überarbeitung zunächst anderen Verpflichtungen geopfert; die begonnene Überarbeitung aufgrund anderer Verpflichtung nie zu Ende gebracht; dem durch den zeitlichen Abstand von der Entstehung noch größer werdenden Aktualisierungsdruck ausgewichen; schließlich vor der wachsenden Entfremdung vom Manuskript kapituliert. Eine bedingungslose Kapitulation jedoch sollte es nicht sein, und so entschloß ich mich zu einer Art taktischem Rückzug und zur Umstrukturierung meiner Bataillone. Die vorliegende online-Veröffentlichung soll das Manuskript in weitgehend unveränderter Form dem interessierten Spezialisten zugänglich machen. Zugleich soll die Essenz des Werkes zugespitzt und angereichert mit neuen Erkenntnissen und der Auseinandersetzung mit jüngst erschienenen Untersuchungen, zu einem schmalen, lesbaren Buch verarbeitet werden. Weitgehend unverändert beinhaltet zwei Einschränkungen. Zum einen wurden etliche Schreibfehler korrigiert. Zum anderen habe ich einige der Arbeitsschritte, die ich zur Überarbeitung bereits unternommen hatte, nicht einfach rückgängig machen können und wollen. Diese Überarbeitung bestand zum einen in Kürzungen derjenigen Teile, die anderweitig bereits fast unverändert publiziert wurden.1 Im Zuge der dadurch notwendig werdenden redaktionellen Umstellungen wurden zudem einige Passagen als Exkurse in ein eigenes, anhängendes Kapitel verschoben, um den Hauptgang der Untersuchung klarer hervortreten zu lassen. Verzichtet wurde dagegen auf die Einarbeitung von und die Auseinandersetzung mit einschlägigen neueren Arbeiten nach 1996.2 Auch von inhaltlichen Umakzentuierungen wurde abgesehen, obwohl ein Autor nach acht Jahren tunlich das Recht hat, einiges anders zu sehen. Ich behalte mir vor, die Essenz meiner Forschungsergebnisse und Gedanken in dem demnächst erscheinenden Buch niederzulegen. Für ausgiebige Danksagungen ist eine solch unprätentiöse Veröffentlichung nicht der rechte Ort. Erwähnt werden soll aber doch, daß Prof. Dr. Klaus Schreiner die Arbeit seines damaligen Assistenten nach Kräften gefördert hat. Neben ihm gutachteten Prof. Dr. Heinrich Rüthing und Prof. Dr. Wolfgang Schild im Habilitationsverfahren. Daran, daß diese Veröffentlichung erheblich weniger Fehler enthält als das ursprünglich eingereichte Manuskript, hat neben Heinrich Rüthing auch Dr. Klaus Graf einen großen Anteil. 1 Vor allem die zwischengeschaltete Fallstudie zu drei Städten (Gerd SCHWERHOFF: Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz. Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14.-17. Jh.), in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 25 (1998), S. 39-120 und die ausführlichere Darstellung über “das gotteslästerliche Volk der Juden” (Gerd SCHWERHOFF: Blasphemie zwischen antijüdischem Stigma und kultureller Praxis. Zum Vorwurf der Gotteslästerung gegen die Juden in Mittelalter und beginnender Frühneuzeit, in: Aschkenas 10 (2000), S. 117-155). 2 Etwa Alain CABANTOUS: Geschichte der Blasphemie, Weimar 1999; Georges MINOIS: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Weimar 2000; Francisca LOETZ: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002. II Weil von diesem Originalmanuskript einige Exemplare in Umlauf sind, hier eine Konkordanz zwischen dem neuen und dem ursprünglichen Manuskript: NEU ALT 1. Einleitung 1. dto. 2.1 – 2.2.3 Diskurs der Theologen (Anfang) 2.1. – 2.2 dto. (leichte Umstellung) 2.2.4 Exkurs: ... Häretiker... 3.1. Häretiker und konfessionelle Gegner (entfällt jetzt) 2.3 Bewertungen 2.3 Katechese (leichte Umstellung) 2.4 Diskurs im 16. u. 17. Jh. 2.4 Beginnende Neuzeit, 3.1 ... konfessionelle Gegner (Rest) 2.5 Theologie und Recht 2.1, 2.4 (Reste) - 3. Die Anderen als Gotteslästerer 3.1 Häretiker u. konfess. Gegner (umgestellt) 3.2 Juden (separat veröffentlicht vgl. Schwerhoff 2000) 3.1 13. Jahrhundert Zusammengezogen aus versch. Abschnitten des alten Kap. 4: Rechtl. Normen u. Sankt. 3.2 Spätes Mittelalter 4.2 dto. (leichte Umstellung) 3.3 16. Jahrhundert 4.3 dto. (leichte Umstellung) 3.4 Gründe und Hintergründe Zusammengezogen aus versch. Abschnitten des alten Kap. 4. - 5. Fallstudien Köln – Nürnberg – Basel (separat veröffentlicht vgl. Schwerhoff 1998) 4. Erscheinungsformen 6 Phänomenologie (leichte Umstellung) 5. Gotteslästerung im sozialen Kontext 7. Sozialgeschichte (leichte Umstellung) 6. Resümee 8. dto. - 9.1 Abbildungen (vgl. Schwerhoff 2002) - 9.2 Quellenanhang (separate Veröffentlichung wird vorbereitet) 7.1 Exkurs: Gesetze bis zum 13. Jh. 4.1 Frühgeschichte 7.2 Exkurs: Blasphemie, Häresie, Inquisition 4.3.4 Europ. Regionen 7.3. Exkurs: Fluchen als Magie? 6.2 Flüche 7.4 Exkurs: Blasphemie und Ikonoklasmus 6.3 Formen und Adressaten Dresden, im Herbst 2004 Einleitung 1 _________________________________________________________________________________ 1. Gotteslästerung in Alteuropa: Forschungen, Probleme, Perspektiven “Als das Christentum noch groß und stark war”, so schrieb der Philosoph Christoph Türcke 1994, “und sich allen Mitgliedern der Gesellschaft als allein seligmachend aufdrängte, bedeutete Verhöhnung der Religion soviel wie Widersetzlichkeit gegen die höchste Wahrheit - und schien deshalb so ungeheuer verwerflich, weil sie als vollkommen unvernünftig und selbstzerstörerisch galt. Wer bei Sinnen war, konnte das nicht wollen. In der bürgerlichen Gesellschaft, die ... Religion zur Privatsache erklärt, verliert der Tatbestand der Blasphemie indessen seine Kontur.”1 Paradoxerweise scheint die Gotteslästerung aber trotz dieser ‘Privatisierung’ der Religion gerade in der Moderne ihre höchste Bedeutung zu erlangen. Der umfassende Geltungsanspruch des Christentums, so Türcke, habe eine Lästerung der eigenen Religion in früherer Zeit verhindert. Erst die aufklärerische Religionskritik der Neuzeit habe der Verhöhnung anderer Religionen diejenige der eigenen bzw. der Religion als solcher hinzugefügt. Mit der Vervielfachung der satirischen Angriffe auf religiöse Tabus ging jedoch keine allgemeine Desensibilisierung einher; immer noch treffen sie bei vielen Zeitgenossen auf einen empfindlichen Nerv. Die Empörung über die als blasphemisch empfundenen ‘Satanischen Verse’ Salman Rushdies beschränkte sich nicht auf fundamentalistische Kreise des Islam, sondern fand auch im Christentum ein vielfältiges Echo.2 Wo immer die Gottesmutter Maria oder der gekreuzigte Jesus heutige Spötter herausfordert, kann zuverlässig mit einer heftigen öffentlichen Reaktion gerechnet werden: Ob der Comiczeichner Walter Moers oder das Kabarett ‘Die drei Tornados’ sich über die unbefleckte Empfängnis Mariens lustig machen; ob die englische Blödeltruppe ‘Monty Python’ im Film ‘Das Leben des Brian’ ihre swingende Kreuzigungsgruppe die Zuschauer auffordern läßt, immer zur heiteren Seite des Lebens zu blicken; ob die Satirezeitschrift TITANIC den Gekreuzigten im Bild zeigt, das einer Anzeige der Weißblechindustrie mit der Überschrift “Ich war eine Dose” nachempfunden ist; oder ob der französische Karikaturist Masters in einer Zeichnung eine vollbusige Nonne Jesus am Kreuz in den Lendenschurz schauen läßt; - immer hagelt es aufgeregte Leserbriefe. Als im Jahr 1995 die Berliner “tageszeitung” nach dem Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichtes die Öffentlichkeit mit der Headline “Bayern ohne Balkensepp” zusätzlich erregte, wurde in der Bundesrepublik einmal mehr der Ruf nach einer Verschärfung des § 166 StGB, der die Beschimpfung anderer religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse als Störung des öffentlichen Friedens unter Strafe stellt, laut. Für manchen Kritiker zügelloser Blasphemien signalisieren solche Äußerungen den endgültigen Verfall der kulturellen Werte des Abendlandes. Auf den ersten Blick scheint das Mittelalter geeignet, als Kontrastfolie für eine so geartete zügellose Moderne zu fungieren. Es galt lange als ‘das’ christliche Zeitalter par excellence. Zwar wurde durchaus konzediert, daß es einige Zeit dauerte, bis die christlichen Missionare mit den Überresten heidnischen Aberglaubens Schluß gemacht hatten. Und auch in der Bewertung war man keineswegs einig: Was in den sehnsuchtsvollen Blicken von Romantikern und Katholiken als goldene Zeit des Glaubens erschien, war in den Augen von Humanisten und Aufklärern der 1 Christoph TÜRCKE: Blasphemie (Religionswende, Teil 1), in: DIE ZEIT Nr. 13, 25. März 1994, S. 65. 2 Vgl. die Dokumentation The Rushdie File; ferner LEVY: Blasphemy, S. 558ff. Einleitung 2 _________________________________________________________________________________ Inbegriff des “dunklen Mittelalters”. Gleich aber, wie man ihn bewertete, am tief empfundenen Gottesglauben der Menschen schien es nichts zu deuteln zu geben. Insbesondere das Spätmittelalter mit seinem intensiven religiösen Leben, mit Bruderschaften, Wallfahrten und Stiftungen, war, folgt man Bernd Moellers bekannter Skizze der ‘Frömmigkeit um 1500’, geprägt von einer beispiellos “geschlossenen Kirchlichkeit”. Trotz eines Hanges zur ‘Massenhaftigkeit’ und zur Veräußerlichung (der allerdings im zarten Individualismus der ‘devotio moderna’ ein Gegengewicht besaß) gab es an der Frömmigkeit der Menschen keine Abstriche zu machen - nur die kirchlichen Institutionen und Amtsträger waren nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen, weswegen es schließlich zur Reformation gekommen sei.3 Dieses Bild vom “christlichen Mittelalter” wird auch in der historischen Forschung weiterhin gepflegt, und insbesondere in den kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen gehört dieser traditionale Zug der Epoche (gegen den sich die Moderne so praktisch abgrenzen läßt) nach wie vor zum unangefochtenen Grundwissen4; aber das Bild hat in den letzten zwei Jahrzehnten deutliche Risse bekommen.5 Es waren zunächst Frühneuzeitler wie Jean Delumeau, die das christliche Mittelalter zu einem Mythos erklärten und erst mit der Konfessionalisierung den entscheidenden Verchristlichungsschub ansetzten. Revisionistische Mediävisten wie Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt entwickelten auf dieser Linie das Bild eines zweigeteilten Mittelalters, wo einer Religion des Volkes, die wesentlich aus pagan-indoeuropäischen Traditionen schöpfte, die christliche Elitekultur gegenüberstand, die immer wieder, aber mit begrenztem Erfolg eine Missionierung dieser Volksreligion versuchte. Diese Sicht der Dinge mag überzogen sein. Aber selbst John van Engen, der mit überzeugenden Argumenten die These von den zwei religiösen Kulturen bestreitet, kann dies nur tun, indem er die innere Spannbreite der einen religiösen Kultur herausstellt.6 In diesem weiten Spektrum ist auch das vielfach ignorierte Phänomen der Gotteslästerung zu verorten. Denn ein zweiter Blick zeigt schnell, wie verkürzt die Entgegensetzung von ‘frommem Mittelalter’ und ‘lästernder Moderne’ ist. In den Kriminalakten des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit begegnen uns Lästerreden, die frommen Christen der Gegenwart sicherlich die Schamröte ins Gesicht treiben würden. Da schwören Menschen nicht nur bei Gottes Blut, Haupt und Wunden, sondern auch bei seinem Penis oder seinen Exkrementen. Da fluchen Spieler den Schöpfer und Weltenlenker, wünschen ihm das fallende Übel an den Hals oder drohen, ihm alle Knochen zu zerbrechen. Auch der Spott heutiger Karikaturisten und Kabarettisten hatte seine Entsprechungen. Das kirchliche Dogma von der jungfräulichen Empfängnis und Geburt Mariens reizte viele Zeitgenossen eines Nikolaus von Kues und eines Martin Luther ebenso zu Widerspruch und Schmähungen wie ihre modernen Nachfahren. Wer die historische Überlieferung danach selektiert, was sich in das herkömmliche Bild der Epoche fügt, wird vielleicht der Auffassung sein, es handele sich dabei 3 MOELLER: Frömmigkeit, S. 6 u. passim; auch ZIMMERMANN: Spätmittelalterliche Frömmigkeit, geht mit seiner These von einer im Gefolge der spätmittelalterlichen Verchristlichung wachsenden Autonomie der Laien gegenüber dem Klerus letztlich in dieselbe Richtung einer Kluft zwischen ‘Frömmigkeit’ und ‘kirchlichen Institutionen’. 4 Vgl. nur die Bemerkungen des Psychoanalytikers Horst E. RICHTER über die Sicherheit des mittelalterlichen Menschen in seiner “Gotteskindschaft”, die einen Verzicht auf genaue Erforschung der Welt und Berechnung möglich gemacht hätte (Der Gotteskomplex, S. 21). Dagegen sei seit dem Ende des Mittelalters ein Umschlag, vergleichbar mit dem von der narzistischen Ohnmacht in die narzistischen Omnipotenz erfolgt, der zusammen mit der allmählichen Aneignung eines göttlichen Allmachtsgefühls eine heillose Angststimmung nach sich gezogen hätte. 5 Vgl. dazu statt vieler Einzelangaben die Skizze von VAN ENGEN: The Christian Middle Ages, S. 519ff. 6 Ebd. S. 532ff. Einleitung 3 _________________________________________________________________________________ um nicht weiter beachtenswerte Randphänomene. Wer an einer Revision bzw. Ausweitung dieses Bildes interessiert ist, wird sich dagegen gerade für ‘Marginalien’ interessieren. 1.1. Zum Forschungsstand Daß die Blasphemie keine moderne Erscheinung ist, blieb den Fachleuten nicht verborgen. Ihre Bewertung aber fällt, je nach allgemeiner Einschätzung der Epoche, sehr unterschiedlich aus. Wer ihren durch und durch christlichen Charakter postulierte, neigte dazu, die Blasphemie eher als ‘harmlose’ Erscheinung anzusehen.7 Zum ‘locus classicus’ der Forschung hat sich dabei das Urteil des Altmeisters Johann Huizinga entwickelt. Im täglichen Leben hätten die Menschen sehr vertraulich mit Gott verkehrt. Daraus sprächen unbedingte Festigkeit und Unmittelbarkeit des Glaubens, wenn auch die Gefahr der Profanierung des Glaubens in Momenten fehlender religiöser Spannung gegeben sei. “Das ganze Leben war so von Religion durchtränkt, daß der Abstand zwischen dem Irdischen und dem Heiligen jeden Augenblick verlorenzugehen drohte.”8 Selbst Fluchen und Gotteslästerungen seien nur einem starken Glauben entsprungen. “Aus allen diesen Glaubensentweihungen ... spricht mehr eine naive Vertraulichkeit mit dem Religiösen als regelrechte Gottlosigkeit. Nur eine Gesellschaft, die ganz mit Religion durchtränkt ist und die den Glauben als etwas Selbstverständliches empfindet, kennt solche Ausschweifungen und Entartung.”9 Wird so auf der einen Seite die Gotteslästerung geradezu zur Kronzeugin der christlichen Prägung dieser Zeit erhoben, oder jedenfalls ihre Bedeutung stark heruntergespielt10, so sind in letzter Zeit prominente Gegenstimmen zu hören. Keith Thomas stellte die Blasphemiker in eine Reihe mit Atheisten und Skeptikern vom Schlage eines Sir Walter Raleigh. Jean Delumeau stellt den Kampf gegen Fluchen und Lästern in den Kontext des frühneuzeitlichen Akkulturationsprozesses und fragt, “ob sich in Flüchen und Gotteslästerungen nicht die Oberflächlichkeit der Christianisierung, eine Sympathie für die Ketzerei, ja sogar ein geheimer Atheismus ausdrückte.”11 Beider Urteil ist vorsichtig und tastend, und es wird nicht recht klar, ob die Blasphemie hier eher als fortdauerndes Erbe des Mittelalters gesehen wird oder als ein Phänomen, das am Beginn der Moderne eine neue Qualität annimmt. Kein Raum für Unsicherheiten läßt demgegenüber die Beurteilung eines Atheismus-Forschers, dem die Blasphemie ein willkommener Bestandteil eines Panoptikums von mentalen Krisenphänomenen 7 So MOELLER: Frömmigkeit, S. 8f.- Vgl. dagegen die - allerdings auf dünnem Quellenfundament basierende - Feststellung von KIECKHEFER: Repression of Heresy, S. 75, Blasphemie sei (zusammen mit Zauberei) im spätmittelalterlichen Deutschland zeitweise eine größere Herausforderung gewesen als Ketzerei. 8 HUIZINGA: Herbst des Mittelalters, S. 217. 9 Ebd. S. 225.- Ähnlich schrieb der Elsässer Regionalhistoriker Luzian PFLEGER 1933: “Der Durchschnittsmensch des Mittelalters hatte wohl einen Glauben, der Berge versetzte, aber ein ungezügeltes Temperament, das sich in Gewalttaten und in Kraftsprüchen Luft machte. Er war ein starker Flucher und legte die Worte nicht auf die Waagschale, Gott und seine Heiligen mussten daran glauben. Ritter und Bauern, Arbeiter und Handwerker wetteiferten mit einander in greulichen Fluchworten” (PFLEGER: Sühnewallfahrten, S. 148). 10 So stellte sich etwa der Volkskundler Karl-Sigismund KRAMER angesichts der von ihm in den Bußregistern beobachteten “vor- und außerchristlichen Glaubenselemente” (darunter auch Lästern und Schwören) die Frage, “wie tief das religiös-christliche Leben im Einzelnen und in der Gemeinschaft Wurzel gefaßt, ob es schließlich nicht doch nur die Oberfläche übertüncht hatte” (Bauern und Bürger, S. 123). Trotz einer durchaus ansehnlichen Zahl erklärt er sie schließlich zu “Zeugnisse[n] der Verkommenheit oder des Übermutes Einzelner, die insgesamt kaum ins Gewicht fallen” (ebd. S. 125). 11 THOMAS: Religion, S. 198f.; DELUMEAU: Angst im Abendland, S. 587f. Einleitung 4 _________________________________________________________________________________ ist, die allesamt als “manifestations d’une sorte de révolte contre la morale et la foi chrétienne” am Beginn der Neuzeit verstanden werden.12 Robert Muchembled hat vor kurzer Zeit beide Erklärungsmodelle - Gotteslästerung als Zeichen für tiefen Glauben bzw. Blasphemie als Indiz oberflächlicher Christianisierung - noch einmal durchgemustert, um sie dann beide abzulehnen. “Man wird also die Fragestellung ändern müssen. Wahrscheinlich ist die Gotteslästerung weder ein Indiz für die Vitalität noch ein Anzeichen der Schwäche des Christentums.” Was sich wandele, sei der Grad der Repression durch die staatliche Gewalt. Diese Unterdrückung dürfe aber nicht mit der unterdrückten Sache verwechselt werden. Aus dieser Perspektive scheint mir die Gotteslästerung ein integraler Bestandteil des Christentums im ausgehenden Mittelalter zu sein, ebenso wie die Pilgerfahrten und die Heiligenverehrung.13 Erst im Verlauf der Frühneuzeit hätten Justiz und Zivilisationsprozeß den Menschen das Fluchen ausgetrieben. Damit sind wir nur wenig klüger. Denn den meisten derartiger Bemerkungen in ambitionierten Werken mit Überblickscharakter und Allgemeinheitsanspruch ist gemeinsam, daß sie zwar die Gotteslästerung als Beleg für dieses oder jenes interpretieren wollen, sich aber nicht lange mit der Analyse dessen aufhalten, was genau darunter zu fassen sei. Wer nach Spezialuntersuchungen fragt, die diesem Mangel abhelfen könnten, stößt auf eine Fülle von Quellenbelegen und Einzeläußerungen in den unterschiedlichsten historischen Werken, kaum jedoch auf brauchbare zusammenfassende Arbeiten.14 Dabei besteht an neueren Gesamtdarstellungen, gerade im angloamerikanischen Bereich, keinen Mangel. 1981 erschien die weitausgreifende und materialreiche Studie ‘Treason against God’ des amerikanischen Rechtswissenschaftlers Leonhard Levy, ein aufklärerisches, “an unfashionably Whiggish book”, wie der Autor im Vorwort selber stolz bekennt. Blasphemy dient ihm als Studienobjekt “for the struggle for intellectual liberty in general and of religious liberty in particular”. Das - durchaus sympathische - Engagement des Verfassers hat jedoch seinen Preis: Die historische Genauigkeit bleibt oftmals auf der Strecke, zumal er notwendigerweise oft aus dritter Hand schöpft und durchweg nur bekannte Höhenkämme beschreitet. Wichtiger als die historische Erkenntnis über Erscheinungsformen und Bedeutungen der Gotteslästerung ist ihm die Reproduktion der immergleichen Schlachtreihen: Reaktion (=Repression der Blasphemiker) hie, Aufklärung (=Blasphemiker) dort; nur wenn die Lästerer allzusehr über die Stränge schlagen, entzieht ihnen der Autor seine Sympathie. Wahrscheinlich sind die Abschnitte über das Mittelalter die schwächsten und irreführendsten überhaupt. Im Gefolge der Rushdie-Affäre brachte Levy 1993 unter dem Titel ‘Blasphemy’ eine - was die letzten Jahrhunderte angeht - wesentlich erweiterte Fassung auf den Markt. Die Abschnitte über Antike, Mittelalter und 12 BERRIOT: Athéismes, S. 264; die Fragwürdigkeit dieses Panoptikums drückt allerdings nichts besser aus, als daß er auch den “Satanskult” hier einreiht. 13 MUCHEMBLED: Die Erfindung des modernen Menschen, S. 71. 14 Aussagekräftig ist hier der Befund der Lexikonartikel. Eher enttäuschend sind solche in Werken mit hohem Allgemeinheitsanspruch, z.B. der Art. ‘Gotteslästerung’ (L. HÖDL), in: LdM, Bd. 4, 1989, Sp. 1593f., oder der Art. ‘Gotteslästerung’ (R. LIEBERWIRTH), in: HRG, Bd. 1, 1971, Sp. 1765f.; konfus der Art. ‘Gotteslästerung’ (K. BETH), in: HDA, Bd. 3, 1931, Sp. 978-984. Hilfreicher dagegen speziellere Artikel wie schon der ältere, aus kanonistischer Perspektive verfasste, von MOLIEN: ‘Blasphème’; aus erzählkundlicher Sicht LÜTHI: Art. ‘Blasphemie’; schließlich für die Spätantike MERKEL: Art. ‘Gotteslästerung’. Einleitung 5 _________________________________________________________________________________ beginnende Neuzeit sind jedoch nicht überarbeitet (wie es angesichts der zwischenzeitlich veröffentlichten Kritik zu erwarten gewesen wäre), sondern lediglich gekürzt. Kommt Levy nach eigenem Bekenntnis ‘altmodisch’, gleichsam historistisch daher, so kleidet sich David Lawton, der ebenfalls 1993 ein Buch mit dem Titel ‘Blasphemy’ veröffentlicht, in postmoderne Gewänder. Obwohl er naturgemäß historische Quellen verwendet und einige Kapitel (vorgeblich) nach Epochen gegliedert sind, bildet die Historie doch nur das Spielmaterial zur Illustrierung seiner eigenen Lesart des Problems. Was ihn, den Fachmann für spätmittelalterliche englische Literatur, interessiert, ist der ‘textuelle Charakter’ der Blasphemie, und so versteht er sein Buch als “a selective historical study of blasphemy as text”.15 Weil das Verständnis des Phänomens von den Grundwahrheiten einer Gesellschaft abhänge, weil diese Grundwahrheiten sich ständig veränderten und überdies zwischen verschiedenen Gruppen und erst recht verschiedenen Kulturen strittig seien, beginnt die Arbeit mit einem programmatischen Abschnitt ‘On not defining blasphemy’. Wo alles im Fluß und nichts festgelegt ist, kann der Autor auf seiner tour d’horizon durch die Weltgeschichte munter ‘Texte’ ganz verschiedener Epochen zusammenkoppeln, ihren Bedeutungen nachspüren, Leitmotive identifizieren, Assoziationsketten bilden und semiotische Funktionen bestimmen. Wo das Karussell von Text und Kontext allzuschnelle Fahrt gewinnt, kann es schon einmal passieren, daß seitenlang von Gotteslästerung nicht mehr die Rede ist, etwa bei einem von Wycliff ausgehenden Exkurs über die Frauenmystik des Spätmittelalters, der über den unvermeidlichen Umweg der Ketzerei wieder bei der Blasphemie anlangt.16 Unbestritten gelingen Lawton dabei passagenweise scharfsinnige Interpretationen, etwa, wenn er die Mehrschichtigkeit der ‘Erzählung des Ablaßkrämers’ in Chaucers ‘Canterbury Tales’ seziert.17 Nach all den schnellen Umdrehungen aber kommt das Karussell schließlich abrupt zum Halten und mündet doch in eine Definition. Blasphemie, so die lakonische Schlußfolgerung, “is an orthodoxy’s way of demonising difference in order to perpetrate violence against it.” Der - auch in der Moderne erstaunlich lebendige - Macht-Diskurs der Blasphemie diene der Identitätssicherung dieser Orthodoxie. Gleichzeitig sei diese Blasphemie eine Option des Widerstandes gegen die Orthodoxie, wenn auch eine gefährliche. Obwohl der Autor für sich eine Vermittlerrolle zwischen den Akteuren reklamiert, endet sein Buch mit einer - ebenfalls sympathischen - Stellungnahme gegen die diskursive Unterdrückung von Dissidenten als Blasphemikern.18 Daß sich der multikulturelle Relativist Lawton hier wieder mit dem ‘altmodischen’ Liberalen Levy trifft, ist symptomatisch, denn in vielen historischen Passagen ruht seine Darstellung auf dessen Vorarbeiten. Gerade für das Mittelalter und das 16. Jahrhundert akzeptiert er weitgehend dessen Meinungen. Damit droht eine ‘herrschende Meinung’ zementiert zu werden, die die historische Evidenz nicht auf ihrer Seite hat.19 Das beste an Levys Abschnitt über das Mittelalter war die durch ihn provozierte Kritik. Edwin D. Craun legte 1983 eine grundlegende Arbeit über das Konzept der Pastoraltheologen über Blasphemie seit dem 13. Jahrhundert vor, die einen der wichtigsten Beiträge zur Klärung eines Teilaspektes unseres Themas darstellte. Mit dem Buch der beiden Italienerinnen Carla 15 LAWTON: Blasphemy, S. 5. 16 Ebd. S. 104-109. 17 Ebd. S. 98ff.: Erstens sei der Ablaßkrämer ein passionierter Blasphemiker; zweitens fluchen und schwören die Jugendlichen in seiner Erzählung über alle Maßen gotteslästerlich; drittens schließlich sei die Struktur der Erzählung selbst blasphemisch, weil sie die Trinität textuell abbilde - eine sicherlich sehr gewagte Schlußfolgerung. 18 Ebd. S. 202. 19 Vgl. als erstes affirmatives Rezeptionszeugnis zu beiden Büchern VISWANATHAN: Blasphemy and Heresy.

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Das mag banal klingen, aber immerhin gibt die Studie (vielleicht auch im Bewußtsein der Autoren selbst) derart banal, daß die Dramatisierung unangemessen erscheint. S. 391; AMANN, Städtischer Alltag, S. 22, S. 129 Anm. 94, S. 130 Anm. 102; S. 131 Anm. 107;. WIELANDT: Prangerstrafe in
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