GEOPOLITIK DIE LEHRE VOM STAAT ALS LEBEWESEN VON PROF. DR. RICHARD HENNIG MIT 64 KARTEN IM TEXT 1928 SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH ISBN 978-3-663-15413-6 ISBN 978-3-663-15984-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-15984-1 Vorwort. Von alters her hat sich die geographische Wissenschaft als eine politische Macht er wiesen. Ra tzel. Unendlich groß ist der Schaden, der aus geographischer Unwissenheit erwächst. Sir Thomas Holdich. Burckhardt hat einmal geäußert: "Für jeden Gebildeten besteht eine Pflicht zur Richtigerhaltung seines Weltbildes." In unserer gärenden Gegenwart mit allen ihren Nöten und düsteren Wolken ist insbesondere die Pflicht zur Richtigerhaltung des politischen Welt bi I des dringlicher als in den sonnigen Tagen der Vorkriegszeit. In der zünftigen großen Politik ist heute nicht mehr mit staats-, rechts- und verwaltungswissenschaftlichen Kenntnissen allein auszukommen, sondern wirtschaftliches, erdkundliches, völkerpsychologisches Wissen ist min destens ebenso wichtig geworden. Die Politik ist vielleicht die schwerste der angewandten Wissenschaften, und Außenpolitik ist in unseren Tagen der Weltweite nicht zum wenigsten angewandte Geographie geworden. Von jeher ist aber die Geographie ein Aschenbrödel im Schulunter richt gewesen. Wer weiß, ob unser Volk und seine politische Leitung nicht den siegreichen Ausgang des großen Weltkrieges errungen hätte, wenn ein besseres Verständnis für die großen Zusammenhänge im erd kundlich-politischen Geschehen den Gebildeten, und insbesondere den Volksvertretern und Diplomaten, schon seit 50 Jahren eingeimpft worden wäre! In der auswärtigen Politik sollte sich hinfort überhaupt Niemand mehr betätigen dürfen, der nicht ein gediegenes geographisches, histo risches und weltwirtschaftliches Wissen sein eigen nennt. Das Gefühl, daß die ungebührlich starke Vernachlässigung der erd kundlich-politischen Kenntnisse Unheil über unser Volk gebracht hat, scheint sich widerzuspiegeln in dem rasch wachsenden Interesse weiter Kreise für Politische Geographie und ganz besonders für die von Ratzel und K jellen begründete, junge Wissenschaft der Ge 0 pol i t i k. Die Geopolitik soll, nach einem Worte Haushofers "dem deutschen Volke den politischen Blick in die Weite der großen Erdräume vermitteln helfen, der vor dem Kriege fast völlig fehlte, und dessen Pflege in der Einschränkung unserer weltweiten Betätigung doppelt nötig ist." Jeder Aufwand, den Deutschland sich leistet, um das Den k e n in Erd t eil e n zu fördern, wird sich in einer Verbesserung seiner Stellung in der WeH hundertfach bezahlt machen. a* IV Vorwort Aus dieser Erwägung heraus ist das vorliegende Werk entstanden, zu dem meine in Düsseldorf gehaltenen Vorlesungen die Anregung gegeben haben. Möge es helfen, unserem Volke den Blick zu schärfen für das weltpolitische Geschehen unserer Tage, für die ewigen, ehernen, großen Gesetze, denen dieses Geschehen zwangsläufig unterliegt! Und möge der Inhalt recht vielen deutschen Volksgenossen die Überzeugung vermitteln: Die Politik ist nicht Freiwild für jedermann, sondern eine hohe Wissen schaft und eine Kunst dazu, in der Kurpfuscher vielleicht noch mehr Unheil anrichten können als in der Heilkunde! So sei dieses Werk dem deutschen Volke dargebracht - "auf daß es glücklich sei und frei!" Düsseldorf, 18. Mai 1928. Richard Hennig. Inhalt. Seite Einleitung: Definition des Begriffs. - Vorläufer der heutigen Geopolitik. 1. Die Staaten als Lebewesen 10 1. Geburt, Lebensfunktionen und Tod der Staaten . . . . . . . .. 10 2. Die Zonen der Erde in ihrer Bedeutung für die Entstehung der Staaten 14 3. Die ältesten Staaten der Menschheit und ihre geographischen Voraus- setzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 17 4. Das Mittelmeer als Schöpfer der ersten Seestaaten . . . . . . .. 28 5. Die Gegenpole antiken staatlichen Lebens: Phönizien, Hellas, Rom. 31 6. Ein Vergleich zwischen heutigen und antiken Staatstypen . . . .. 39 11. Die geopolitischen Faktoren der Staatenbildung. - Einleitung 45 1. Die Beschaffenheit des Bodens 46 2. Der Einfluß der Fauna und Flora 51 3. Der Einfluß des Klimas. . . . . 54 4. Die Bedeutung der Niveauunterschiede . 57 5. Die Wirkung des Bodens auf den Volkscharakter 62 6. Der Einfluß der verkehrsgeographischen Bedingtheiten 66 7. Die geophysische Lage . . . . . . 75 8. Das Meer als geopolitischer Faktor. . . . . . 79 IU. Die Wachstumstendenzen der Staaten und die Staa ts- grenzen . . . . . ..... 98 1. Größenordnungen der Staaten . 98 2. Flächenhafte Grenzen ... 107 3. Grenzwälle und -mauern . 110 4. Linienhafte Naturgrenzen . 113 a) Gebirgsgrenzen . . . . 1I3 b) Fluß- und Seegrenzen 1I7 5. Mathematisch-geographische Grenzen 122 6. Ethnologische Grenzen . 128 7. Strategische Grenzen. . 137 8. Wirtschaftliche Grenzen. 143 9. Wachstumsspitzen . 151 10. Innere Kolonisation 155 IV. Gesetzmäßigkeiten in der Lage der Hauptstädte und der großen Seehäfen ..... . . . . . . 159 1. Die Hauptstadtlage im überwiegenden Landstaat . 159 2. Die Hauptstadtlage im überwiegenden Seestaat. 164 3. Unzweckmäßige Lage von Hauptstädten 165 4. Die Hauptstädte der Kolonialstaaten . . . . 167 5. Die Lage der Hauptplätze in den modernen Staaten mit Doppelcha- rakter ............................. 169 VI Inhalt Seite V. Das Übervölkerungsproblem der Staaten und der Erde 171 1. Malthusianismus und Völkerwanderungen. . . 171 2. Aus- und Einwanderung .......... 179 3. Das Anwachsen der Bevölkerungszahl der Erde 187 VI. Politische Reibungsflächen in folge des Hungers nach Raum 201 1. Die Auseinandersetzungen mit den Nachbarn und der "Druckquotient" 201 2. Bündnisse mit Nachbarn des Nachbarn . . . . . . . . . " 204 3. Die "mare nostro"-Tendenz und der Drang nach dem Gegenufer . 206 4. Pufferstaaten 209 5. Kondominium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 VII. Der staatliche Fortpflanzungstrieb (Kolonisation). 215 I. Die Kolonien des Altertums und Mittelalters 215 2. Die Anfänge der modenien Kolonisation 220 3. Die politischen Reibungsflächen in den Kolonien. 225 4. Staatliches Eigenleben und Großjährigkeit der Kolonien 229 5. Verknappung des verfügbaren Kolonialraums 235 6. Das Protektoratswesen . 241 7. Strohmann-Staaten ...... . 248 8. "Freundschaftsverträge" . . . . 252 9. Kapitulationen als Kolonialersatz 254 10. Kolonialmandate ....... . 259 II. Volk ohne Raum und Raum ohne Volk. 269 12. Vor dem Ende des kolonialen Zeitalters? 285 13. Wie kann das koloniale Zeitalter verlängert werden? 298 VIII. In terna tionalisierungsbestrebungen 302 1. Internationalisierte Landstriche. . . . 302 2. Internationalisierung der Meere. . . . . 304 3. Internationalisierung großer Seekanäle. . 309 4. Internationalisierung von Binnenwasserstraßen. 312 5. Die Enteuropäisierung (Gegenkolonisation) der außereuropäischen Welt 314 6. Kontinentalbewußtsein und Pan-Europa. . . . . . . . . . 317 7. Internationale Verflechtungen im modernen Wirtschaftsleben. 322 8. Vor wirtschaftlichen Monroedoktrinen? - Schluß 327 Verzeichnis der Personennamen . . . . . . . . Verzeichnis der geographisch-politischen Namen. 331 Kartenverzeichnis. Seite Fig. 1. Die Ostwanderung des alten polnischen Staates . . . . . . . . . 15 2-5. Die vier ältesten Staaten. (Ägypten, Babylonien, Indien, China) 18 6. Das karthagische Reich zur Zeit der höchsten Blüte . . . . . . . 30 7. Roms verkehrsgeographische Lage. . . . . . . . . . . . . . . . 36 8-13. Die Anpassung der Staatenbildung an das Erdniveau. (Becken staat, Horststaat, Sattelstaat, Abdachungsstaat, Inselstaat, Halb- inselstaat) . . . . . . . . . . . 58/59 14. Der Straßenstaat des Inkareiches . . . . . . . . . . . . . 70 15. Rußlands Meeresküsten vor 1914 . . . . . . . . . . . . . 81 16. Finnlands Meereslage und der finnische Korridor zur Petschenga-Bucht 89 17. Die Zweimeeres-Grenze aller drei Teilstaaten des Karolingerreiches . 90 18. Die Dreimeeres-Lage des Bismarckschen Dreibundes . . . . . . . 91 19. Das Wachstum der Vereinigten Staaten von Amerika in den ersten 75 Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 20. Das Wachstum des römischen Reiches. . . . . 103 21. Werden und Vergehen des türkischen Staates in Europa 106 22. Der Verlauf der chinesischen Mauer. . . . . . II I 23-26. Die wichtigsten Grenzwälle der europäischen Geschichte. (Limes, Piktenwall, Trajanswall, Danewerk) . . . . . . . . . . II2 27. Das Fehlen einer guten Naturgrenze zwischen deutschem und fran- zösischem Volkstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. II5 28. Beispiel einer ungewöhnlich guten, binnenländischen Naturgrenze. 121 29. Die Demarkationslinien des Vertrages von Saragossa (1529) 124 30. Neuguineas Auft eilung unter 3 europäische Staaten. . 126 " 31. Die 490-Grenze zwischen den Ver. Staaten und Kanada. . 126 32. Die bisher dauerhaftesten mathematischen Grenzen. . . . 127 33. Das Völkergemisch im alten Habsburger Reich und auf dem Balkan 130 " 34. Die Umrahmung des tschechichen Volkstums durch das deutsche 132 35. Der holländische Scheide-Riegel. . . . . . . . . . . . . . . . . 139 36. Die kreisähnliche Gestalt des Vorkriegs-Ungarn. . . . . . . . . . 142 " 37. Der preußische Staat um 1750 als Musterbeispiel einer unzweck- mäßigen Gestalt. . . . . . . . . . . . . . . 142 38. Das neue Österreich und die Tschechoslowakei als Beispiele eines strategisch schlechten Grenzverlaufs . . . . . . . . . . • . . . . 143 39. Das Ringen zwischen ethnologischer, wirtschaftlicher und strategischer Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 " 40. Französische Wachstumsspitzen auf deutschem Boden im 16. und 17. Jahrhundert ........................ 152 " 41. Die Bevölkerung Deutschlands in ihrer Verteilung auf Stadt und Land 157 42. Beispiel zweckmäßiger Grenzen, (wenig Land-und viel Meeres-Grenze) 172 " 43. Bevölkerungszunahme Deutschlands und Frankreichs 1870-1910 .. 176 " 44. Die normannische Völkerwoge des 9. bis 12. Jahrhunderts ..... 178 45. Herkunftsländer der Einwanderer in die Ver. Staaten von Nordamerika 1819-1925 . . . . . . . • . . . . . . . . • . . . . • . . . . 185 " 46. Die abnehmende Sterblichkeit und Geburtenhäufigkeit in Deutschland 188 47. Die Tragfähigkeit des Lebensraums der Erde ......•.... 191 VIII Kartenverzeichnis Seite Fig.48. Intensivierung der deutschen Landwirtschaft im 19. Jahrhundert .. 193 " 49. Die Bevölkerungszunahme der Erdteile 1913-1925. . . . . 194 " 50. Die Ägäis als Mare nostro im byzantinischen Reich des 12. J ahr- hunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 " SI. Die Ostsee als schwedisches Mare nostro im 17. Jahrhundert. 207 " 52. Der Indische Ozean als britisches Mare nostro. • . • . . . 208 " 53. Der Nordostzipfel Afghanistans als Typus des Staaten-Puffers. 2II " 54. Der Umfang der alt-griechischen Kolonisation. . . . . . .. 216 " 55. Ein Strohmannsstaat des Zeitraums 1841-1860 . . . . . .. 250 " 56. Die "Anknabberung" Chinas vom Meere her am Schluß des 19. Jahr- hunderts . . . . . . . . . • . . . . . . 254 57. Der Beginn der Auft eilung Chinas um 1900 256 " 58. Stadtplan von Schanghai. . . . . 257 " 59. Die Verteilung des Kolonialbesitzes . . . . 266 60. J apans Volksdichte . . . . . . . . . . . 276 61. Deutschlands Bevölkerungszunahme in den letzten 100 Jahren. 280 62. Die Verwirklichung von Wilsons Punkt 5: "Gerechte Regelung aller kolonialen Ansprüche". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 " 63. Die Beschränkung des chinesischen Siedlungsraums auf eigenem Boden 285 " 64. Das internationalisierte Landgebiet um Tanger. . . . . . . . . . 303 Einleitung. Die Vorgeschichte der Geopolitik. Die Geopolitik, die Wissenschaft vom Staat als Lebewesen, ist einer der jüngsten Zweige am Baume der menschlichen Erkenntnis. Der Ast, aus dem er hervorgesproßt ist, die Geographie, ist als streng betriebene Wissenschaft selbst bekanntlich noch nicht alt und wird sogar noch jetzt manchmal, bald von der Geologie, bald von der Geschichte, als Unterabteilung in An spruch genommen. Neben der eigentlich physikalischen Geographie, die uns in diesem Zusammenhang zunächst nicht zu beschäftigen braucht, hat es es von jeher bekanntlich eine politische Geographie gegeben. Daß diese zur Geopolitik in engen Beziehungen steht, ist selbstverständlich; es ist aber durchaus verkehrt, beide als identisch anzusehen, wie es wohl hier und da geschieht. Die politische Geographie betrachtete ehedem die Staaten innerhalb ihrer Grenzen zu einem beliebigen Zeitabschnitt der Gegenwart oder der Vergangenheit, aber ohne jemals nach dem Warum dieser Staats grenzen zu fragen. Dieses Warum zu beantworten, ist nach der gewöhn lichen Auffassung Aufgabe der Geschichte, allenfalls auch der Politik, aber nicht der Erdkunde. Daß in Wahrheit rein geographische und dazu geolo gische, meteorologische usw. Faktoren in sehr starkem Umfang ebenfalls Einfluß auf die Tatsachen der politischen Länderkunde und vor allem auf die Grenzziehungen der Staaten ausüben, ist erst seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts immer klarer erkannt worden. Man kann auch sagen, daß von unserer Geographie bis vor kurzem meist die spezielle politische Geographie gepflegt wurde, nicht die allge meine, die den großen Grundtatsachen und Gesetzen in der Flucht der Erscheinungen nachspürt. Diese Lücke auszufüllen, ist eine wesent liche Aufgabe der Geopolitik, die auch bemüht ist, die objektiven Tat sachen der politischen Länderkunde durch psychologische Erkenntnis zu vertiefen und durch eine politische Völkerkunde zu ergänzen. Die politische Geographie, von Rat z e I 1897 in ein System gebracht, nach dem Kriege von Supan, Vogel, Dix, Sieger und vor allem Ma ull großzügig ausgebaut, studiert neben dem Land selbst auch das Volk und die in ihm wirkenden seelischen Kräfte - nicht so sehr im Sinne einer physiologischen Stammeskunde oder der innenpolitischen Verhältnisse, als im Hinblick auf seine Charaktereigenschaften und die außenpolitischen Tendenzen. Im Grunde genommen, sind Ansätze zur geopolitischen Betrachtungs weise schon recht frühzeitig in der Geschichte der Menschheit zu ver- Hennlg, Geopolitik I