Judith Butler Gefährdetes Leben Politische Essays Aus dem Englischen von Karin Wördemann Suhrkamp Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Precarious Life. The Politics of Mourning and Violence bei Verso, London 2004. ©Judith Butler 2004 edition suhrkamp 2393 Erste Auflage 2005 © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005 Deutsche Erstausgabe Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia Publishing, Lahnau Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany ISBN 3-518-12393-9 i 2 } 4 5 6 - io 09 08 07 06 oj Inhalt Vorwort 7 Erklärung und Entlastung oder: Was wir hören können 18 2 Gewalt, Trauer, Politik 36 3 Unbegrenzte Haft 69 Der Antisemitismus-Vorwurf. Juden, Israel und die Risiken öffentlicher Kritik 121 5 Gefährdetes Leben 154 Danksagungen 179 , Für Isaac der sich das anders vorstellt Vorwort Die hier versammelten fünf Aufsätze wurden alle nach dem 11. September geschrieben und reagieren auf die Bedingungen ge steigerter Verwundbarkeit und Aggression, die mit diesen Ereig nissen einhergingen. Im Herbst 2001 hatte ich den Eindruck, daß die Vereinigten Staaten eine Gelegenheit verpaßten, sich selbst als Teil der Weltgesellschaft zu definieren, und statt dessen ihren nationalistischen Diskurs verstärkten, die Mechanismen der Überwachung ausbauten, Grundrechte aufhoben und Formen der ausdrücklichen und stillschweigenden Zensur entwickelten. Bekannte Intellektuelle begannen aufgrund der Ereignisse, in ih rem öffentlichen Eintreten für die Prinzipien der Gerechtigkeit zu schwanken, und Journalisten fühlten sich veranlaßt, die ehr würdige Tradition des investigativen Journalismus aufzugeben. Daß die Grenzen der US A durchbrochen worden waren, daß eine schwer erträgliche Verwundbarkeit zutage trat, daß entsetzlich viele Menschen ihr Leben verloren, war und ist Grund zur Furcht und zur Trauer; doch ist all das auch Anregung zum geduldigen politischen Nachdenken. Die Ereignisse haben zumindest impli zit die Frage aufgeworfen, welche Form die politische Reflexion und Überlegung annehmen müßten, wenn wir Unverwundbar keit und Aggression zu den beiden Ausgangspunkten unseres politischen Lebens machen. Daß wir verwundbar sind, daß andere verletzbar sind, daß wir dem Tod unterworfen sind, gerade wie es der Willkür eines ande ren entspricht, sind alles Gründe für Furcht und Trauer. Weniger selbstverständlich ist allerdings, ob die Erfahrungen von Ver wundbarkeit und Verlust geradewegs zu militärischer Gewalt und Vergeltung führen müssen. Es gibt andere Auswege. Wenn wir daran interessiert sind, die Gewaltspirale anzuhalten, um we niger gewalttätige Konsequenzen zu bewirken, ist es zweifellos wichtig, zu fragen, was politisch gesehen aus der Trauer anderes entstehen könnte als der Ruf nach Krieg. Die Verletzung gewährt zunächst die Einsicht, daß es da drau ßen andere gibt, von denen mein Leben abhängt, Menschen, die ich nicht kenne und vielleicht niemals kennen werde. Diese grundlegende Abhängigkeit von namenlosen anderen ist keine 7 Bedingung, die ich willentlich abschaffen kann. Keinerlei Sicher heitsmaßnahme wird dieser Abhängigkeit ein Ende machen, kein kriegerischer Akt der Souveränität wird diese Tatsache aus der Welt schaffen. Was das konkret bedeutet, wird auf der ganzen Erde verschieden sein. Es gibt Art und Weisen, wie die Verletz barkeit verteilt wird, ungleichmäßige Formen der Verteilung, die manche Bevölkerungen der willkürlichen Gewalt mehr aussetzen als andere. Nach dieser Ordnung der Dinge wäre es nicht mög lich, zu behaupten, die USA hätten größere Sicherheitsprobleme als manche der umkämpfteren und verwundbareren Nationen und Völker der Welt. Verletzt zu werden bedeutet, daß man die Chance hat, über die Verletzung nachzudenken, sich über die Mechanismen ihrer Verteilung klarzuwerden, herauszufinden, wer sonst noch unter durchlässigen Grenzen, unerwarteter Ge walt, Enteignung und Angst leidet und welche Formen dies annimmt. Sollte die nationale Souveränität herausgefordert sein, dann bedeutet das nicht, daß sie um jeden Preis gefestigt werden muß, falls das zur Aufhebung bürgerlicher Freiheiten und Unterdrückung abweichender politischer Meinungen führt. Auch wenn diese Erschütterung des Privilegs der Ersten Welt nur vorübergehend sein sollte, kann sie die Chance eröffnen, sich eine Welt vorzustellen, in der solche Gewalt minimiert wer den könnte, in der eine unausweichliche wechselseitige Abhän gigkeit als Basis für die politische Weltgesellschaft anerkannt werden würde. Ich gestehe, daß ich nicht weiß, wie diese wech selseitige Abhängigkeit theoretisch beschreibbar ist. Doch so wohl unsere politische als auch unsere ethische Verantwortung wurzeln, wie ich meine, in der Erkenntnis, daß radikale Formen der Selbstgenügsamkeit und ungezügelte Souveränität per defini- tionem durch die umfassenderen globalen Prozesse eingeholt werden, in die sie einbezogen sind, daß es letzte Sicherheit nicht geben kann und daß letzte Sicherheit kein höchster Wert ist oder sein kann. Diese Essays machen den Anfang, nähere Vorstellungen dazu zu entwickeln, wenngleich hier keine großartigen utopischen Schluß folgerungen zu finden sind. Der erste Aufsatz beginnt mit dem Aufkommen der Zensur und mit dem Antiintellektualismus, der im Herbst 2001 um sich griff, als jeder, der die »Gründe« für den Angriff auf die Vereinigten Staaten verstehen wollte, als jemand betrachtet wurde, der diejenigen »entlasten« wollte, die diesen Angriff durchgeführt hatten. Leitartikel in der New York Times kritisierten »excuseniks«, die Erfinder von Entschuldigungen, worin die Bezeichnung »peaceniks« anklingt - worunter naive und nostalgische politische Akteure zu verstehen sind, die in den Grundhaltungen der 6oerJahre verwurzelt sind-, und sie kritisier ten zudem »refuseniks«, Verweigerer - diejenigen nämlich, die es ablehnten, sich mit den sowjetartigen Formen der Zensur und Aufsicht einverstanden zu erklären und infolgedessen oft ihren Arbeitsplatz verloren. Obwohl der Ausdruck gezielt diejenigen herabsetzen sollte, die vor dem Krieg warnten, so erzeugte er doch ungewollt die Möglichkeit, daß sich Kriegsgegner mit mutigen Menschenrechtsaktivisten identifizierten. Der Versuch der Her absetzung zeigte die Schwierigkeit, eine schlüssige negative Sicht derer aufrechtzuerhalten, die sich um ein historisches und politi sches Verständnis der Ereignisse vom n.September bemühten, geschweige denn derer, die sich gegen den Afghanistan-Krieg als eine legitime Reaktion aussprachen. Meiner Ansicht nach ist es kein verrückter Einfall des mora lischen Relativismus, wenn man zu verstehen versucht, was zu den Anschlägen auf die Vereinigten Staaten geführt haben könnte. Außerdem kann man - und sollte man - die Anschläge aus ethi schen Gründen verabscheuen (und diese Gründe aufzählen), die Trauer für die Opfer in vollem Maße empfinden, gleichwohl aber dafür eintreten, daß weder moralische Empörung noch öffent liche Trauer zum Anlaß werden, den kritischen Diskurs und die öffentliche Debatte um die Bedeutung dieser geschichtlichen Er eignisse zu ersticken. Vielleicht möchte man doch wissen, was diese Ereignisse herbeigeführt hat, möchte wissen, wie man auf diese Bedingungen am besten einwirken kann, so daß die Saat für weitere Ereignisse dieser Art nicht gesät wird, möchte wissen, wie man Ansatzpunkte für eine Intervention finden kann, wie man Strategien, die in Zukunft nicht noch mehr Gewalt anziehen wer den, durchdacht planen kann. Man kann sogar diese Abscheu, Trauer, Angst und Furcht empfinden und all diese emotionalen Gestimmtheiten in ein Nachdenken darüber münden lassen, auf welche Weise denn andere willkürliche Gewalt durch die USA er litten haben, aber auch darauf hinarbeiten, eine andere öffentliche Kultur und eine andere öffentliche Politik zu entwickeln, in der das Erleiden unerwarteter Gewalt und der Verlust an Menschen 9 leben und die in Aggression bestehende Gegenreaktion als Norm des politischen Lebens nicht akzeptiert sind. Der zweite Text, »Gewalt, Trauer, Politik«, verwendet ein psy choanalytisches Verständnis des Verlusts, um zu klären, warum Aggression manchmal so schnell auf den Verlust folgt. Der Auf satz geht dem Problem einer primären Verletzbarkeit durch an dere nach, einer Verletzbarkeit, deren Abschaffung wir nicht wol len können, ohne die Menschlichkeit einzubüßen. Der Aufsatz will auch deutlich machen, daß die derzeitigen Formen nationaler Souveränität Versuche darstellen, eine Manipulierbarkeit und Verwundbarkeit zu überwinden, die unabänderliche Dimensio nen der menschlichen Abhängigkeit und Sozialität sind. Ich über lege in diesem Kapitel auch, wie bestimmte Formen der Trauer nationale Anerkennung und Überhöhung erhalten, wohingegen andere Verluste zu etwas Undenkbarem und Trauerunwürdigem werden. Mein Argument lautet, daß eine nationale Melancholie, verstanden als eine nicht zugelassene Trauer, auf die Auslöschung der Namen, Bilder und Erzählungen von denjenigen folgt, die von den USA getötet und aus der öffentlichen Darstellung getilgt wurden. Im Gegensatz dazu wird den eigenen Verlusten der Ver einigten Staaten in öffentlichem Totengedenken gehuldigt, in Ge denkfeiern, die ebenso viele Akte der Nationenbildung darstel len. Einige Menschenleben sind betrauernswert und andere sind es nicht; die ungleichmäßige Verteilung von Betrauerungswür digkeit, die darüber entscheidet, welche Art von Subjekt zu be trauern ist und betrauert werden muß und welche Art nicht be trauert werden darf, dient der Erzeugung und Erhaltung bestimmter ausschließender Vorstellungen, die festlegen, wer der Norm entsprechend menschlich ist: Was zählt als ein lebenswer tes Leben und als ein betrauernswerter Tod? Das Kapitel »Unbegrenzte Haft« überdenkt die politischen Folgen solcher normativen Vorstellungen vom Menschlichen, die durch einen Prozeß der Ausschließung eine Fülle »nicht lebens werter Leben« erzeugen, deren rechtlicher und politischer Status aufgehoben ist. Die in Guantanamo Bay auf unbestimmte Zeit in haftierten Gefangenen werden nicht als »Subjekte« betrachtet, die dem Schutz des Völkerrechts unterliegen, sie haben keinen An spruch auf reguläre Gerichte, auf Anwälte, auf ein ordentliches Gerichtsverfahren. Die Militärtribunale, die bis zum heutigen Tag noch nicht tätig geworden sind, stellen einen Bruch des Verfas- IO sungsrechts dar, das es zum alleinigen Vorrecht des Präsidenten macht, endgültige Urteile über Tod und Leben zu fällen. Die Ent scheidung, einige, wenn nicht gar alle der derzeit 680 Insassen in Guantanamo in Haft zu halten, ist »Verwaltungsbeamten« über lassen, die auf unklaren Grundlagen darüber entscheiden werden, ob diese Individuen eine Gefahr für die Sicherheit der USA dar stellen. Solche Beamte, die an keine juristischen Richtlinien ge bunden sind, mit Ausnahme der Regeln, die für diesen Fall erfun den worden sind, häufen souveräne Macht bei sich an. Während Foucault der Ansicht war, daß Souveränität und Gouvernemen- talität durchaus koexistieren können, muß die besondere Form dieser Koexistenz in dem aktuellen Kriegsgefängnis erst noch ge nauer erfaßt werden. Die Gouvernementalität bezeichnet ein Mo dell zur Konzeptualisierung von Macht in ihren diffusen und multivalenten Operationen, die sich auf Verwaltung und Kon trolle von Bevölkerungen konzentriert und über staatliche und nichtstaatliche Institutionen und Diskurse wirksam wird. In dem derzeitigen Kriegsgefängnis haben Funktionäre der Gouverne mentalität souveräne Macht inne - hier verstanden als eine gesetz lose und nicht rechenschaftspflichtige Machtausübung sobald die Gesetzesherrschaft praktisch aufgehoben ist und militärische Codes an ihre Stelle getreten sind. Wiederum wird eine einge büßte oder verletzte Souveränität durch Regeln wiederbelebt, die Entscheidungen über Leben und Tod an die Exekutive oder an Beamte ohne jeden gewählten Status und frei von jeder Rücksicht auf Verfassungszwänge vergeben. Diese Gefangenen werden nicht als »Gefangene« angesehen und stehen nicht unter dem Schutz des internationalen Rechts. Obwohl die USA behaupten, daß ihre Internierungsmethoden mit der Genfer Konvention übereinstimmen, betrachten sie sich als nicht an jene Vereinbarungen gebunden und räumen den In haftierten keines der juristischen Rechte ein, die dieses Abkom men vorsieht. Die in Guantanamo gefangengehaltenen Menschen gelten daher nicht als menschlich; sie entsprechen nicht den Sub jekten, die das Völkerrecht schützt. So sind sie weder in irgendei nem rechtlichen noch normativen Sinne ein Subjekt. Die von der »unbegrenzten Haft« bewirkte Entmenschlichung bedient sich eines ethnischen Rahmens, der Vorstellungen darüber enthält, wer als menschlich zu gelten hat und wer nicht. Darüber hinaus erzeugt die Politik der »unbegrenzten Haft« eine Sphäre der 11 Internierung und Bestrafung, der keinerlei Gesetze Beschränkun gen auferlegen bis auf jene Gesetze, die das Außenministerium erfindet. Der Staat selbst erlangt dadurch eine gewisse »unbe grenzte« Macht zur Aufhebung des Rechts und zur Erfindung des Rechts, wobei an diesem Punkt die Gewaltenteilung unbe stimmt lange aufgehoben wird. Der Patriot Act stellt einen weite ren Versuch dar, die bürgerlichen Freiheiten im Namen der Si cherheit außer Kraft zu setzen, etwas, das ich in diesem Beitrag nicht weiter erörtern werde, womit ich mich aber in einem zu künftigen Aufsatz beschäftigen möchte. In den Fassungen i und 2 des Patriot Act ist es die öffentliche intellektuelle Kultur, die ins Visier der Überwachung und Steuerung genommen wird, indem schon seit langem bestehende Ansprüche auf geistige Freiheit und auf Versammlungsfreiheit aufgehoben werden, die für die Vor stellungen eines demokratischen politischen Lebens eine bedeu tende Rolle gespielt haben. »Der Antisemitismus-Vorwurf: Die Juden, Israel und die Risi ken öffentlicher Kritik« erörtert einen Versuch, die öffentliche Kritik und intellektuelle Debatte zu unterdrücken, wenn sie mit der Kritik an der staatlichen und militärischen Politik Israels in Zusammenhang steht. Die Bemerkung des Präsidenten der Har vard Universität, Lawrence Summers, Israel zu kritisieren be deute, sich am »effektiven« Antisemitismus zu beteiligen, kommt kritisch auf den Prüfstand, weil sie es unterläßt, zwischen den Juden und Israel zu unterscheiden, und weil es wichtig ist, die fortschrittlichen jüdischen Bestrebungen (in Israel und der Dia spora), dem derzeitigen israelischen Staat Widerstand entgegen zusetzen, öffentlich anzuerkennen. Ich gehe auf die folgenreichen Implikationen seiner Behauptung ein - die Gefühle ausdrückt, die viele Menschen und Organisationen teilen weil diese Behaup tung bestimmte Arten der kritischen Rede zensiert, indem sie diejenigen, die sich kritisch äußern, mit antisemitischen Zielen zusammenbringt. In Anbetracht der Tatsache, daß jegliche Iden tifikation mit dem Antisemitismus abscheulich ist - und erst recht für fortschrittliche Juden, die ihre Kritik als Juden vortragen -, wird klar, daß sich diejenigen, die Einwände gegen die israelische Politik oder gar gegen die Lehre und Praxis des Zionismus haben, in einer Situation befinden, in der sie entweder ihre kritische Rede einstellen oder dem schwer erträglichen Stigma des Antisemitis mus die Stirn bieten müssen, indem sie ihre Ansichten öffentlich