111000 Jeanette Schulz Gedachtnistheorien und Mnemotechniken Eine kiinstlerisch-wissenschaftlithe Betrachtung Springer-Verlag Wien New York Mag. ArtJeanette Schulz BesanstraBe 4 D-28779 Bremen Das Werk ist urheberrechtlich geschutzt. Die dadurch begrundeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1994 Springer-Verlag/Wien Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, WarenbezeiChnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Satz: Reproduktionsfertige Vorlage der Autorin Gedruckt auf saurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF ISBN-13: 978-3-211-82638-6 e-ISBN-13: 978-3-7091-9387-7 001: 10 .1 007/978-3-7091-9387-7 Springer-Verlag Wien New York Geleitwort Zeus zeugte mit Mnemosyne die neun Musen. In die heutige, nuchterne Denkweise ubersetzt: Die geistige Schopferkraft und das Gedachtnis sind unverzichtbare Vor bedingungen fur das gesamte Wissen und die Kultur der Welt. Diese grundlegende Wahrheit wird so lange gultig bleiben, als es Menschen gibt. Wahrend die Antike die groBeBedeutung dieser beiden Faktoren fur die Existenz und Fortentwicklung des Menschen klar erkannte und be ide pflegte, haben die Positionen Zeus' und Mnemosynes im Lauf der Geschichte in ihrer Achtung durch den Menschen weit gehende Veranderungen erfahren. Zwar wurde die Bedeutung der geistigen Schop ferkraft bis auf einige Schwankungen in unserem Jahrhundert hoch gehalten, die Wichtigkeit des Gedachtnisses und dessen Schulung wurde aber nur wenig beachtet. Aus diesem Grund ist auch die Mnemonik, die Wissenschaft und Kunst der Mnemo techniken, seit dem Mittelalter immer mehr in Vergessenheit geraten. Dabei hatte sie die Menschheit nie notwendiger gebraucht als in unserem Jahrhundert, da der Mensch, urn weiterzubestehen, eine ungeheure Fulle von Kenntnissen zu erinnern und zu bewaltigen hat. Mnemonik war ein Teil der Rhetorik, die ebenfalls in Verges senheit, wenn nicht sogar - zu unrecht - in MiBkredit geraten ist; und es ist kein Zufall, wenn Walter Jens, der gegenwartig bedeutendste Proponent dieser fast ver gessenen Kunst, immer wieder auf die Wichtigkeit der Mnemonik hinweist. Das vorliegende Buell verdankt seine Existenz einem Zufall: Jeanette Schulz, Absolventin der Hamburger Hochschule fur Bildende Kunste, studierte auch Neurowissenschaften. Bedrangt durch die Fulle von Bildern, die in ihr entstanden, und durch ihre Befassung mit Hirnforschung uberzeugt von der Notwendigkeit rationalen Denkens, stieB sie auf die Geschichte der Vorstellungen yom Denken und damit auch aufjene der Mnemonik und gelangte so dazu, ihre eigene Ordnung der sich aufdrangenden bildhaften Assoziationen zu entwickeln. Daraus entstand dieses Buch, das dank dem Springer-Verlag Wien diese Ideen einem groBeren Kreis nahe bringen konnte. Das Buch ist keineswegs als Lehrbuch gedacht; es bietet eine kurze, amusant bebilderte Geschichte der Ansichten uber das Denken der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende und aufjeder Seite die von der Verfasserin entworfenen bildhaften Vorstellung~n, die in ihr aufkamen, urn den dazugehorigen Text im Ge dachtnis zu behalten. Diese phantasievollen, haufig bizarren, humorvollen Gebilde zeugen nicht nur von uberschaumender Phantasie und Kreativitat, sondern unter streichen auch, wie wichtig es ist, fur Gedachtnisstutzen moglichst irreale Gebilde heranzuziehen. Was diese Bilder auf keinen Fall sein wollen: eine Lernhilfe zur Erlangung eines besseren Gedachtnisses. H. Petsche Einleitung "Die Methode bestimmt, was wir behalten konnen:' "Gedachtnistheorien und Mnemotechniken" - eine Einfuhrung - ist ein ProJekt aus dem geistigen Raum meines kunstlertsch wissenschaftlichen Gesamtkonzeptes, den ich als "Offenes Labor" bezeichne. In unterschiedlichen Arbeits- und Untersuchungs feldern uberprufe und beuge ich die Methoden, Handgriffe und Werkz8uge der Wissenschaft.lm Mittelpunkt meiner Betrachtungen stehen Struktur, Ablauf und Merkmale von Entwicklungsprozessen, sowohl auf Ebene der Ontogenese als auch der kenntnisgewin nenden Prozesse. Hier operiere ich an der Schnittstelle von Begrifflich-Fa~barem und Absurdem. Auf diesen Seiten subsumieren sich meine bisherigen Untersuchungen der Konzepte von Gedachtnistheorien und Mnemotechniken aus den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden. Die Arbeit ist in einen theoretischen (Blatt 1-27), einen praktischen (Blatt A-G) und einen experimentellen Teil (Figur 0-26, ..Ei bis Armbanduhr") gegliedert. Die Darstellungen auf den Blattern 1-27 geben einen Einblick in die Geschichte der Gedachtnistheorien psychlscherwie physischer Natur und in die parallel dazu entwickelten Mnemotechniken. Auf die im theoretischen Teil veranschaulichten Mnemotechniken beziehen sich im Anhang die Blatter A-G. Es sind Beispiele aus meinen fruheren Arbeitsfeldern, in denen ich die Struktur und Organisation des Gedachtnisses sowie der Mnemotechniken kunstle risch-wissenschaftlich untersuchte und ihre Anwendbarkeit in der Gegenwart uberprufte. In den Figuren..Ei bisArmbanduhr" erprobe ich dieWirksamkeit einervon mirfavorisierten Mnemotechnik, der "Hilfsbild-Methode". Hier werden Zahlen in Bilder verwandelt, die der Reihe nach mit den zu merkenden Fakten zu Gedachtnisbildern "umassoziiert" werden, welche die schrittweise Erinnerung an die ursprunglichen Informationen erheblich erleichtern. In diesem Fall ist es der theoretische Teil der Einfuhrung, den ich mit dieser Methode transformiere. So steht den Blattern 1-27 jeweils ein Gedachtnisideo gramm gegenuber, das meine privaten Assoziationsstrategien veranschaulicht. Ein Beispiel: Das erste Hilfsbild, ein Ei (siehe Blatt F), ist das Spielfeld, auf dem die Umcodierung der Fakten der gegenuberliegenden Seite (Blatt 1) stattfindet. Auf diesem Feld werden jene Fakten - auch wieder beim..Ei" beginnend - Satz fur Satz in Gedachtniszeichen umgewandelt und auf dem ..Ei" angeordnet. Fur die Leser ist der Erinnerungsweg durch die Zeichenwelten des Ideogramms mit Buchstaben markiert. (Beispielsweise werden die neun Musen von den Zeichen f 1-9 reprasentiert.) Die Assoziation ist eine "Gedankenfigur", die in allen Mnemotechniken wirksam ist. Je absurder das Ergebnis des Assoziations vorganges, desto energiereicher ist der Affekt, der im Gedachtnisbild verschJusselt ist. Es ist jene Energie, die dann bei Bedarf den Erinnerungsvorgang einleitet und tragt. Das Memorieren mit Hilfe von Bildassoziationen ist insofern sinnvoll, als ein gro~er Teil der Gro~hirnrinde von den Verarbeitungszentren des visuellen Systems eingenommen wird. Neuere biochemische Untersuchungen lassen darauf schlie~en, da~ neuronale Veranderungen, die als Ort fur eine Gedachtnisspeicherung angesehen werden, in den letzten Stufen des Sehsystems zu finden sind. Die Kanalisierungs-und Transformationsstrategien der Mnemotechniken sind schlicht gewebt und schnell zu verstehen. Der geistige Aufwand besteht darin, die jeweilige Methode wie das Alphabet zu beherrschen. 1st eine Mnemotechnik erst einmal in Fleisch und Blut ubergegangen, sind die Tore zu den skurrilsten Gedankengangen und Szenen geoffnet. Das Abenteuer kann beginnen. 2 ~ \•f JII 0I II~ oj\ 1oI~1o..,/ ~ 0 c (O(. ... ~~ . ... <. , ~ ~ 3 IN ~ER GRIELHISCHEN MYTHOL06IE WAR DEM GEDACHfNIS EINE 60ITH£IT IUGEORDNET. SIE HIE~ MNEMOSYNE.VON IHR£~i NAMEN WIRD DER BE&RIFF >MNEMONIK ( AB6ELEITET. ER UMFAS5T DIE GESAMTH£IT ALLER MNEMOTE(HNIKEN. ZEUS WOHNTE NEUN TAGE UND NA(HTE BEl IHR UN~ ZEUGTE DIE NEUN MUSEN (DIE ('OlTlNNEN PER GESCHICffTf, DER TRAGODIE, DES EPOS,~ER KOMODIE,DER PANTOMIME,DES TANZES DER LYRIK,DER ASTRONOMIE UNf) DER HUSIKJ. NACH DEM GLAUBEN DER GRIECHEN WURDEN AUS DER VERE\NIGUN6 VON KRAFT (ZEUS) UND GEDACHTNIS (MNEHOSYNE) KREATIVIT'AT UND WISSEN GEBOREN. UM 750 V. (HR. WURDE DAS ALPHABET ENTWICKELTEN SICH ZWEI bEDACHTNIS ERFUNDEN. DIE KVLTURELLE USER ARTEN : DAS WORT -UND DAS SACH - LIEFERUN6 DER G-RIECHEN FAND GEM"[HTNIS. BEIDE ARBEITETfN MIT OBERWIE&END AUF ORALEM ~Eu DEM VISUHLfN VORSTELLUNfr5VER STAlf. MNEMOTE(HNIKEN WAREN MUG-EN. ERSTERES V£RWAHRTf DIE [IN FESTER BESTANDTEIL DER 'BILDER', DIE DURCH ETYMOLO RHETORIK. DICHTER, SANHR &ISUlE ZERG-UEOERUN& DER UNO VOLKSREDNER MA(HTEN WORTER &EWONNEN WURDEN. DIE JfNE KUNST POPUL~"R. DIE DIN&E DES SACHITEOACHTNISm FROHEN MNEMOTEtHNIKEN GA t.lURDEN VON STATUEN DOER BEN DEH HlJRSINN VORRAN&. BILDERN VON &lrTfERN UND MEN nXTE [,JURDEN UBER DEN (ABB.,1) SCHEN AUFBEWAHRT. DA~ EMOTIONEN RHYTHMUS UND DEM ECHO DER LERN-UND G-EMCHTNISPROlESSE BE WORTE MEMORIERT ( ENT5PREClIENO EINFLUSSEN, 1ST EINE ERKENNTNIS AUCH AUCH KONSTRUIERT). AUS OEM 'ECHO' SCHON AUS JENER ZEIT. AB8.:1 SIMON ID ES VON KEOS (S5"I,-'lSI,) WIRO AU5 DEM GRUNDE NUR DEN HALBEN KENNTLICHKEIT VERSTUMMELT, UNTER AlS ERFINDER DER GEDi\CHTNIS PREIS FOR DIE OICHTUN6 ZAHLEN. ~EM SCHlfJf. DA SIMONIDES MIT HIL KUNST ANGESEHEN. DER LEtlENDE ~IE ANDERE HALITE SOLLTE ER FE DER SITZORDNUN6 SEIN WERK NACH RESULTIERTE DIE KUNSf AUS SI(H VON DEN IWILLlN6S!J·OlfERN BE· MEMORIERTE, KONNTE ER DIE TOTEN DEN FOl6EN EINER KATASTROPHE. ZAHLEN LASSEN. NACH DIESEM VOR IDENTIFIZIEREN (Asu). IN SEINER ANlA~ WAR EIN 6EDICHT,DAS ER AL5 FALL BESTELLTE EIN DIENER SIMONI SCJlRIFT>ARS MEMORATIVA< £..lIES ER GAST ElNER TAFELRUNDE lU EHREN ~ES VOR DAS 6EBA"UDE. DORT WARTE1EN AUF DIE WICHTIGKEIT EINES PLAN DES 6AST&EBERS }S KOPAS < UND DEN lWEI JUNGE MANNER. KAUM ~ ER M~~16 GEORDNETEN INHAlTS HIN: ALS ZW/lllN6S6trlfERN >KASTOR UNO DRAU~EN, STOWE DAS &EMUDE EIN GEISTIGE BILDER ANGEORONET, DIE AN POLLUX < VORTRU6. SKOPAS WOLLTE UKb BEGRUB DIE 6i\STE, ZUR UN- REALE DIN6E 6EHEFTET WURDEN. ABU GEDi{CHTNISTHEORIEN UND MNEMOTECHNIKEN I <D~--------------------------------------------- 4 5 ERSTE SYSTEHATISCHE ANSHZE FOR DIE KORPERU(HE UND 6EISTIGE BASIS DES 6EDMHTN/SSES: ...... .- .. .... , PARHENIDES AU5 [LEA (5~O-~80) SAH DAS GEMCHTNIS ALS ' ~ EINE MIS(HUNG AUS HEI~ '011 ••••• I UND KALT -ODER HELl • • • • DUNKEL AN. EIN VOlL • • • KOMMENES GEDA'CHTNIS SOLLTE AUF EINER AUS . .. • If GEW06ENEN UND KON 'I11III ~ STANTEN VEKrEILUNG JENE~ FAKTOREN BASIEREN. DAS VEK- 6ESSEN BERUHTE AUF GEbEN TEILIGEN f AKTOREN. (ASS.: 3/1) ABB3 ABU ALKMAION VON KROTON NAHM KAME JENE HIS(HUNG lUR DAMALS AL5 fiNER ~ER ERSTEN RUHE, HArrE DAS 'WISSEN'® ZUR SEKTIONEN VOR. ER ERKA.NNT~ FOLGE. blE SEELE (SL) SAH ER DA~ SICH DAS 6EHIRN FUR IN DEN H'O'HLEN CH) DES bE DIE SEH -HOR-RIECHWAHR~"",) HIRNS, ALS PNEUMA, ENT - NEHMUNb VERANTWORTLICH HALTEN . DIESES PNEUMA ZEIGTE AUS DER MIKHUNfr SOlLIE AUS DEN HOliLEN DER SINNESWAHRNEHMUNbEN ZU DEN AUGEN HER-AUS SOLLTEN DAS GEMCHTNI5 STROMEN. (A66.:5) UND DIE VORSTELLUN6 RE SULTlEREN&. ABU I GED;{CHTNISTHEORIEN UND HNEHOTE(HNIKEN I G)~-------------------------------------------- 6
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